Die Kraft des Alltäglichen

Ratgeber

Um zu lernen, wie Dankbarkeit geht und welche Kraft sie hervorbringt, hilft es, Menschen zu beobachten. Aber Achtung: schauen Sie dabei nicht auf solche, die sich über die Fliege an der Wand oder ein Haar in der Suppe aufregen. Schauen Sie auf die anderen. Anett Schubert erzählt, wen sie da im Blick und was sie sich von dieser Person abgeschaut hat.

Frau Than ist etwa 94 Jahre. Ihr genaues Alter weiß sie nicht. Sie weiß nur, wer im gleichen Jahr wie sie geboren wurde. Sie lebt im Norden von Vietnam auf dem Land bei ihrem jüngsten Sohn, dessen Frau, ihrem Enkelsohn und dessen Frau und bald zwei kleinen Kindern, ihren Urenkeln. Vor zwei Jahren ist ihr Mann gestorben, mit dem sie seit ihrem 16. Lebensjahr verheiratet war. Sie besitzt die Kleider, die sie am Leib trägt. Und dann noch ein paar besondere Stücke wie Andenken oder Kleidung für hohe Festtage. Ist sie dankbar? Ich glaube, sie selbst hat sich diese Frage noch nie bewusst gestellt. Frau Than lebt nach der Devise: das Leben ist, wie es ist, und sie muss damit umgehen, wie es kommt. Und es kam an vielen Stellen sehr hart – mit der Machtübernahme von Ho Chi Minh, als ihr Mann ins Gefängnis gesperrt wurde und sie nichts dagegen tun konnte.

Es geht nicht um sie

Doch auch wenn sie sich nicht fragt, ob sie dankbar ist, kennt sie dennoch das Gefühl der Dankbarkeit oder besser gesagt, der Zufriedenheit. Ohne, dass sie es ausspricht, bemerkt man sehr schnell, dass sie froh ist, bei ihren Kindern zu sein, ihren Teil beitragen zu können mit kleinen Hausarbeiten und von der Familie respektiert zu werden. Auf den Urenkel passt sie auf, wenn er schläft. Ihn anzuschauen bringt jedes Mal ein Lächeln auf ihr von vielen Falten gezeichnetes Gesicht. Dankbarkeit und Zufriedenheit sind bei ihr nicht an materielle Dinge wie Geld, Haus oder Ländereien gebunden, sondern spiegeln sich in Beziehungen wider, in der Möglichkeit beizutragen. Auslöser für ihre Zufriedenheit ist, Menschen, die ihr wichtig sind, fröhlich zu sehen. Es geht nicht um sie, sondern um andere Menschen.

Es geht oft nur um Kleines

Ohne es zu ahnen, tut sie, was Inhalt von vielen Dankbarkeitsseminaren, Büchern und Seelsorgegesprächen ist. Sie richtet ihren Blick auf die Dinge im Leben, die sie zufrieden machen und die jeder hat, egal, was in seinem Leben gerade passiert. Manchmal sind das sehr kleine Dinge oder Gesten, aber auf die Größe kommt es ja nicht an. So schafft sie für sich ein gutes Gefühl, das ihr Energie gibt für Herausforderungen des Lebens, und bleibt damit handlungsfähig. Nur so war es ihr vermutlich möglich, nicht zu verzweifeln und sechs Kinder allein groß zu ziehen, eines dieser Kinder zu verlieren und mit einem innerlich gebrochenen Mann nach Jahren im Gefängnis wieder neu zu beginnen und mit den großen gesellschaftlichen Veränderungen in ihrem Land umzugehen.

„Ich glaube, sie selbst hat sich diese Frage noch nie bewusst gestellt. Frau Than lebt nach der Devise: das Leben ist, wie es ist, und sie muss damit umgehen, wie es kommt.“

Es geht darum, hinzuschauen

Ich denke an die kleinen Dinge in meinem Leben. Das leckere Mittagessen und den Spaß mit meiner Großfamilie am letzten Sonntag, an die wunderschönen Sonnenuntergänge der letzten Tage, die putzigen kleinen Katzen, die auf unserem Heuboden herumtollen, an meinen Neffen, der sich freut endlich die Fahrerlaubnis zu machen und an meine Fahrt nach Mosbach, wo ich Freunde treffe, die ich aufgrund der Corona-Krise schon lang nicht mehr gesehen habe. Ich bin dankbar für den Alltag. Die letzten Monate haben bei jedem Veränderungen hinterlassen. Da wurden Entscheidungen in Windeseile getroffen, für die man sonst Monate und Jahre gebraucht hätte oder die gar nicht denkbar gewesen wären. Sehr schnell wurden da für uns neue Realitäten geschaffen. Von vielen höre ich dazu, dass sie sehr froh sind, jetzt in der Krise in Deutschland zu leben. Vorher haben die gleichen Leute oft vieles als nicht gut betrachtet und wollten weg. Wie ich schon sagte, plötzlich ist alles anders. Während der Quarantäne waren wir auf einmal schon für die vielen „kleinen Dinge“ dankbar, die sonst unbemerkt blieben. Was für ein schöner Nebeneffekt einer schlimmen Zeit. 

Frau Than hat nie eine Schule besucht oder sich bewusst Gedanken über Dankbarkeit gemacht, aber so wie ich sie kenne, würde sie immer etwas finden, woran sie sich freuen kann. Wie wär‘s? Hören wir auf nachzudenken und fangen an wahrzunehmen? Ich bin dafür.

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