Ich bin
Leitartikel
Um uns herum unzählige Diskussionen über Menschenrechte und weit und breit kein Ende in Sicht. Dabei gibt es eine gemeinsame Grundlage all derer, die sich beteiligen: Sie fordern – völlig zu Recht – die Beachtung ihrer Position. Doch es gibt einen wesentlichen Unterschied: Nicht alle sind bereit, das, was sie für sich in Anspruch nehmen, auch anderen zu gewähren. Von Detlef Eigenbrodt.
Herbst 1992. Ich steige in Frankfurt am Main in einen Flieger, der mich mit mehreren Zwischenstopps nach Bissau bringt, der Hauptstadt jenes westafrikanischen Armutslandes Guinea-Bissau, das für die kommenden sechs Monate mein Zuhause sein wird. Nachmittags steige ich auf der Rollbahn aus der recht kleinen Maschine, wische mir den Schweiß von der Stirn – hier herrschen äquatornah mühelos 45 Grad – und schaue direkt in die Mündung einer Maschinenpistole. Ich bin da. Und habe nicht die Spur von Ahnung, was da noch alles auf mich zukommt. Im Inneren des wirklich sehr rudimentären Flughafengebäudes dieser Militärdiktatur wird mein Rucksack penibel genau untersucht, bewaffnete Soldaten immer in meiner Nähe. Plötzlich ertastet der, der über mein Geschick verfügt, in meinem Gepäck etwas, das ihn wohl sehr beunruhigt. Rund, etwa fünf Zentimeter Durchmesser und gut 30 bis 40 Zentimeter lang. Als er die Salami, die mir wohlwollende Freunde zum Überleben der ersten Tage hiesiger Küche eingepackt hatten, in der Hand hält, kann er sich ein Grinsen nicht verkneifen. Dann geht alles ganz schnell. Er drückt einen Stempel in meinen Pass und ich bin drin im Land. Da meine Kontaktperson, die mich abholen soll, nirgends zu sehen ist, verlasse ich das Gebäude. Ich scheine eh so ziemlich der Letzte zu sein. Bis auf einen vermeintlichen Taxifahrer, von dessen portugiesisch-Kreol ich kein Wort verstehe, sind alle anderen weg. Der eben noch hoch gesicherte Flughafen liegt verlassen vor mir. Um die Ecke herum kann ich auf die Rollbahn laufen, auf der ich eben noch – hochgesichert – in den Lauf einer Waffe geschaut hatte. Ich hocke mich müde in den Staub und warte. Das gehört hier irgendwie dazu, wie ich noch lernen werde. Sowohl der Staub als auch das Warten. Dann kommt mein Gastgeber doch noch, fröhlich lachend und mir erklärend, es hätte etwas länger gedauert. Aber: herzlich willkommen, schön, dass du da bist!
Schwarz und stolz darauf
Wahnsinn, das ist jetzt bald 30 Jahre her. Und immer wieder, wenn ich den Diskussionen darüber folge, dass auch „Black lives matter“ kommen mir die schwarzen Studenten in den Sinn, mit denen ich damals zu tun hatte. Ach ja, ich bin übrigens in meiner Laufbahn schon öfter als Rassist beschimpft worden, weil ich von „Schwarzen“ gesprochen habe. Etwas verunsichert ob dieser Tatsache fragte ich im Laufe der Jahre immer wieder meine Freunde in Afrika, wie ich denn am besten und möglichst korrekt über sie reden solle. Sie hatten meistens nur ein mildes Lächeln für die erhitzte Diskussion übrig und meinten: „Look at us, we are black, and we are proud of it“ („Schau uns an, wir sind schwarz und wir sind stolz darauf.“) Ja. Und wie stolz sie sein konnten und können. Aber zurück nach Guinea-Bissau.
