Die Macht über mein Leben

Ratgeber

Menschen, die zu anderen stehen, machen sich oft selbst zum Ziel von unfairen Behandlungen. So hat es unsere Autorin schon früh erfahren, so beobachtet sie es auch heute noch. Und sie stellt die Frage: Was ist wichtiger? Freiheit oder Loyalität? Was bindet einen – und an wen? Dr. Martina Kessler schreibt über Macht, deren Missbrauch und meint: auch wenn es nicht einfach ist, da rauszukommen, es gibt eine Chance!

Ich liebte meine Eltern, und sie liebten mich. Ihnen gegenüber war ich loyal und fühlte mich frei. Da ich ein relativ gehorsames Kind war, ist das nicht erstaunlich. Als Schulkind kam ich zum ersten Mal in einen Konflikt zwischen Loyalität und Freiheit, weil sich eine Lehrerin unfair gegenüber einem Klassenkameraden verhielt. Da ich zu ihm stand, wurde sie mir gegenüber ebenfalls unfair. Wer sich frei und unabhängig verhält, kann also auch als illoyal eingestuft werden. Ich musste die Folgen tragen.

Kein Mensch ist ohnmächtig!

In einem berufsvorbereitenden Praktikum hatte eine Vorgesetzte Macht über uns Ungelernte. Und sie nutzte das wirklich aus. Sie forderte Loyalität, wir verloren Freiheit. Später hatte ich eine freundlich-strenge Ausbilderin, oft nette, zuweilen überaus korrekte und mitunter auch unfaire Vorgesetzte im Krankenhaus, und danach hatte ich es mit Kolleginnen und Kollegen, Dozierenden und Professoren zu tun. In meiner Freizeit waren Jugendleiterinnen, Chorleiter, Gemeindeleiter, Seminarleiterinnen und natürlich ganznormale Menschen zu finden. Bei allen Beziehungen stellte sich auf die eine oder andere Weise die Frage nach Loyalität und Freiheit. Letztlich gilt das auch für meine Ehe und meine Familie.

In den meisten Fällen war, beziehungsweise bin ich hoch loyal und gebe Menschen damit freiwillig Macht über mich. Gelegentlich fühlte ich mich dazu gezwungen. Die meisten dieser Menschen gingen gut mit mir um, andere zeigten mir, dass ihre Macht über mich eine dunkle Seite hatte. Zuweilen fühlte ich mich dann unfrei und ohnmächtig.

Heute weiß ich: Ich habe Macht über mein Leben! Macht ist die Fähigkeit, Realität zu gestalten. Macht an sich ist also weder gut noch böse. Erst durch ihren Gebrauch kann sie für oder gegen Menschen eingesetzt werden. Macht über Menschen ist nur im Zusammenhang mit Gefolgschaft, also hoher Loyalität, möglich. Diese Grundaussage zeigt: Kein Mensch ist ohnmächtig! Wer hoch loyal und treu ist, wer hohe sensible oder anhängliche Persönlichkeitsanteile hat, neigt dazu, anderen mehr Macht über sich zu geben als gut ist. Dann kann sich das Gefühl entwickeln: Ich bin ohnmächtig in meinem Leben und habe keine Wahl. Ebenso erleben sich Menschen als machtlos und entmutigt, die lange Zeit Missbrauch erlebt haben.

„Ich habe Macht über mein Leben! Macht ist die Fähigkeit, Realität zu gestalten.“

Warum fühle ich mich schlecht?

Im Leben gibt es viele Situationen, in denen wir uns einen angemessenen Umgang mit Unterordnung und Loyalität wünschen und dies suchen. Eindeutig übergriffig ist es, wenn Menschen in die persönliche Lebensführung eingreifen und dann die Menschenwürde und Unverletzlichkeit der Person nicht mehr gewährleistet ist, oder wenn individuelle Menschenrechte wie Religions- und Meinungsfreiheit ignoriert werden.

Sie können sich auch fragen: Fühle ich mich nach einem Treffen schlecht? Sind Sie mehr mit den Problemen und Erwartungen der anderen Person beschäftig als mit sich selbst? Bekommen Sie keine echte Wertschätzung? Werden Sie materiell ausgenutzt? Wenn Sie diese Fragen mit Ja beantworten, dann sollten Sie sich das System genau ansehen. Vielleicht müssten Sie sich von diesen missbrauchenden Menschen oder Systemen trennen.

