Niemand hat die Absicht eine Mauer zu errichten

Biografie

Was heute längst Teil unserer neuen Realität ist, hat sich erst wieder neu etablieren müssen. Ganze Generationen mussten sich auseinandersetzen und umdenken, musste sich sortieren und positionieren. Die ganz Jungen stehen vor einer besonderen Herausforderung: „Da war doch mal was, mit ´ner Mauer ...?“ Anett Schubert hat sich mit ihrer Geschichte beschäftigt und mit ihrer Familie gesprochen. Eine ganz persönliche Betrachtung ganz öffentlicher Geschehnisse.

Es war der Abend des 9. November 1989. Mein Vater saß mit meinem Onkel auf einen Plausch bei einem Bier zusammen, als sie die Nachricht hörten. Die Grenze ist offen! Mein Vater sagte sofort: „Das ist das Ende der Republik“, ohne zu ahnen, wie recht er damit hatte.

Sie standen ganz am Anfang des Lebens

„Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten ...“ Diesen Satz äußerte Walter Ulbricht im Frühsommer 1961, und schon zwei Monate später begannen über Nacht massive Bauarbeiten zur Abriegelung zwischen Ost- und West-Berlin sowie der übrigen Grenzlinie von Norden bis in den Süden. Mein Vater hat diese Zeiten als 21-Jähriger erlebt. Für ihn war das Ereignis gefühlt sehr weit weg. Es hatte keinen direkten Einfluss auf seinen normalen Alltag. Was er am 13.08.1961, dem exakten Tag des Mauerbaus, dachte oder tat, weiß er nicht mehr so genau. Meine Mutter hingegen kann sich sehr genau erinnern, was an diesem Tag passierte. Sie und ihre Eltern kamen von der Arbeit am Morgen ins Haus und hörten durch den Radiosender RIAS Berlin, dass eine Mauer in Berlin gebaut wird. Ihre ersten Gedanken waren: „Jetzt haben sie uns wirklich eingesperrt.“ Auch sie war um die zwanzig und stand, wie mein Vater, am Anfang ihres Lebens. Der Gedanke, in den Westen zu gehen, war für beide keine Option. Sie blieben in der DDR. Viele andere gingen ja, und die Mauer sollte das in Zukunft verhindern.

Für die Großeltern, die 1961 Mitte vierzig waren, brachte der Mauerbau und die nachfolgenden politischen Entscheidungen grundlegende Veränderungen mit sich. Ihre Selbstständigkeit als Landwirte mussten sie aufgeben. Schon in den 50er Jahren wurden durch die Regierung der DDR Gesetze erlassen, die zur Zwangskollektivierung 1960 führten. Die nachfolgende Generation musste umlernen.

Man musste gut überlegen, was man sagt

„Wenn man jung ist, sieht man das nicht so dramatisch“, meint mein Vater. Er hat einen weiteren Beruf gelernt und diesen ein Leben lang ausgeübt. Für seine Eltern war es schwieriger die neue Situation zu akzeptieren. Doch die Arbeit wurde leichter und sicherte ihnen eine Rente im Alter. Weggehen war keine Option, aber auf Dauer mit Begrenzung und Einengung umzugehen, forderte alle heraus. Doch sie entschieden, das Beste daraus zu machen, fügten sich ein, nutzten Chancen und Freiräume, die sich boten, und lebten ihr Leben. Das ging mal besser und mal schlechter. Auf die Frage, was Grenzen mit Menschen tun können, antwortet mein Vater sofort: „Sie machen stumpfsinnig. Die Kraft für Entscheidungen geht verloren.“ Und Kinder in einem System großzuziehen, dem man eher kritisch gegenübersteht, war sehr herausfordernd. Wie lebt man Glauben, wie stark lehnt man das System offen ab? Welche Auswirkungen hat das auf meine Kinder? So lebte man in verschiedenen Wahrheiten und Realitäten. Zu Hause wurde offen gesprochen, in der Öffentlichkeit galt es jedoch zu überlegen, was man äußerte, um mit dem politischen System nicht in Konflikt zu geraten. Die Generation der Großeltern hatte erfahren, wie es sich anfühlt, für seine Meinung ins Gefängnis zu kommen und dort zu sterben. Das wollte keiner noch einmal erleben.
    
28 Jahre lebten meine Eltern mit der Grenze, der Anpassung und dem Blick nach dem Westen. Was nach dem Mauerfall passiert, wusste keiner. Ist es besser oder schlechter oder einfach anders? Auf jeden Fall war meinem Vater klar, dass mit der Freiheit die Verantwortung einhergeht. Sie waren 49 Jahre alt und mussten neu lernen und verstehen, wie Leben ohne Mauer weitergeht. Neben der Freude über die neu gewonnene Freiheit kamen schnell auch die Fragen zu Geld, Arbeit und wie sicher das alles sein würde in der Zukunft auf. Meine Mutter verlor ihre Arbeit kurz nach der Wende und mein Vater begann, selbstständig zu arbeiten. Neben Geld ging es um Werte und Identität.
Natürlich kam die Frage auf: „Machen wir dort weiter, wo wir 1960 aufgehört haben, und beginnen unser ganz eigenes Ding noch einmal?“ Nach reiflicher Überlegung entschieden sich meine Eltern dagegen. Zu viel Zeit war vergangen, zu viel hatte sich geändert und zu viele finanzielle Mittel wären nötig gewesen, um eine profitable Landwirtschaft zu beginnen.