„Kostbare Erinnerungen schnüren mir bisweilen auch heute noch die Kehle zu, wenn ich höre, mit welcher Arroganz und Überheblichkeit eine kulturelle Auseinandersetzung geführt wird, die den Eindruck erweckt, es gäbe die weiße Herrenrasse wirklich.“
Ich wurde in eine Kultur aufgenommen, in der ich so ganz offensichtlich eine Fehlbesetzung war. Wenn ich von der großen Lehm-Hauptstraße nach links auf die kleinere Lehmstraße voller Löcher abbog, um zu dem Haus zu kommen, in dem ich lebte, hatte ich schon nach kürzester Zeit ein Knäuel kleinerer und größerer Kinder an mir hängen, die begeistert „Deffelle, Deffelle“ riefen. Mein Name, offensichtlich in der einzigen ihnen möglichen Form der Aussprache. Schwamm drüber. Und es wurden immer mehr. Mit den Kleinen traten ihre Mütter aus den Hütten, manchmal auch die Väter und die großen Brüder. Alle hatten sehr viel Spaß daran, zu sehen, wie ich kaum mehr gehen konnte und im schwarzgelockten Kinderknäuel fast zu Boden ging. „Bi nuu kumme“, riefen sie mir fröhlich zu, „komm, iss mit uns“ – jedes Mal die gleiche liebenswerte Einladung. Und jedes Mal antworte ich: „não, obrigado, n justa“. Danke, ich habe schon gegessen. Was ich als dringendes kulturelles Hin und Her von Formeln gelernt hatte, war im Grunde immer mehr als nur das. Mir wurde bald klar, dass die Guineer um mich herum kaum eine Mahlzeit am Tag hatten, mir aber jederzeit etwas davon abgegeben hätten. Wir hatten kein fließendes Wasser und kaum stabilen Strom, wir hatten Sandflöhe, Luftfeuchtigkeit von um die 80 Prozent und damit eigentlich ständig klamme Kleidung am Körper. Und auch im „Schrank“. Nicht, dass wir einen Schrank gehabt hätten, aber egal. Als ich eines Tages meine schwarzen Freunde fragte, ob sie irgendwann mal gern nach Deutschland kommen wollten, winkten sie vor Verlegenheit lachend, ab. „Nein, lieber nicht“, sagten sie, „da werden wir nur verprügelt und geschlagen. Du bist okay, echt, aber nach Deutschland wollen wir lieber nicht“. Das saß. Und weit und breit kein Loch im Erdboden, in das ich vor Scham hätte kriechen können. Sechs Monate später ist meine Zeit gekommen und ich reise wieder ab. Kostbare Erinnerungen schnüren mir bisweilen auch heute noch die Kehle zu, wenn ich höre, mit welcher Arroganz und Überheblichkeit eine kulturelle Auseinandersetzung geführt wird, die den Eindruck erweckt, es gäbe die weiße Herrenrasse wirklich.
Man lässt mich gewähren
Winter 2006. Todmüde stehe ich nach einer wirklich abenteuerlichen Reise am Airport von Kabul und starre wie alle anderen konzentriert auf das Gepäckband, wie immer in der irren Hoffnung, das ausgerechnet mein Koffer als erster aus dem Tunnel kommen könnte. Kommt er aber nicht. Und nach den ersten paar Koffern kommt auch überhaupt nichts mehr. Das Band schaltet einfach ab. Alles schauen sich ein wenig ratlos an, dann machen sich die Afghanen auf den Weg. Sie klettern behände über das Förderband, tauchen tief unter den Absperrungen hindurch und finden offenbar im nicht sichtbaren hinteren Raum ihre Koffer. Als der Erste sieghaft mit seinem Gepäck wieder zum Vorschein kommt, machen sich auch die anderen auf den Weg. Unter ihnen ich, als einziger Europäer, so weiß und blass, dass es fast blendet. Man schaut mich auch gleich fragend an, lässt mich aber gewähren. Schließlich will auch ich nur meinen Koffer und ins Bett. Die Menschen, die ich hier kennen lerne, sind freundlich, wenn auch bisweilen etwas abwartend. Was sicher auch daran liegt, dass ich mal wieder nicht viel Ahnung habe vom richtigen Verhalten in diesem Land und die Sprache mich einfach nur überfordert. Shukran. Wie immer das Erste, was