Der Aufschrei der Seele

Standpunkt

Es gibt viele Fehlhaltungen im Leben, auch geistliche. Da meinen Menschen zum Beispiel bisweilen, eine bestimmte Performance an den Tag legen zu müssen – woher auch immer diese Annahme rührt. Das gilt auch im Blick auf die Dankbarkeit. Eva Dittmann hat sich damit beschäftigt, bringt eine zweite wesentliche Größe ins Gespräch und meint: richtig Klagen tut richtig gut!

Und wieder einmal sitze ich mit gesenktem Kopf vor meinem geistlichen Tagebuch. Tränen tropfen auf die Seite und verwischen die frische Tinte. Mit krakeliger Schrift schreibe ich mir den Schmerz von der Seele. Lass einfach alles raus. Meine Enttäuschung. Meine Trauer. Meine Wut. Meine Verwirrung. Es ist, als hätte sich eine dunkle Wolke über meinem Herzen niedergelassen, die nun alles vernebelt. Die mich hilflos zurücklässt und mir jede Hoffnung nimmt. Ich bin so umtrieben von quälenden Gedanken, so überwältigt von zerreißenden Emotionen, dass einfach alles raus muss. Und so schreie ich mir im Gebet die Seele aus dem Leib. Ja, ich schreie zu Gott. Klage ihn an. „Kotze“ mich so richtig bei ihm aus. Ungefiltert. Unverblümt. Und fast schon unverfroren. 

Mit unserer Klage vor Gott

Vielleicht zuckt der eine oder andere gerade innerlich zusammen und denkt: Darf man wirklich so mit Gott reden, dem König der Welt? Ist dieser Gefühlsausbruch nicht ein Zeichen ihrer fehlenden geistlichen Reife? Macht sie Gott hier nicht zu einem Sündenbock für Dinge, die sie wahrscheinlich selbst verursacht hat? Und vor allem: Was hat das bitte schön in einem Heft über Dankbarkeit zu suchen?

Selbst wenn ich jetzt ein bisschen provokant klinge, möchte ich folgende Behauptung aufstellen: Nur, wenn wir gelernt haben, mit unserer Klage vor Gott zu treten, kann sich wahre Dankbarkeit im Herzen verankern. Klage und Dank schließen sich nicht aus. Ganz im Gegenteil: sie sind zwei Seiten einer Medaille. Sie brauchen einander. Sie befruchten einander. Denn sie erlauben uns, die Komplexität des Lebens wahrzunehmen und geistlich zu verarbeiten. Ja, sie helfen uns, in dieser widersprüchlichen Zeit der Heilsgeschichte zu leben. Die Spannung zwischen dem „schon jetzt“ und „noch nicht“ des Himmelreiches zu navigieren. Denn obwohl wir voller Zuversicht wissen, dass Gottes Reich bereits angebrochen ist, warten wir doch noch immer auf die endgültige Erfüllung all der Verheißungen. Ja, wir leben immer noch in einer gefallenen Welt. Werden immer noch mit Leid und Schmerz und Ungerechtigkeit konfrontiert. Und das können wir nicht einfach ignorieren. 

„Wer nur lobt, ohne zu klagen, verbleibt geistlich in einer Oberflächlichkeit, die oft von einem verzerrten Gottesbild herrührt und das Leid dieser Welt ignoriert.“

Mit der Verzweiflung nicht allein

Und genau für die Momente, in denen uns diese Gebrochenheit der Welt schonungslos vor Augen geführt wird und wir mit den schweren Fragen des Lebens zu kämpfen haben, hat Gott uns eine Liturgie geschenkt: die Klagegebete. Klagegebete helfen uns, diese Kluft zwischen der vom Leid zermürbten Schöpfung und dem Vertrauen in Gottes Souveränität zu überbrücken. Sie geben uns einen Rahmen, durch den wir unseren Schmerz verarbeiten können, damit wir uns freuen können. Sie sind wie ein Pfad, der uns von der Dunkelheit ins Licht, von der Verzweiflung zur Hoffnung, von der Trübsal zur Anbetung führt. Durch das Klagen vor Gott bewältigt man nicht nur die eigene Trauer, sondern lernt auch, Gott inmitten der Stürme des Lebens zu preisen. Nur so können wir Gott wirklich in jeder Lage danken (1.Thess 5,18). Nur so können wir uns freuen, was auch immer geschieht (Phil 4,4). 

