Warum hast du mich verlassen?

Essay

Wer fragt denn so was? Ein Mann seine Frau? Eine Frau ihre Tochter? Eine Enkelin die heißgeliebte und für das Leben so wichtige Oma am Grab? Schlimmer, wirklich viel schlimmer. Und bedeutsamer. Denn dieser Schrei Jesu durchdringt die Finsternis, die sich mitten am Tag über das Land gelegt hat. Mit letzter Kraft und dem Tode ringend: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ (Matthäus 27,46) Eva Dittmann ordnet ein, was das für uns bedeutet.

So leiderfüllt und weltbewegend! Und doch verhallt dieser Schrei in diesem Moment fast ungehört. Denn die umherstehenden Menschen verstehen ihn einfach nicht. Sie ahnen nichts von der lebensverändernden Bedeutung dieses Augenblicks. Von seiner weltzerreißenden Wirkung und seiner heilsgeschichtlichen Wucht. Für sie war es einfach nur der Schrei eines zum Tode verurteilten Mannes, der seine letzte Hoffnung auf Elia setzt (Matthäus 27,47-49).

Die Bedeutung der Stunde nicht erkannt

Was war das nur für ein seltsamer Tag? Der Tag, an dem sie den Sohn Gottes verhaftet, ausgepeitscht und ans Kreuz genagelt haben. Sie, die geistlichen Leiter des Volkes. Sie, die sich nun stolz auf die Schulter klopfen, weil sie diesen Religionskritiker, diesen Gotteslästerer, diesen Volksaufhetzer nun endlich in die Schranken gewiesen haben. Sie, die jetzt selbstgerecht vor dem Kreuz stehen und Jesus verspotten, weil dieser selbstgerechte Möchtegern-Prophet nun endlich seine gerechte Strafe erhalten hat und sie glauben, Gott in seinem Recht verteidigt zu haben. 

Die Ironie dieses Augenblicks könnte augenscheinlicher nicht sein. Da berufen sich diese selbstgerechten, vor Gott eben nicht gerechten, Leiter des Volkes auf Gottes Gerechtigkeit, um dem einzig gerechten Menschen, der jemals die Erde betreten hat, Ungerechtigkeit vor Gott vorzuwerfen. Dabei sollten sie doch gerade durch ihn, den Sohn Gottes, vor Gott gerecht werden können. Was für eine verzerrte Wahrnehmung der Heilsgeschichte! Oder sollte man besser sagen: Was für eine verkannte Wahrnehmung der Heilsgeschichte?! Denn sie alle – die Pharisäer und Schriftgelehrten, das Volk als Ganzes, Pilatus und seine Männer, ja, selbst Jesu Jünger und die Frauen am Kreuz – sie alle haben die heilsgeschichtliche Bedeutung dieser grausamen Stunde nicht erkannt.

Doch das Problem lag eigentlich noch viel tiefer. Denn genau genommen fehlte ihnen allen auch jegliches Verständnis für die heilsgeschichtliche Notwendigkeit dieses Moments. Ihre Herzen waren zu verblendet, um die geistliche Finsternis wahrzunehmen, in der sie selbst lebten. Ihre eigene Sündhaftigkeit. Ihre eigene Verlorenheit. Ihre eigene Gottverlassenheit. Und genau in diese geistliche Blindheit hinein zerreißt nun dieser Schrei von Jesus am Kreuz die Nacht der Welt: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ Es ist wirklich erstaunlich: Noch am Kreuz will Jesus die Menschen für ein Leben mit Gott gewinnen. Sie aus ihrer geistlichen Lethargie wachrütteln. Sie aus der Gewöhnung an die Sünde herausreißen. Sie aus ihrer harmonisch scheinenden, doch in Wahrheit so zerbrochenen, Wirklichkeit herausholen und sie zum wahren Leben führen. 