ich zu lernen versuche. Danke in der Landessprache. Ich verbringe einige Tage in Kabul und fahre dann in einem Kleinbus über den Hindukusch nach Masar-e Scharif. Um mich herum lauter Afghanen, vor mir eine Tagestour, die mich zum Teil durch einen kilometerlangen Tunnel führen wird, der nur in eine Richtung befahrbar ist. Heute eben in Richtung Nordwesten. Allein schon die Eindrücke machen mich müde. Riesige Lastwagen, die auf schneeglatter Straße die Steigung nicht bezwingen und die Ketten anlegen. Männer mit langen Bärten, die mich aufmerksam mustern. Der Tunnel, schwarz wie die Nacht, der mich mitsamt dem Kleinbus verschluckt und in dem ich mich mehr als einmal frage, wie denn der Fahrer um Gottes Willen irgendetwas sehen kann und ob ich da jemals wieder rauskomme. Und nein, ich leide nicht unter Klaustrophobie. Dem Herrn sei’s gedankt. Feuer hier und dort, der Duft von frischem Brot und gebratenem Fleisch, Frauen in der typischen blauen Burka, Männer mit Kalaschnikows. Als ich ankomme, falle ich erschöpft auf die Boden-Kissen, die hier üblichen Sitzmöbel, und das sind auch die einzigen Möbel im ganzen Raum. Nur wenige Tage später sitze ich in einer 12-Sitzer-Propeller Maschine und fliege bei strahlendem Sonnenschein über gewaltige Bergmassive Richtung Süden. Ich bin auf dem Weg nach Jalalabad. Egal, wo ich wen in diesem manchmal wundersamen, meist aber wunderbaren, Land getroffen habe. Ich bin zunächst auf die gleiche Herzlichkeit und Gastfreundschaft gestoßen wie schon damals in Guinea-Bissau. Gepaart mit Respekt und Würde, wofür ich sehr dankbar war.
„Nein, nicht „Black lives matter“. Dieser Slogan ist schon im Ansatz falsch, auch wenn ich die Initiatoren sehr gut verstehe. Richtig muss es heißen: „All lives matter!““
Jedes Leben zählt
Sommer 2020. Ich verfolge die Nachrichten. Besonders die anhaltenden Diskussionen um die Gleichstellung von Frau und Mann, den in Deutschland unglaublicherweise immer noch grassierenden Antisemitismus und darüber, dass „auch schwarze Leben Bedeutung haben“. Übrigens: allen mir Rassismus vorwerfenden Kritikern zum Trotz haben ja die US-Bürgerrechtler selbst diesen Slogan geschaffen und ihn in strahlendem Gelb auf ihre Straßen gemalt. Richtig gut finde ich die Idee, das direkt vor dem Trump-Tower zu tun. Auch wenn ich nicht davon ausgehe, dass dessen Besitzer versteht, was diese Botschaft bedeutet. Ganz ehrlich. Was ist los mit uns Menschen, dass wir überhaupt über so etwas sprechen müssen? Das Deutsche Grundgesetz ist eindeutig: „Die Würde des Menschen ist unantastbar!“ Die Bibel ist eindeutig: „Gott schuf den Menschen nach seinem Bilde und es war sehr gut!“. Selbst die amerikanische Verfassung stellt fest, dass: „… alle Menschen gleich geschaffen sind; dass sie von ihrem Schöpfer mit gewissen unveräußerlichen Rechten ausgestattet sind; dass dazu Leben, Freiheit und das Streben nach Glück gehören.“ Die meisten demokratischen Staaten sehen das von ähnlich bis genauso und doch gibt es diese himmelschreienden anhaltenden Diskussionen, die manche dadurch zu lösen glauben, dass den Uncle Bens-Reis demnächst nicht mehr das Konterfei eines schwarzen Mannes zieren soll. Nein, nicht „Black Lives matter“. Dieser Slogan ist schon im Ansatz falsch, auch wenn ich die Initiatoren sehr gut verstehe. Richtig muss es heißen: „All lives matter!“
