Nur nicht rausreden

Kultur

Dass es woanders anders ist, ist wohl bekannt. Dass es aber zunehmend auch „daheim“ anders wird, stellt uns oft vor eine große Prüfung: Wie wollen, sollen und können wir darauf reagieren? Wann ist Abgrenzung angesagt, wann Toleranz? Philipp Rüsch hat sich damit beschäftigt und kommt zu dem Schluss, dass Kultur keine Ausrede sein darf. Aber eben auch kein Stolperstein.

Sind wir nicht alle Toleranz-Profis? Gut, vielleicht nicht John Wick, der schießt auf dem Bildschirm meines Sitznachbarn im Flieger von Zürich nach Chicago gerade einfach alle nieder. Aber wir Normalbürger könnten ohne eine ordentliche Portion Toleranz nicht durchs Leben gehen. Mir ist zumindest noch nie eine Person begegnet, die in allen Bereichen genauso tickte wie ich. Das ist auch gar nicht möglich, da wir uns ständig verändern und entwickeln. Also müssen wir andere in ihrer Andersartigkeit stehen lassen. Köpfe einzuschlagen ist nämlich keine sinnvolle Lösung.

So viel Wissen

Das Verständnis von Toleranz hat sich in den letzten 20 bis 30 Jahren stark verändert. Wenn ich über Toleranz schreibe, meine ich dies: mein Gegenüber in seiner Verschiedenheit wahrzunehmen, anzuerkennen und stehen zu lassen. Für mich bedeutet Toleranz aber nicht, das Andere automatisch gutzuheißen oder sogar zu übernehmen. Ich habe den Eindruck, Letzteres hat sich in das Toleranzverständnis eingeschlichen und es damit grundsätzlich verändert. Ein praktisches Beispiel für mein Toleranzverständnis: Ich kann an einer multireligiösen indisch-türkischen Hochzeit teilnehmen, mich mitfreuen, mitfeiern und das Fest genießen, ohne dabei hinter allen Teilen der Zeremonie zu stehen, geschweige denn sie übernehmen zu müssen.

Ich möchte aber weniger auf die Frage eingehen, wo genau wir wie viel Toleranz leben sollen. Vielmehr zeige ich Bereiche auf, in denen wir Menschen die Welt verschieden wahrnehmen, was wiederum zum Teil zu gänzlich konträrem Verhalten führt. Dieses Wissen kann zu einer gesunden Toleranz beitragen. Es hilft zu wissen, was uns zu dem macht, wer wir sind. Jede Person wird geprägt von ihrer DNA, Familie, Freunden, der Schule und weiteren Ausbildung, von Medien und der eigenen Geschichte. Aber auch unser Geschlecht, die Generation, zu der wir gehören, und sogar die Geographie haben einen starken Einfluss auf unser Weltbild und unser Verhalten.

All meine Brillen

Ein vielschichtiges und prägendes Gebiet ist Kultur und interkulturelle Kommunikation. Seit Mitte des 20. Jahrhunderts wurden diese menschlichen Unterschiede eingehend erforscht. Die Professorin Erin Meyer zeigt in ihrem exzellenten Buch „The Culture Map“ acht Dimensionen auf, in denen sich Kulturen unterscheiden. Diese Unterschiede zu erkennen, hilft uns nicht nur im beruflichen Alltag, sondern überall dort, wo uns Menschen begegnen. Erin Meyer bringt den Wert von Kulturverständnis auf den Punkt: „Wenn wir in jeder Interaktion annehmen, dass Kultur keine Rolle spielt, dann ist unser Standard-Mechanismus, andere durch unsere eigene kulturelle Brille zu betrachten und entsprechend zu (ver-)urteilen.“

Einem weit gereisten Kulturexperten war die Wichtigkeit von kulturellen Unterschiedenen bereits vor 2.000 Jahren bewusst. Die Worte von Paulus aus dem 1. Korintherbrief können uns auch heute noch als Grundsatz dienen: „Den Juden bin ich einer von ihnen geworden, um sie für Christus zu gewinnen. Bei denen, die sich an das Gesetz halten,verhalte ich mich ebenso – obwohl ich nicht unter dem Gesetz stehe –, damit ich sie für Christus gewinne.“ (1. Korinther 9,20) Paulus hat sich angepasst, nicht nur sprachlich. Er konnte zwischen kulturellen Brillen wechseln. So wurden seine Worte verständlich. Dies ist ein Ausdruck von Feingefühl, Nächstenliebe und Demut. Ihm waren sein Gegenüber und die Message, die er vermitteln wollte, so wichtig, dass er sich die Mühe gemacht hat, die ihm Fremden zu verstehen.

„Paulus hat sich angepasst, nicht nur sprachlich. Er konnte zwischen kulturellen Brillen wechseln. So wurden seine Worte verständlich. Dies ist ein Ausdruck von Feingefühl, Nächstenliebe und Demut.“

Einfach erstmal anders

Gegenseitiges Verständnis ist ein Schlüssel, um über Kulturgrenzen hinweg zu kommunizieren. So ist auch die erste kulturelle Dimension aus „The Culture Map“ die Kommunikation. In unterschiedlichen Regionen der Welt wird mal mehr, mal weniger Kontext angenommen. In Japan, Korea oder Indonesien zum Beispiel wird viel zwischen den Zeilen gelesen. In den USA, den Niederlanden oder Deutschland wird hingegen mehr Wert auf schlichte und direkte Kommunikation gelegt. Japaner beherrschen die Kunst des „Luftlesens“. Die Atmosphäre, Mimik und Gestik spielen eine größere Rolle als die gesprochenen Worte. Highcontext-Kulturen haben eine lange gemeinsame Geschichte, in deren Verlauf sie diese Art der Kommunikation perfektionierten. Low-context-Länder wie die USA haben eine vergleichsweise kurze, aber kulturell diverse Geschichte, in der immer wieder der gemeinsame Nenner gefunden werden musste. Eine praktische Frage, die hilft, sich auf dieser Skala zu verorten, ist: Wie sieht gute Kommunikation in meiner Kultur aus? 

