Weit mehr als wir glauben

Ethnologie

Wir neigen bisweilen dazu, Dinge und Zusammenhänge lediglich aus dem uns vertrauten Blickwinkel zu betrachten. Gut, dass es Menschen gibt, die unseren Horizont nicht nur gekonnt, sondern auch ohne jeden Vorwurf erweitern können. So wie den geschätzten Ethnologen Prof. Dr. Lothar Käser. Er gewährt uns einen kulturanthropologischen Blick auf die Dankbarkeit und eröffnet uns großartige Einsichten.

Was für ein Begriff! Auf den ersten Blick eigentlich ein ganz alltäglicher. Wenn man ihn aber genauer in den Blick nimmt, erkennt man schnell, dass er auch sehr nichtalltägliche Aspekte aufweist. Das macht es etwas schwierig, Dank, Dankbarkeit und das dazugehörige Begriffsfeld übersichtlich zu beschreiben. Ich muss dazu immer wieder etwas ausholen, um dann auf das eigentliche Thema zurück zu kommen.

Grundsätzliche Überlegungen zu Dank und Dankbarkeit

Zuerst lege ich dar, was Dank und Dankbarkeit eigentlich sind und welche Funktionen sie in den unterschiedlichsten Gesellschaften der Menschheit erfüllen. Dann versuche ich zu zeigen, wie Sprachen mit diesen Begriffen umgehen. Daran kann man nämlich erkennen, wie Menschen in anderen, uns fremden Gesellschaften Bereiche ihrer Kultur miteinander verbinden, um ihr tägliches Leben zu meistern. Zu diesen Bereichen zählt meist in besonderer Weise ihre Wirtschaftsform. In einer Tauschwirtschaft zum Beispiel bilden Dank und Dankbarkeit in dramatischer Weise die Grundlagen des Umgangs mit Gütern, die man zum Leben braucht.

Aber nicht nur mit der Wirtschaftsform sind Dank und Dankbarkeit verknüpft, sondern auch mit der dazugehörigen Religionsform. Für uns Europäer sehr merkwürdig ist, dass viele Gesellschaften das Opfer an höhere Wesen, an Ahnengeister etwa, als Mittel verstehen, diese Wesen in einen Zustand der Dankbarkeit zu versetzen, so dass diese sich verpflichtet sehen, Segen zu liefern. Wenn Menschen mit solchen Vorstellungen Christen werden, übertragen sie nicht selten diese auch auf Gott und das führt zu ziemlich verzerrten Vorstellungen von dem, was die Bibel dazu sagt. Daraus ergibt sich eine mitunter ziemlich schwierige Aufgabe für europäisch-abendländische Missionarinnen und Missionare. Und ganz erstaunliche Dinge erleben Bibelübersetzer mit den Begriffen Dank und Dankbarkeit, wie wir sehen werden.

Ich selbst habe jahrzehntelang an einer Übersetzung des Alten und Neuen Testaments in eine Südseesprache mitgearbeitet. Im Zusammenleben mit den Menschen auf einer Insel in Mikronesien habe ich eine sehr spezielle Form des Umgangs mit Dank und Dankbarkeit kennengelernt. Manche meiner Erlebnisse sind geeignet, die so anderen begrifflichen Verhältnisse im Denken von Menschen fremder Kulturen viel besser verstehbar zu machen, als es Erklärungen theoretischer Natur tun könnten. Deshalb erzähle ich im Folgenden gelegentlich, was ich erlebt habe.

Warum brauchen Gesellschaften Dank und Dankbarkeit?

Nirgendwo auf der Welt können Menschen allein ihr Leben meistern. Wir brauchen Mitmenschen, nicht nur um psychisch gesund zu bleiben, sondern auch deswegen, weil es im Alltag zahllose Situationen gibt, in denen wir unsere Bedürfnisse nicht allein befriedigen können. Ich versuche, das an einem Beispiel aus der Altsteinzeit klar zu machen.