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Denn genau das trifft die Wahrheit. Jedes einzelne Leben zählt und ist bedeutungsvoll. Das der Armenier, die nicht nur 1915 einem von der Türkei, den Tätern, immer noch geleugneten Genozid zum Opfer fielen und über 1 Millionen Menschen verloren, sondern die auch in diesen Wochen – von der Weltpresse in ihrer Berichterstattung relativ vernachlässigt – von Aserbaidschan angegriffen werden. Das Leben der Sinti und Roma zählt, von denen von rund 40.000 deutschen und österreichischen erfassten Zugehörigen über 25.000 ermordet wurden. Und von denen insgesamt geschätzte 220.000 bis 500.000 dem an ihnen systematisch geplanten Völkermord durch die Nationalsozialisten zum Opfer fielen. Das Leben der weltweit jährlich rund 57 Millionen Kinder, die abgetrieben werden, zählt. 57 Millionen! Das Leben von Christen zählt, die wegen ihres Glaubens verfolgt, gefoltert und getötet werden. Das Leben von Juden zählt, ebenso wie das von Uiguren, von Nordkoreanern, Muslimen und Aborigines – die Auflistung findet erst ein Ende, wenn wirklich alle genannt sind! All diese Leben haben eines gemeinsam: Sie sind von Gott gewollt, wert- und bedeutungsvoll, einzigartig – und niemand hat das Recht, sich über den anderen zu erheben. Das gilt neben der Frage nach der Volkszugehörigkeit auch für die nach dem Geschlecht. Ein Mann ist nicht wertvoller als eine Frau, eine Frau nicht wichtiger als ein Mann. Dass es zu ständig neuen Kundgebungen der Grundrechte kommen muss, liegt doch nicht daran, dass einzelne Gruppen sich für etwas Besonderes halten, sondern daran, dass ihnen die längst von Gott und dann auch per Gesetz gewährten Rechte im Vollzug schlicht verweigert werden! Warum – um alles in der Welt – warum tun wir das? Ich fürchte, die Gottlosigkeit der modernen Welt wird uns noch alle teuer zu stehen kommen. Und nur um das der Vollständigkeit halber gesagt zu haben: Auch in christlichen Kirchen, die ja den Werten Gottes besonders verbunden sein sollten, kommt es leider zu überwältigend vielen Fehlhaltungen, Manipulation und Machtmissbrauch.
Mit weisem Rat unterwegs
Eine meiner frühen Lehrerinnen, Schwester Magdalene Rodewald, geschätzte 1,60m laufende Energie und gerade 90 Jahre alt geworden, prägte zwei Sätze, die mich seitdem nicht mehr losgelassen haben: „Woanders ist es anders“, sagte sie, und konnte dabei kaum über den Tisch schauen, hinter dem sie saß. Weshalb sie sich immer etwas aufstützte und grinste, wenn sie dann fortfuhr: „Und wenn du es möchtest wie zu Hause, dann bleib zu Hause“. Ich hatte ihre Weisheit immer im Gepäck, egal, wohin ich fuhr. Nach Indien, Brasilien oder in den Iran. Nach Algerien, Simbabwe und in den Sudan. Immer wieder kam ich als Fremder an, immer wieder als Besucher und Lernender, immer wieder wurde ich mit offenen Armen empfangen. Und immer reiste ich dankbar zurück. Dankbar für das, was ich gelernt hatte.
Ich bin dankbar für die Vielfalt, ohne immer gleich nach richtig oder falsch fragen zu wollen. Ich will sie genießen, will aufnehmen, eintauchen und drin baden, die Schönheit vieler Farben reflektierend und vergessend, dass es auch Weiß und Schwarz gibt. Ich bin dankbar für die Freiheit, die mir erlaubt zu denken, zu fühlen und zu sagen, was in mir ist – ohne zuerst darauf zu achten, ob andere mich verstehen und für richtig halten, was sie hören und sehen. Ich bin dankbar für die Offenheit und den Diskurs, denn beide helfen mir, mich zu entwickeln und zu wachsen. Ich bin dankbar für Menschen mit Meinung, denn sie fordern mich heraus. Ich bin dankbar für die Wahrheit, denn es gibt sie wirklich, und sie spielt eine nicht unwesentliche Rolle für die, die gestalten wollen. Ich bin dankbar für die Gesundheit, weil sie leicht ist, und für die Krankheit, weil erst sie mich die Leichtigkeit der Gesundheit lehrt. Ich bin dankbar. Ich bin.
Magazin Herbst 2020
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