Das Buch der Psalmen enthält viele solcher Klagegebete (z.B. Ps 13, 22, 35, 77, 79, 89, 109). Mit mehr als einem Drittel der Psalmen, die sich in dieser ehrlichen Art und Weise mit den ernüchternden Realitäten des Lebens und Sterbens auseinandersetzen, sind Klagegebete die häufigste Gattung in Israels Liederbuch. Immer wieder bringen die Psalmisten – als Individuen oder ganze Gemeinschaft – ihre Klagen vor Gott: die Bedrohung durch Feinde, Krankheit und Tod, Ungerechtigkeit und Unterdrückung, persönliche Herausforderungen und sogar das Gefühl der Abwesenheit Gottes. All das schreien sie im Gebet vor Gott heraus. Und genau dieser Aufschrei der Seele mitten in diesem Durcheinander von Gedanken und Gefühlen ist ein Glaubensschritt. Es ist eine aktive Hinwendung zu Gott, ein unterbewusster Akt des Vertrauens. Denn obwohl Gott mit seiner Güte und Macht so weit weg scheint, richtet sich der Beter doch an ihn, anstatt ihn mit Schweigen zu bestrafen oder einfach vor sich hinzujammern.

„Nur, wenn wir gelernt haben, mit unserer Klage vor Gott zu treten, kann sich wahre Dankbarkeit im Herzen verankern.“

Mit Vertrauen durch die Schlucht

Und damit ist der Beter auf dem Besten weg, Gott anzubeten. Wer vor Gott klagt, bereitet sein Herz darauf vor, ihn voller Inbrunst zu loben und zu preisen. Genau das machen die Klagepsalmen nämlich in ihrem Aufbau deutlich. Hier finden wir immer wieder die gleichen, wiederkehrenden Elemente. Und das spannende ist: Neben der erwarteten Klage und daraus resultierenden Bitte um göttliches Eingreifen, enthält jeder dieser Psalmen ein explizites Vertrauensbekenntnis und ein Lobgelübde. So beginnt zum Beispiel Psalm 13 mit einer hoffnungslosen Anklage gegen Gott: „Wie lange noch, Herr, willst du mich vergessen? Etwa für immer? Wie lange noch willst du dich vor mir verbergen?“ Und obwohl sich die Situation für David in den Minuten seines Gebets keineswegs verändert hat, strahlt doch am Ende seiner konkreten Bitte seine Zuversicht und Dankbarkeit durch (Vers 6): „Doch ich will auf deine Güte vertrauen, von ganzem Herzen will ich jubeln über deine Rettung! Mit meinem Lied will ich dem Herrn danken, weil er mir Gutes erwiesen hat.“ Ja, man begleitet David hier auf einer geistlichen Reise, die ihn inmitten seiner prekären Lebensrealität daran erinnert, dass er einen liebevollen, gerechten und mächtigen Gott an seiner Seite hat. Sein Lobpreis ist hier nicht aufgesetzt – so, als wäre er ein notwendiger Bestandteil eines Bittgebets. Nein, der Akt der Klage selbst versöhnt Davids Herz mit der geistlichen Realität und führt ihn in die Anbetung.

Mit Tränen zum Lob

Und auch wenn meine tränendurchweichten Gebete nicht ganz so poetisch sind wie die der Psalmisten, geht es mir dabei nicht anders. Egal wie hoffnungslos mein Gebet auch angefangen hat, noch nie habe ich diese Zeiten hoffnungslos beendet. Wenn ich meine Klagen vor Gott bringe, bewegt sich etwas in meinem Herzen. Mein Vertrauen wird erneuert und Lob strömt über meine Lippen. Die Ausgangslage mag sich nicht verändert haben, aber mein Herz geht gestärkt aus diesen Gebeten heraus. 

Ja, wir brauchen beides: Lob und Klage. Wer nur lobt, ohne zu klagen, verbleibt geistlich in einer Oberflächlichkeit, die oft von einem verzerrten Gottesbild herrührt und das Leid dieser Welt ignoriert. Wer nur klagt, ohne zu loben, verliert sich in Selbstmitleid, Bitterkeit und Zweifel, die letzten Endes zur Ablehnung Gottes führen. Wer lobt und klagt, vermittelt zwischen den Realitäten des Himmels und der Erde. Lob bringt den Himmel auf die Erde; Klage bringt die Erde vor den Himmel – alles in Vorausschau auf den Tag, an dem Gott sein Reich vollendet und so alles Leid und aller Schmerz für immer vergehen.

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