Die Menschen lebten damals ganz wesentlich von der Jagd. Das war die Aufgabe der Männer. Als Jäger erfolgreich sein konnte man nur unter der Voraussetzung, dass man nicht allein auf die Jagd ging. Die Waffen der Altsteinzeitjäger hatten nur eine geringe Reichweite. Sie konnten die Tiere also nur erlegen, wenn zwischen Jäger und Beute keine zu große Distanz lag. Jagdtiere aber haben, wie wir wissen, erstaunlich scharfe Sinnesorgane und flüchten daher meist lange, bevor sich ein Jäger in Schussweite befindet. Das war auch in der Altsteinzeit so. Also musste es damals Mitjäger geben, die den mit Speeren oder mit Pfeil und Bogen bewaffneten Männern die Beute in Schussweite trieben. Allein war da nichts zu machen.

Das Leben der Menschen war nicht nur damals von der Notwendigkeit gekennzeichnet, auf die Hilfe von Mitmenschen zählen zu können. In der modernen Welt ist das nicht anders. Auch wir brauchen zur Befriedigung zahlreicher Bedürfnisse solidarische Mitmenschen. Diese nun bilden etwas, was man in den Sozialwissenschaften „Gesellschaft“ nennt. Menschliche Gesellschaften sind enorm wichtig für ihre Mitglieder. Sie stellen ihnen gleichgesinnte, solidarische Unterstützer bereit, ausgestattet mit den gleichen Werten und Zielvorstellungen. Menschliche Gesellschaften sind das, was für bestimmte Tiere die Herde ist, die Schutz, Wohlgefühl und Lebensqualität bietet.
Um diese Funktionen erfüllen zu können, müssen Gesellschaften unbedingt zusammenhalten, auch unter schwierigen Bedingungen. Schwierige Bedingungen entstehen, weil Individuen sich nicht immer an die Werte und Zielvorstellungen ihrer Gesellschaft halten. Ihr abweichendes Verhalten fördert dann eher den sozialen Zerfall. Es muss daher etwas geben, was dem Zerfall entgegenwirkt. Dazu gehören unter anderem Gefühle und Haltungen der Mitglieder einer Gesellschaft, die Menschen daran hindert, zu egoistisch oder aggressiv ihre Bedürfnisse zu befriedigen.
Zu den wichtigsten Gefühlen und Haltungen von Menschen, die ihre Gesellschaft vor dem Auseinanderbrechen bewahren, gehört die Dankbarkeit, der Dank, das Danken. Damit wären wir beim Thema.

Eigenschaften von Dankbarkeit als Emotion

Das Gefühl der Dankbarkeit ist in mehrfacher Hinsicht bemerkenswert. Die Art und Weise, wie wir es ausdrücken, ob mit Worten oder Gesten, wird bestimmt durch zwei Begleiterscheinungen. Wenn wir Dankbarkeit bezeugen, lassen wir gleichzeitig erkennen, dass wir demütig sind, und weil Demut niemals aggressiv in Erscheinung treten kann, stiften Menschen Frieden untereinander, wenn sie dankbar sind und dies ausdrücken. Darüber hinaus hat Dankbarkeit eine enorm motivierende Wirkung auf diejenigen, denen der Dank entgegengebracht wird. Mitmenschen für uns einzunehmen, uns geneigt zu machen, gelingt uns mit Dankbarkeit ohne große Mühe. Was besonders wichtig ist: dem Gefühl der Dankbarkeit fehlt jeder Anflug von Anbiederung, Schmeichelei und Unterwürfigkeit. Sich dankbar zu erweisen, führt daher nie zu peinlichen Situationen und wir können dabei kaum die Distanz unterschreiten, die wir in der Begegnung mit anderen einhalten müssen, um selbstsicher zu bleiben. Wir zeigen damit, dass wir uns dem Bedankten gegenüber verpflichtet, aber nicht ausgeliefert fühlen. Auf diesen Aspekt der Verpflichtung werde ich weiter unten eingehen.

