Kaum zu ertragen
Essay
Wie weit soll und muss man das Verhalten, auch das Fehlverhalten, eines anderen tolerieren? Wann sich wegducken und aushalten, wann still sein, wann aufbegehren und den Mund aufmachen? Dr. Simone Flad beschäftigt sich mit der Beziehung zwischen zwei Männern und meint, das eine geht manchmal sogar mit dem anderen prächtig zusammen. Mund aufmachen und aushalten.
Es geht um David. Nein, nicht um König David – noch nicht. Das war ja das Problem. Saul war noch König. Obwohl Gott ihm hatte sagen lassen, dass er schon einen Nachfolger bestimmt hatte, hing er mit ganzer Kraft an seiner Position. Saul wusste, oder ahnte mindestens, dass es David war, der sein Nachfolger werden sollte. Der junge Mann war sehr erfolgreich und beliebt beim Volk. Aber noch war er, Saul, König, und noch hatte er die Macht, den jungen Nebenbuhler zu beseitigen. Deshalb war er mit seinen Soldaten unterwegs, um David aufzustöbern und zu töten.
Dicht auf den Fersen
Und David? Gott hatte ihm vor einigen Jahren als ganz jungem Mann durch den Propheten Samuel sagen lassen, dass er König werden würde. Etwas später war er durch verschiedene Umstände an Sauls Hof gekommen, hatte Erfahrungen sammeln können und militärische Siege errungen. Er war sogar Sauls Schwiegersohn geworden. Er stand also kurz davor, sein Ziel zu erreichen. Nur dass Saul ihn inzwischen hasste und versuchte, ihn zu töten. David floh und versteckte sich mit seinen Männern in der Wüste von Juda. Er wurde verraten, und so war Saul ihm auf den Fersen. In dieser Situation kam es zu zwei erstaunlichen Begegnungen zwischen David und Saul (nachzulesen in 1. Samuel 24 und 26): Zweimal kam David Saul ganz nah, und Saul merkte es nicht einmal. Zweimal hatte David die Möglichkeit, Saul zuvorzukommen. Er hätte seinen Feind töten können. Aber beide Male rührte David Saul nicht an. Er verletzte ihn nicht einmal. Er verschonte ihn. Warum?
War das nicht die Gelegenheit? Er könnte mehrere Fliegen mit einer Klappe schlagen: seinen Feind loswerden und damit nicht mehr auf der Flucht sein müssen und auch noch gleich den versprochenen Posten einnehmen und König von Israel werden. Gott hatte Saul doch offensichtlich in seine Hand gegeben, oder etwa nicht? Er könnte nun den Plan Gottes ausführen und endlich König werden.
Warum sollte er das tun?
Aber das war nicht, was David dachte. Er hatte einen anderen Blick auf die Situation. „Ich will meine Hand nicht gegen den Gesalbten des Herrn erheben“, sagte er mehrmals (1. Samuel 24,11; 26,11). Saul war für David trotz allem der von Gott eingesetzte und gesalbte König. David akzeptierte das und war bereit, seine eigenen Interessen dem unterzuordnen. Warum sollte er das tun? Warum war er bereit, diese Situation weiter auszuhalten? Was trieb ihn zu dieser Entscheidung? Mangelnden Mut oder Unschlüssigkeit kann man David sicherlich nicht vorwerfen. Was war es dann? Wie kam er dazu, hier ganz bewusst nicht so zu handeln, wie man es erwarten würde? Letztlich waren es drei Grundlagen, auf denen David diese Entscheidung traf.
„Mangelnden Mut oder Unschlüssigkeit kann man David sicherlich nicht vorwerfen.“
Zum Leben erweckt
Jesus spricht in dem zu Beginn zitierten Vers von der Anbetung im Geist. Der Heilige Geist ist es, der uns befähigt, die Dinge der Welt um uns herum völlig neu wahrzunehmen und zu erleben. Die Musik, die Kunst, was auch immer unsere Art der Anbetung sein mag, wird erst durch ihn zum Leben erweckt. Ohne den Heiligen Geist gäbe es keine Kircheund ich wage zu behaupten, dass es auch sonst überhaupt nichts gäbe. Schon in Genesis lesen wir von dem Geist, der über den Wassern, dem Chaos schwebt, und er hat nicht aufgehört, das zu tun. Der Heilige Geist ist die eigentliche Kraft der Anbetung. Ohne den Geist bleibt alle noch so schöne Musik unvollkommen, sie bleibt im Diesseits verhaftet und kann nichts darüber hinaus bewirken. Durch den Geist bekommt sie eine Dimension des Himmels, eine neue Schönheit, und wir dürfen Inspiration, Heilung, Veränderung und Ewigkeit erleben.
Wir alle haben eine tiefe, in uns wohnende Sehnsucht danach, Gott zu begegnen, ob wir nun aus der Kirche kommen oder nicht. Ich habe schon oft sehen dürfen, dass gerade an Orten, an denen noch nie Anbetung stattgefunden hat, genau diese Dimension des Himmels für Menschen erlebbar wurde, die keine Ahnung von Gott hatten.