Unser Verständnis von guter Führung ist stark kulturell geprägt. In Skandinavien, Israel und den Niederlanden werden flache Hierarchien geschätzt. Das geht so weit, dass man in Meetings zum Teil nicht wahrnimmt, wer der Leiter ist. In Indien, China oder Nigeria ist das Gegenteil der Fall. Dort herrscht eine große Distanz zwischen Chef und Mitarbeitern, die Auswirkungen auf alle Bereiche des Zusammenarbeitens hat. Ich beschäftige mich viel mit Führungsthemen, und für mich war es eine wertvolle Erkenntnis, zu sehen, dass das christlich geprägte Prinzip der dienenden Leiterschaft nicht unbedingt mit flachen Hierarchien gelebt werden muss. Da wurde ich mir meiner kulturellen Prägung bewusst. Eine provokante, aber hilfreiche Frage zur Verortung der eigenen Position auf dieser Skala lautet: Wie gottähnlich ist dein Chef?

Eine verwandte Dimension ist die Frage, wie wir Kritik üben. Kulturen wie Russland, Frankreich und Israel geben gerne direktes negatives Feedback. Es wird ehrlich, direkt, vielleicht sogar völlig unbeschönigt mitgeteilt. Dies wäre in Ländern mit einer Kultur des indirekten negativen Feedbacks undenkbar.

In Indonesien, Ghana oder Japan wird Kritik, wenn überhaupt, sanft, diplomatisch und subtil geäußert. Um sich selbst einzuordnen, kann man sich fragen, ob man beim Kritisieren eher sogenannte Upgraders wie „total, absolut“ verwendet oder Downgraders wie „vielleicht, möglicherweise“.

Eine spannende kulturelle Dimension ist die Frage, wie im beruflichen Kontext Vertrauen aufgebaut wird. In Ländern wie den USA, Australien und Deutschland verläuft dies aufgabenbasiert. Man vertraut sich, wenn man sieht, dass eine Person eine Arbeit gut und zuverlässig erledigt. In Ländern wie Thailand, Saudi-Arabien oder Brasilien hingegen basiert das Vertrauen auf der persönlichen Beziehung. Diese wird über gemeinsame Zeit und persönlichen Austausch aufgebaut, und ohne diese ist eine vertrauensvolle Zusammenarbeit nicht möglich. Die Leitfrage für diese Dimension lautet: Ist Geschäftliches nur geschäftlich, oder ist Geschäftliches auch persönlich?

„Uns ist unser eigener kultureller Hintergrund so normal, dass Fremdes schnell irritiert und nervt.“

Das Beste von allen

Es braucht eine ordentliche Portion Arroganz, die eigene Kultur für das Maß aller Dinge zu halten. Und doch passiert dies ständig. Viele Kriege und Leid wurden dadurch ausgelöst. Stichwort: „Am deutschen Wesen soll die Welt genesen.“Ich glaube, es passiert schnell und unbewusst, dass wir uns über andere erheben. Uns ist unser eigener kultureller Hintergrund so normal, dass Fremdes schnell irritiert und nervt. Es braucht weniger Aufwand, Menschen aus einer anderen Kultur abzukanzeln, statt Neugier und Toleranz zu zeigen und Verständnis aufzubauen. Nur wenn wir uns diese Mühe machen, kann ein friedliches und fröhliches Miteinander entstehen. Und in Anbetracht dessen, dass 99 Prozent der Menschen auf diesem Planeten kulturell anders geprägt sind als wir, ist es hilfreich und gesund, einen offenen Blick über den Tellerrand zu werfen.

„Um im Sattel zu bleiben, brauchen wir viel Weisheit, Klugheit und Demut, mit denen wir immer wieder unsere eigenen und andere Kulturen kritisch hinterfragen.“

Kulturverständnis ist keine Ausrede, und es ist offensichtlich nicht der Fall, dass alle Kulturen nur Gutes hervorbringen. Es ist schwierig, nicht auf einer der Seiten des sprichwörtlichen Pferdes herunterzufallen: entweder alles oder nichts zu tolerieren. Um im Sattel zu bleiben, brauchen wir viel Weisheit, Klugheit und Demut, mit denen wir immer wieder unsere eigene und andere Kulturen kritisch hinterfragen. Auch die Bibel ist dabei kein neutraler Kompass. Gottes Wort wandert immer durch mindestens zwei kulturelle Filter: die Jahrtausende zurückliegende Kultur, in der es geschrieben wurde, und unsere eigene. Ein offener Austausch über unser Verständnis und unsere Perspektive, gerade in Bezug auf biblische Texte, baut Brücken statt Mauern. Dies erweitert unseren Horizont und lässt unsere Toleranz wachsen.

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