Dank und Dankbarkeit in der Sprache

Immer wieder werde ich gefragt, ob es heutzutage Menschen gibt, deren Sprache kein Wort für „danke“ oder Ähnliches hat. Ich kann mir das nicht vorstellen. Das gilt meines Erachtens auch für die Sprachen von Gesellschaften, die inzwischen verschwunden sind, wie die Hethiter, die Azteken oder Etrusker.

Wenn es solche Sprachen geben sollte, dann sind es seltene Ausnahmefälle. Und selbst dann gibt es andere Zeichen, mit denen man seinen Dank ausdrückt: Gesten, Körperhaltungen, Körpersprache, Zusammenlegen der Handflächen, Verbeugungen.

Weil die Dankbarkeit und das dazugehörige begriffliche Umfeld für das Fortbestehen von Gesellschaften so wichtig sind, muss sich das zwangsläufig auch in den dazugehörigen Sprachen zeigen. Wir wissen heute, dass für alle jene Dinge, Eigenschaften und Vorgänge, die für die Mitglieder einer Gesellschaft wichtig sind, Wörter existieren. Das hat einen einfachen Grund. Im täglichen Umgang miteinander müssen Menschen miteinander kommunizieren, Gedanken austauschen, Bedürfnisse und Absichten benennen, gemeinsame Ziele oder unterschiedliche Ansichten besprechen.

In der Linguistik, der allgemeinen Sprachwissenschaft, gilt als ausgemacht, dass man den Grad der Bedeutung eines Kulturelementes für die betreffende Gesellschaft an der Zahl der Wörter ablesen kann, die dafür zur Verfügung stehen. Als Faustregel gilt für alle Sprachen der Welt: je mehr Wörter zum Austausch von Informationen über ein Kulturelement im Umlauf sind, umso größer ist die Bedeutung dieses Elements für die betreffende Gesellschaft.

Ich benutze zur Erklärung dieses Sachverhalts ein Beispiel aus ethnischen Gruppen, wie es die Beduinen sind. Sie leben in Wüstengebieten. Ihre Lebenswelt ist also wesentlich durch das Vorhandensein von Sand bestimmt. Deren Sprachen zeigen, im Unterschied zum Deutschen, eine Fülle von Ausdrücken, meist kurze Wörter, für die unterschiedlichen Arten von Sand, über die sie sich unterhalten müssen: Sand, den der Wind leicht davonbläst und die sehr unangenehmen Sandstürme entstehen lässt, Sand, in dem die Kamele gut vorankommen oder leicht versinken, Sand, wo sich Wasser finden oder nicht finden lässt, und so weiter.

Weil Dankbarkeit für den Umgang von Menschen miteinander so wichtig ist, besitzen die allermeisten menschlichen Gruppierungen, Ethnien, Völker, Sprachgemeinschaften in irgendeiner Form Wörter, mit denen sich Dankbarkeit, Dank und Danken ausdrücken lassen. Ohne Wörter dafür ist es unmöglich, Kindern beizubringen, „was man sagt, wenn man etwas bekommt“, wie Eltern das in der Regel tun. Im Deutschen benützen wir nicht nur diese drei Ausdrücke, sondern eine ganze Reihe von Zusammensetzungen. Wir sagen Dank, sprechen Dankesworte, singen Danklieder, halten Dankesreden, richten Dankgebete an Gott, und in den Texten der Bibel bringen die Menschen ihm Dankopfer dar. Ich habe damit bei Weitem noch nicht alle Möglichkeiten genannt.

Dank und Dankbarkeit in der Bibel

Wenn dem so ist, wundert es nicht, dass auch in der Bibel die Begriffe Dankbarkeit, Dank und Danken ständig gebraucht werden. Es gibt, je nach Übersetzung unterschiedlich, mehr als 60 Stellen, in denen davon die Rede ist. In dieser Tatsache eingeschlossen liegt folglich ein theologisch wichtiges Begriffsfeld. Es handelt sich hier aber nicht nur um eine theologische Frage. Davon wird gleich die Rede sein. Ich muss zuvor auf einen weiteren Aspekt hinweisen und auch wieder etwas ausholen.