Dabei werden auf jeden Fall innere Spannungen ausgehalten werden müssen. Machen Sie sich bewusst: Sich solchen Menschen oder solchen Systemen unterzuordnen, führt zu nachhaltigem Schaden. Jeder erwachsene Mensch ist normalerweise in der Lage, das Leben mündig zu bestreiten. Aber um ein zwischenmenschliches Spannungsfeld aushalten zu können, benötigt man eine gute Portion Energie. Ein Blick in die Bibel kann helfen, denn auch hier begegnet uns ein Spannungsfeld: Einerseits werden wir in 1. Petrus 2,13–17 und Hebräer 13,17 zur Unterordnung aufgefordert. Wir sollen denen gehorchen, die Macht in der Welt und im geistlichen Amt ausüben. Ausdrücklich wird auf das höchste politische Amt, sowie Regionalleitungen und die Verantwortlichen in Gemeinden hingewiesen. Andererseits gilt schon im Alten Testament: Macht geht nicht vor Recht (3. Mo 19,15)! Im Neuen Testament wird thematisiert, dass Menschen Gott mehr gehorchen sollen als Menschen, die etwas wollen, was Gottes Willen eindeutig widerspricht (Apg. 4,19). Paulus machte der Gemeinde in Korinth schwere Vorwürfe, weil sie sich von selbsternannten Super-Aposteln versklaven und ausbeuten ließen, weil sie freiwillig in die Falle gingen und so unfrei wurden, wenn sie sich arrogant behandeln und beleidigen ließen (2. Kor. 11,20). Ebenso lesen wir, dass sich viele biblische Leiter gegen bestehende Systeme auflehnten, wie zum Beispiel Mose, Propheten wie Amos, Jeremia, aber auch Jesus, Petrus oder Paulus.

Die Mündigkeit zum Ziel gemacht

Unser Weg verläuft daher wohl zwischen diesen beiden grob gezeichneten Linien von Gehorsam und Auflehnung, zwischen Loyalität und Freiheit. Außerdem müssen wir biblische Inhalte immer wieder auf das Hier und Jetzt übertragen. Zusammenfassend gilt also: Wir sollen mündig gehorchen oder uns mündig unterordnen.

Und wenn man zu lange zu loyal war? Dann ist es manchmal gar nicht so leicht dies zu durchschauen oder wieder herauszukommen. Leider sind spezielle Menschen sehr geschickt darin zu manipulieren. Manchmal geben sich diese Leute den Anstrich besonders fromm zu sein oder eine ganz besondere Beziehung zu Gott zu haben. Wehe dem, der diesen „frommen“ Menschen widerspricht. Eigenständiges Handeln wird ab und zu mit vermeintlich geistlichen Argumenten abgewertet. Oft höre ich auch Geschichten bei denen mit dem Verlust des ewigen Heils für dieses oder jenes Verhalten gedroht wird. Manchmal nutzen missbrauchende Menschen auch psychologischen Terror. Das Motto „Zuckerbrot und Peitsche“ ist besonders beliebt. Eine Frau erzählte mir, sie sei fast gänzlich verzweifelt, weil sie in einer christlichen Gruppe immer wieder „mit Füßen getreten“ wurde. Aber sie blieb im System, weil sie dort endlich Gemeinschaft fand und ihr auch suggeriert wurde: „Du wirst von uns Leitern und Gott geliebt und angenommen“. Und dann wieder hörte sie: „Du musst noch so viel an dir ändern. So gefällst du weder uns noch Gott!“ Eine solche Vermischung zeigt religiösen Machtmissbrauch!

Je nachdem wie tief und lange man in ein System von Machtmissbrauch eingetaucht ist, sind unterschiedliche Wege erforderlich. Eine erste Maßnahme ist es, sich klarzumachen: Auch ich habe Macht! Gefolgschaft funktioniert nur mit Unterordnung. Die danach notwendigen Schritte sind davon abhängig, in welcher Intensität das Vorangegangene stattfand. Oft kommt man alleine weiter. Gelegentlich ist die Unterstützung von Freunden hilfreich. Zuweilen brauchen Menschen aber auch eine qualifizierte Beratung oder Therapie.

Alle diese Wege können hilfreich sein, sofern sie aus einer Unterjochung herausführen und die Mündigkeit von Menschen zum Ziel haben.

 

Dr. Martina Kessler ist verheiratet, hat vier erwachsene Kinder mit wachsender Enkelschar, ist in der Leitung der Akademie für christliche Führungskräfte und Studienleiterin der Stiftung Therapeutische Seelsorge, liebt das Eintauchen in andere Kulturen, Stricken, Oma sein und lebt in Gummersbach.

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