Er schreit sich unser aller Seelen aus dem Leib

Denn letzten Endes sind diese klagenden Worte aus Psalm 22 eben nicht nur ein Schrei dieses einen Augenblicks. Ein Schrei des am Kreuz sterbenden Jesus, der seinen Gott ein letztes Mal anruft. Nein, mit diesem Gebet schreit Jesus sich unsere Seelen aus dem Leib. Er drückt durch diesen Schrei den Zustand unserer Herzen aus. Verleiht unserer tiefsitzenden und doch nur selten bewusst wahrgenommenen Verlorenheit, ja, Gottverlassenheit eine Stimme. Es besteht kein Zweifel: Hier am Kreuz stößt der Sohn Gottes den Schrei unseres Lebens aus. Hier am Kreuz kommt es zum Höhepunkt seiner Erniedrigung. Und hier am Kreuz spürt Jesus zum ersten Mal das ganze Ausmaß, die erbarmungslose Grausamkeit der Sünde mit all ihren Konsequenzen. Und so fasst dieser uns so unerträgliche Schrei des Gekreuzigten im Grunde genommen das Drama der ganzen Heilsgeschichte zusammen. Denn der dreieinige Gott überlässt die vom Fluch der Sünde geplagten Menschen nicht ihrem eigenen Schicksal. Ganz im Gegenteil: Er startet eine einzigartige Rettungsaktion. Sein eigener Sohn wird Mensch, tritt in unsere Geschichte hinein und nimmt unsere Schuld auf sich. Ja, er selbst wird zur Sünde (2. Korinther 5,21).

„Es ist der geballte Zorn Gottes, den er am eigenen Leib erfährt. Die bittere, entsetzliche, zerreißende Realität der Sünde. Das unerträgliche Leid der Gottverlassenheit.“

Und jetzt hängt er dort am Kreuz, diesem absoluten, bestialischen Symbol für die geistliche Finsternis und Gefallenheit dieser Welt. Mitten in diesem qualvollen Todeskampf. Er spürt, wie das von Peitschenhieben zerfetzte Fleisch auf dem rauen Holz des Kreuzes scheuert. Spürt, wie die Dornen auf seinem Kopf sich immer weiter in die Haut hineinfressen. Spürt, wie die angenagelten Hände und Füße krampfhaft versuchen, das Gewicht des Körpers zu tragen. Und spürt, wie nach und nach die Kräfte nachlassen, seinen eigenen Brustkorb zu heben, um atmen zu können. Ja, er wartet im Grunde nur noch darauf, dass er endlich erstickt. So ist es im Hinblick auf diese grausame körperliche Dimension des Kreuzestodes umso erstaunlicher, dass es die geistliche Facette ist, die diese Stunde für Jesus unerträglich macht. Es ist der geballte Zorn Gottes, den er am eigenen Leib erfährt. Die bittere, entsetzliche, zerreißende Realität der Sünde. Das unerträgliche Leid der Gottverlassenheit. Hier, an diesem winzig kleinen Punkt im Raum-Zeit-Kontinuum, trägt Jesus die Sünde der ganzen Weltgeschichte. Die Sünde jedes einzelnen Menschen. Und all das, was die Sünde verdient. Was für eine Last! Und was für eine Gottverlassenheit!

Die skandalöse Gnade Gottes

Ja, mit seinem Schrei am Kreuz drückt Jesus seine wirkliche Gottverlassenheit aus. Er hat sich nicht nur von Gott verlassen gefühlt – nein, er war von Gott verlassen. Sein „Warum“ ist nicht die Klage
eines unschuldig Leidenden. Nicht die Bitterkeit eines hoffnungslosen Gottes-zweiflers. Und vor allem nicht der Jubel eines siegessicheren Beters, als ob Jesus eigentlich das Ende des 22. Psalms im Sinn gehabt hat (V. 22-24). 

Nein, es ist wirklich der Schrei der Gottverlassenheit. Gott von Gott verlassen. So paradox und geheimnisumwoben das auch klingen mag. Denn aus theo-logischer Sicht ist auch klar, dass die Einheit des dreieinigen Gottes auch am Kreuz unversehrt geblieben ist, die ewige Gemeinschaft zwischen Vater, Sohn und Heiligem Geist. Die Wirklichkeit und der Sieg des Kreuzes waren das Werk des dreieinen Gottes. 

Wer diesen Schrei wirklich hört, der wird herausgerissen aus der himmel-schreienden Leichtfertigkeit der eigenen Sünde. Wird konfrontiert mit der eigenen Gottverlassenheit. Und staunt über die skandalöse Gnade Gottes, die unser Leben verändern will. Und wenn der Vorhang im Tempel zerrissen ist und die Erde bebt, dann stehen wir anbetend vor dem Kreuz und stimmen mit dem Hauptmann ein: „Dieser Mann war wirklich Gottes Sohn“ (Matthäus 27,54).

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