Dank und Dankbarkeit in der Wirtschaftsform

Das Begriffsfeld Dank bildet in zahlreichen Gesellschaften der Erde ein Grundelement ihrer Wirtschaftsform. Darunter versteht man die Art und Weise, wie Nahrung und Gebrauchsgüter produziert und in der Gesellschaft verteilt werden. Die Wirtschaftsform einer Menschengruppe beeinflusst in überraschender Weise die Wahrnehmung der Vorstellungen von Dank und Dankbarkeit in der Bibel. Unter die Begriffe, die von sozio-kulturell vorgegebenen Denkstrukturen ¬¬¬¬-besonders betroffen sind, fällt der Begriff „Opfer“ als Gabe an Gott. Es gibt Gesellschaften mit einem Verständnis des Begriffs „Dankopfer“, das sich von unserem europäisch-abendländischen Verständnis erheblich unterscheidet.

Das bedeutet für den Bibelübersetzer zwingend, dass er sich mit diesem Unterschied sorgfältig beschäftigt und sich Klarheit über seine begrifflichen Verbindungen im Denken der Menschen verschafft. Tut er es nicht, schafft er für Menschen, die Dank mit ganz anderen, unerwarteten Vorstellungen verknüpfen, unter Umständen schwerwiegende theologische Probleme. Was das bedeutet, werden wir gleich sehen.

Dank als Verpflichtung

Ich hatte oben schon kurz erwähnt, dass wir einem Menschen gegenüber, dem wir danken, ein Gefühl der Verpflichtung empfinden und ausdrücken. Für Europäer ist dieses Gefühl eher unerheblich. Wir sagen zwar, wir fühlten uns zu Dank verpflichtet. Deutlich wahrgenommen wird das Gefühl der Verpflichtung aber nicht eigentlich. Deshalb zeigt sich das in den europäischen Sprachen in der Regel nicht offen, mit einer Ausnahme. Im Portugiesischen heißt „danke“ „obrigado“, klar erkennbar in der Bedeutung „verpflichtet sein“. Diese Ausdrucksweise findet sich nun ausgeprägt in den Sprachen von Gesellschaften, in denen es an Stelle einer Geldwirtschaft die Form der Tauschwirtschaft gibt. Das zeigen zwei Erlebnisse aus meiner Zeit auf einem Atoll in der Südsee, bei den Insulanern von Chuuk in Mikronesien, einem Inselgebiet im westlichen Teil Ozeaniens.

Die Begriffskombination Dank und Entschuldigung

Ein besonders günstiger Tag, an dem man viele Insulaner im Freien bei der Arbeit treffen kann, ist der Samstag. Geht man am späteren Samstagvormittag den Buschpfad entlang, dann beobachtet man, dass neben fast allen Wohnhäusern rechts und links an offenen oder auch überdachten Feuerstellen größere Mengen Taro-Knollen und Brotfrucht gekocht werden. Vor einem bestimmten Haus erlebe ich eine aufschlussreiche Szene. Ein Mann hat eine Schüssel mit gekochten Taro-Knollen gefüllt und ist gerade dabei, sie einer Frau zu reichen. Die Frau nimmt die Schüssel an sich und sagt laut und vernehmlich: „Kinissow!“

„Aha!“ denke ich, denn ich schließe daraus, dass ich soeben gelernt habe, was „Dankeschön“ in der Sprache der Insulaner heißt. Eine Viertelstunde später kommt mir eine Gruppe Frauen entgegen, deren Männer ebenfalls gekocht haben müssen, denn in den Schüsseln, die sie auf dem Kopf tragen, stapeln sich goldgelbe, appetitlich aussehende Brotfruchtschnitze. Weil der Fußpfad für zwei Personen neben¬einander zu schmal ist, trete ich einen kleinen Schritt seitlich ins Gebüsch, um die Gruppe im Gänsemarsch an mir vorbeiziehen zu lassen. Im Weitergehen stößt mich eine der Frauen aus Versehen an und ruft erschrocken: „Kinissow!“