Jesus spricht aber auch von der Wahrheit. Und weil er selbst der Weg, die Wahrheit und das Leben ist, wird er auch immer das Zentrum unserer Anbetung sein. Ehre, wem Ehre gebührt. Das klingt so schlicht und vielleicht ein wenig überfromm, aber aus meiner Erfahrung ist es extrem wohltuend, die Richtung der Anbetung von Anfang an ganz klar festzulegen. Im Alten Testament lesen wir davon, dass sich die Leviten an der Ostseite des Altars aufstellten, wenn sie Musik machten. Sie stellten sich nicht ins Zentrum der Aufmerksamkeit, sondern blieben daneben stehen. Dieser Ort außerhalb des Zentrums der Aufmerksamkeit ist ein sehr guter Ort, um Musik zu machen. Dort kann man in aller Freiheit, ungeblendet vom Scheinwerferlicht, wunderbar kreativ sein. In unserer Welt der Unterhaltung jedoch suchen wir immer die Mitte der Bühne, den hellsten Spot. Und manchmal, wenn wir Gefahr laufen, Anbetung mit Unterhaltung zu verwechseln, ist es nicht mehr ganz klar, wem das Zentrum der Aufmerksamkeit eigentlich gehört. Aber es bleibt dabei: Es ist nicht klug, sich auf den Thron zu setzen, wenn man nicht der König ist.
„Es ist nicht klug, sich auf den Thron zu setzen, wenn man nicht der König ist.“
Eins, zwei, drei
Die erste wurde schon genannt: David hatte große Achtung vor Gottes Handeln. Gott hatte Saul zum König gemacht, und das war für David wichtiger als seine eigene Situation, seine Gefühle und Probleme. Gottes Plan sollte zur Durchführung kommen – egal, was für sein eigenes Leben gerade hilfreich oder praktisch aussah oder nicht. Das zeigt zum anderen ein hohes Maß an Vertrauen, das David in Gott hatte – in seinen guten Plan und auch in sein Timing. Er vertraute darauf, dass Gott sein Versprechen wahrmachen würde. David würde König werden – zu der Zeit, die Gott bestimmt hatte. Er wollte Gott auf keinen Fall vorgreifen, durch sein Handeln „zu früh“ selbst König werden und damit Gott ins Handwerk pfuschen. Und er hatte ein hohes Maß an Vertrauen in Gottes Gerechtigkeit. Es war nicht so, dass er die Angriffe Sauls nicht bedrohlich fand oder alles auf die leichte Schulter nahm. Oder Saul für sein Verhalten entschuldigte, so nach dem Motto: „Er kann ja nichts dafür.“ Nein, seine Zurückhaltung lag an seinem Vertrauen auf Gottes Gerechtigkeit. Er rechnete damit, dass Gott gerecht ist und Saul für seine Handlungen zur Rechenschaft ziehen würde (1. Sam 24,13.16; 26,10.23). Deshalb musste er sein Recht nicht selbst in die Hand nehmen. Er konnte es Gott überlassen.
Er duckt sich nicht weg
Diese Entscheidungen Davids stellen unser heutiges Denken auf den Kopf. Für uns geht es – Gott sei Dank – meist nicht um Leib und Leben. Vielleicht sind es aber falsche Anschuldigungen oder Gerüchte, die über uns verbreitet werden. Vielleicht werden wir vom Arbeitgeber oder der Nachbarin ungerecht behandelt. Vielleicht sehen wir uns richtiggehender Verleumdung ausgesetzt, die uns, unsere Familie oder unseren Dienst gefährdet. Wie gehen wir damit um? Kämpfen wir mit aller Macht gegen unsere Widersacher? Nehmen jede Gelegenheit wahr, es dem anderen heimzuzahlen? Oder wäre es eine Option, wie David zu handeln? Gott zu vertrauen, dass er die Situation in der Hand hat? Dass sein Timing, einzugreifen, unschlagbar ist? Dass er letztlich für Gerechtigkeit – und damit auch für mein Recht – sorgen wird? Dass ich ihm die Situation überlassen und deshalb abwarten kann?
Solch ein Verhalten könnte man als passiv oder duckmäuserisch ansehen. Aber David war in seiner Zurückhaltung sehr aktiv. Er sprach Saul auf sein falsches Verhalten an. Allerdings nicht von oben herab, sondern in demütiger Haltung eines Untergebenen. Er duckte sich nicht einfach weg. Er war auch darin aktiv, seinen Feind und dessen Angriffe Gott anzubefehlen – dem unbestechlichen Richter, der für Gerechtigkeit sorgen wird.
Alles, nur nicht passiv
David befindet sich mit seinem Handeln jedenfalls in guter Gesellschaft: Jesus hat nach diesem Muster gehandelt, und Petrus empfiehlt es uns als Vorbild (1. Petrus 2,20–23). Und auch Paulus betont, dass wir Gott das Urteil überlassen sollen (Römer 12,19–21). Und das nicht, damit der andere ungestraft davonkommt. Im Gegenteil, ich gebe die Situation an Gott ab – im Vertrauen darauf, dass er der gerechte Richter ist. Auf dieser Grundlage sollen wir sogar unseren Feinden Gutes tun (Römer 12,20–21). Das ist alles andere als eine passive, schwache Reaktion auf die Ungerechtigkeit, die einem widerfährt. Ansprechen, aushalten, an Gott abgeben und Gutes tun – eine ganz starke Reaktion auf Ungerechtigkeiten, die nur aus dem Vertrauen Gott gegenüber entstehen kann. So wie bei (noch nicht König) David.
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