Ich bin überrascht. Vor wenigen Minuten noch hatte kinissow so etwas wie „Dankeschön“ bedeutet. Soeben jedoch hörte ich das gleiche Wort in einem Zusammenhang, in dem ich selbst "“ntschuldigung“ gesagt hätte. Mein Schluss von vorhin kann aber nicht ganz falsch gewesen sein, denn der hatte einen Sinn ergeben. Beim Versuch, mir diese Merkwürdigkeit zu erklären, komme ich zu folgender Erklärung. Die beiden Situationen, in denen ich kinissow gehört hatte, sind für mich total verschieden. Deshalb erschienen mir logischerweise zwei verschiedene sprachliche Äußerungen angemessen zu sein: in der ersten „danke“, in der zweiten „Entschuldigung“. Wenn nun die Insulanerinnen in beiden Situationen die gleiche sprachliche Wendung benutzen, muss es für sie darin eine Gemeinsamkeit geben, die ich auf Grund meiner Sprache nicht ohne Weiteres erkennen kann. Die Lösung: Wenn jemand mir gegenüber kinissow sagt, bedeutet das „ich bin dir verpflichtet“, in der ersten Situation deswegen, weil du mir etwas gegeben, ein Geschenk gemacht hast; in der zweiten, weil ich dir etwas angetan habe. Dank als Verpflichtung in reinster Form, in Chuukese, der Sprache der Insulaner nicht anders als im Portugiesischen!  

Mit dieser Erkenntnis habe ich gelernt, dass Dank in nichteuropäischen Sprachen mit ganz anderen Begriffen verknüpft sein kann als in europäischen. Und noch etwas fällt mir dabei auf. So sagt ein Deutscher wohl „danke“, wenn er etwas bekommen hat, aber er sagt es auch dann, wenn er gar nichts haben will, beim Essen zum Beispiel, wenn ihm etwas angeboten wird, er aber ablehnt, weil er satt ist. „Danke“ in dieser Situation wirkt auf die Insulaner genau so merkwürdig und unlogisch wie kinissow auf den Fremden, der mit den beiden oben geschilderten Ereignissen zurechtzukommen versucht. Irgendwelche Werturteile darüber sind daher unsinnig und die Behauptung, es gebe „primitive“ Sprachen, verliert vor dem Hintergrund solcher und vieler anderer Erfahrungen jede Berechtigung.

Ein Fisch als Geschenk

Das alles hat nun verschiedene Konsequenzen, die hier nicht alle erörtert werden können. Ich greife nur noch eine heraus, nämlich die Tatsache, dass die Insulaner nicht nur Dank und Entschuldigung begrifflich verknüpfen, sondern darüber hinaus auch die Begriffe „Gabe“ und „Geschenk“ mit dem, was die Bibel „Opfer“ nennt. In vorchristlicher Zeit war es eine Gabe oder ein Geschenk an die zu verehrenden Geister ihrer Vorfahren. Jetzt, wo sie Christen sind, ist Gott als Empfänger an die Stelle dieser Geister getreten – mit interessanten Konsequenzen. Das erkläre ich anhand von zwei weiteren, sehr aufschlussreichen Erlebnissen.

Eines Tages erschien ein Mann aus dem Dorf, den ich noch nicht kannte, an meiner Haustür. Er hatte einen prächtigen Fisch dabei. Den wollte er mir schenken, wie er sagte. Ich war sehr überrascht und konnte mir nicht erklären, warum ein mir Unbekannter mir einen Fisch schenken wollte. Dankend nahm ich das Geschenk an und der Mann ging seiner Wege. Am nächsten Morgen stand er wieder vor der Tür, ohne Fisch, aber mit der Bitte, ihm eine Tonne Benzin zu leihen. Er brauchte sie, um mit seinem Motorboot zum Fischen zu fahren, weil seine Familie für das Wochenende etwas zu essen haben sollte. Wie alle übrigen Dorfbewohner wusste er, dass ich für die Schule, deren Leiter ich damals war, ein paar Tonnen Benzin auf Vorrat hatte, um meine Dienstfahrten über das Meer auf die Regierungsinsel durchführen zu können. In diesem Augenblick dämmerte mir, warum der Mann mir einen Fisch geschenkt hatte. Durch die Annahme des Geschenks hatte er mich kinissow gemacht, mich ihm sozusagen verpflichtet, zu einer Art Gegengeschenk oder wenigstens zur Hilfeleistung. An diesem Erlebnis wurde mir schlagartig klar, dass dieses Prinzip dem Wirtschaftsverhalten der Insulaner zugrunde liegt: Wenn jemand etwas nicht hat, bittet er jemand, der es hat, es ihm zu leihen. Damit gerät er selbst in einen Zustand der Verpflichtung und das so lange, bis er das Geliehene zurückgeben oder die Hilfeleistung erwidern kann.

Wir Ethnologen nennen das Prinzip Reziprozität. Damit es funktioniert, hat sich bei den Insulanern eine bestimmte Gewissensorientierung entwickelt. Grundprinzip dafür ist ein Gefühl der Verpflichtung, in die sich Menschen begeben, die eine Gabe oder eine Dienstleistung annehmen. Nimmt ein Insulaner von einem anderen eine Schüssel mit Brotfrucht an, so wird er kinissow, was bedeutet, dass er sich von diesem Augenblick an, vom Geber aus gesehen, in einem Zustand der „Verpflichtung“ befindet, und zwar so lange, bis er ihm gegenüber eine entsprechende Gegenleistung erbringt. Von diesem Zeitpunkt an ist sein Zustand des Verpflichtetseins wieder gelöscht bzw. auf den ursprünglichen Geber zurückübertragen worden.

Theologie und Tauschwirtschaft

Diese Art der Reziprozität spielt nun nicht nur in der Wirtschaftsform der Insulaner eine grundsätzliche Rolle, sondern auch in ihrer Theologie und folglich auch in ihrem religiösen Verhalten. Mit einem Gabenopfer, so ihre Erwartung, kann man ein „höheres Wesen“, etwa einen Ahnengeist, in gleicher Weise wie die Mitmenschen in einen Zustand der Verpflichtung versetzen. Handelt der Ahnengeist nicht dieser seiner so verursachten Verpflichtung entsprechend und erfüllt die an ihn gerichteten Bitten nicht, kommt er in gleicher Weise ins Gerede wie ein Lebender, der seine Verpflichtung zur Gegengabe oder Gegenleistung nicht ernst nimmt. So war das in ihrer vorchristlichen, animistischen Religion.

Dieses Prinzip hat sich auch nach über hundert Jahren Christianisierungsprozess nicht nur erhalten, sondern es hat sich auch auf Gott übertragen. Interessant ist nun, dass man das Prinzip auch umkehren kann, besonders dann, wenn es sich auf einen ahnungslosen Fremden anwenden lässt, der den Zusammenhang nicht durchschaut, wie ich damals noch. Wenn ein Insulaner etwas haben will, versucht er, denjenigen, der es ihm eventuell geben kann, zu manipulieren. Er bietet ihm ein „Geschenk“ an, und wenn er es annimmt, wird er kinissow, gerät also in einen Zustand der Verpflichtung. Man kann ihn daraufhin um etwas bitten, und wenn er diese Bitte nicht erfüllt, verliert er sein Gesicht. Er kommt als „undankbarer“ Mitmensch ins Gerede. Insulaner wissen das natürlich und sind misstrauisch, wenn ein solches Angebot auf sie zukommt. Ich dagegen trat ahnungslos in die Falle. Aber ich verstand auch plötzlich, was sonntags in den Köpfen der Menschen im Gottesdienst geschieht, wenn die Kollekte eingesammelt wird. So richtig wurde mir jetzt ein Ereignis klar, das ich bislang nicht verstanden hatte.

Nach einem Gottesdienst forderte der alte Dorfhäuptling Wupwiini die Mitglieder seiner Großfamilie auf, am folgenden Sontag je einen Dollar mitzubringen, um diesen als Geschenk beziehungsweise Opfer auf den Altar zu legen, weil ein Familienmitglied verreisen musste. Man wollte den reisenden Verwandten unter Gottes besonderen Schutz stellen. Damit Gott diese Bitte auch wirklich erfüllen würde, musste er besonders kinissow gemacht und so gewissensmäßig gezwungen werden, den Reisenden als Gegengeschenk vor Schaden zu bewahren. In diesem Sinne erscheint Gott als in das allgemeine Wirtschaftsverhalten der Insulaner eingebunden, welches ein Tauschsystem darstellt. Für den Bibelübersetzer ergibt sich daraus ein schwieriges Problem.

Welches Wort gibt den Opferbegriff in der Bibel auf richtige Weise wieder?

Es gibt in der Chuuksprache drei sehr unterschiedliche Wörter für „Geschenk“ oder „Gabe"“ Diese sind niffang, ósór und kiis. Niffang ist eine Gabe, ein Geschenk, das denjenigen, der es annimmt, zu einem Gegengeschenk verpflichtet. Also ist niffang wohl keine gute Übersetzung für den Begriff „Opfer“ als Gabe und Dank an Gott. Ósór ist eine Gabe an ein höheres Wesen, einen Ahnengeist oder eben auch Gott, welche die beiden ebenfalls zu einem Gegengeschenk verpflichtet. Offenbar auch keine gute Lösung. Kiis dagegen verpflichtet nicht zu einem Gegengeschenk. Das scheint die richtige Lösung zu sein! Die Enttäuschung lässt nicht lange auf sich warten. Beim genaueren Hinschauen entdeckt man, dass kiis nur zwischen Schwägern ausgetauscht wird. Bleibt also ósór als Gabe an ein höheres Wesen. Dass es zu einem Gegengeschenk verpflichtet, muss in Kauf genommen werden.

Diese Lösung macht bis heute theologische Probleme. Die Pastoren der einheimischen Kirche vertreten aufgrund dieser sprachlichen Situation in ihren Predigten häufig einen sehr problematischen Opferbegriff. Diejenigen, denen das bewusst ist, klagen darüber, dass sie immer wieder von Neuem erklären müssen, dass die Bibel das Opfer nicht als Möglichkeit darstellt, Gott dazu zu verpflichten, zu manipulieren, Segen, Gesundheit und materielle Güter als Gegengeschenke bereitzustellen.

Ein Fremdwort als Lösung?

Ich werde oft gefragt, ob es dabei nicht sinnvoller gewesen wäre, ein neues, sprachfremdes Wort einzuführen und dieses mit neuer Bedeutung zu füllen. Im Fall der Insulaner von Chuuk böte sich das englische „offering“ an. Leider geht auch das nicht so einfach, denn man müsste die neue Bedeutung auf jeden Fall mit den alten Begriffen und Wortinhalten erklären.

Trotzdem Grund zur Dankbarkeit!

Solche Schwierigkeiten machen dem Bibelübersetzer gelegentlich schwer zu schaffen. In manchen Texten häufen sie sich. Sehr erfreulich ist aber, dass es in fremden Sprachsystemen auch Denkformen gibt, die wichtige Bibelstellen und biblische Begriffe ohne viel Aufwand viel klarer und einleuchtender übersetzbar machen, als das in europäischen Sprachen möglich ist. Das ist für den Bibelübersetzer ein eindrücklicher Grund zur Dankbarkeit.

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