„Meine Mutter hingegen kann sich sehr genau erinnern, was an diesem Tag passierte. Sie und ihre Eltern kamen von der Arbeit am Morgen ins Haus und hörten durch das Radio Sender RIAS Berlin, dass eine Mauer in Berlin gebaut wird. Ihre ersten Gedanken waren: „Jetzt haben sie uns wirklich eingesperrt.“

Neuanfang liegt in der Luft

Die Großeltern waren in ihren Siebzigern bis Achtzigern und hatten zum Teil in fünf politischen Systemen gelebt – vom Kaiserreich bis zum demokratischen System der Bundesrepublik. Mein Gefühl war, so schnell konnte sie nichts mehr erschüttern oder auch begeistern, denn sie hatten zum Teil zu viel erlebt, was ihnen weh getan hatte und noch immer schmerzte. Doch auch sie ergriff das Gefühl von Neuanfang, Hoffnung und Möglichkeiten, das überall in der Luft lag, und je nach Gesundheit und Möglichkeit reisten sie zu alten Plätzen, die sie kannten oder wo sie durch den Krieg gewesen waren. Alte Beziehungen lebten auf und es kam oft Besuch von Menschen, die nach dem Krieg für einige Zeit im Haushalt meiner Großeltern gelebt hatten und dann weiterzogen. Es wurden viele Dinge angesprochen, die lange unausgesprochen geblieben waren. Meine Generation stellte mehr und mehr Fragen über die Vergangenheit. Es war eine schöne Zeit als Familie, als Großfamilie mit drei Generationen unter einem Dach diesen Aufbruch zu erleben.

Im November 1989 war ich 20 Jahre alt und bis dahin innerhalb von klar gesteckten Grenzen aufgewachsen. Grenzen überquerte ich lediglich nach Tschechien in vielen Sommerurlauben mit der Familie. Schon weit vor der Grenze durfte nicht gesprochen werden im Auto, da es ja abgehört werden könnte. Wenn die Grenzpolizisten dachten, dass alles ausgepackt werden musste für eine Kontrolle, dann war das so. Selbst die Kinderkoffer wurden auseinandergenommen. Grenze hieß aufpassen, was du sagst und tust, und jeder war froh, wenn es vorbei war.

Gemäß dem Vorbild meiner Familie passte auch ich mich an und machte das Beste daraus. Was genau ich gedacht und gefühlt habe im November 1989, weiß ich nicht mehr konkret, aber klar war, dass sich viel veränderte. Der Gedanke an die neue Freiheit und Veränderung faszinierte mich. Mein erster Besuch in Berlin-Steglitz blieb mir im Gedächtnis. In der U-Bahn standen alle schweigend nebeneinander und lasen oder starrten einfach vor sich hin. Das fand ich seltsam und fremd. Doch es fühlte sich aufregend an. Für mich war durch die Grenzöffnung buchstäblich die Türe aufgegangen. Ich begann, nochmal zu lernen und zu studieren, und lebte in verschiedenen Ländern und Kontinenten. Etwas, was ich nie hätte tun können ohne die Grenzöffnung. Mitte bzw. Ende der Neunziger Jahre, nachdem äußere Grenzen weggefallen waren, bemerkte ich mehr und mehr innere Grenzen und Grenzen an andere Stelle, wo vorher keine Grenze war. Grenzen begannen sich zu verschieben.

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Das Beste daraus machen

Heute, 30 Jahre nach dem Mauerfall, sind meine Eltern knapp 80 Jahre alt und ich bin gerade 50 geworden. Die Großelterngeneration ist gestorben, als Letzte meine Großmutter 2012 mit 95 Jahren. Was ist passiert, seit die Grenze offen ist? Wir stellen fest, dass es gute Zeiten und herausfordernde Zeiten in beiden Systemen gab und gibt. Wir kennen die Welt ein ganzes Stück mehr und haben viele Grenzen überquert, Landesgrenzen wie auch Grenzen der eigenen Vorstellungskraft. Mein Vater fasst es gut zusammen. Aus dem „du musst oder du darfst nicht“ in der DDR ist heute ein „du bist verantwortlich und gefordert loszugehen“ geworden. Grenzen und Begrenzungen gibt es heute wie früher. Der Pragmatismus in unserer Familie, das Beste daraus zu machen, hat uns geholfen, die großen Veränderungen der letzten Jahrzehnte zu bewältigen. Und auch der Familie an sich tat es gut zu wissen, nicht allein zu sein sowie im Glauben den nächsten Schritt zu tun. Es ist die Geschichte unserer Familie aus meiner Sichtweise und meinem Verständnis erzählt.

Es ist mir durchaus bewusst, dass viele Menschen die Ereignisse der letzten Jahrzehnte sehr unterschiedlich erlebt haben. Aktuell ist das Gefühl der Unzufriedenheit bei vielen Menschen sehr stark, was sich in Demonstrationen und neuen Parteien zeigt. Es stimmt, viele Hoffnungen und Erwartungen von 1989 haben sich nicht oder anders als erwartet erfüllt. Viele Dinge, die passiert sind mit der Abwicklung von Unternehmen und dem Staat DDR, sind nicht zum Vorteil der Unternehmen und der DDR gewesen. Doch es ist Vergangenheit und nicht veränderbar.  

Man muss mal drüber reden

Die nächste Generation der Familie kennt die Mauer nicht mehr. Geboren im neuen Jahrtausend, ist die Mauer Geschichtsunterricht und keine erfahrene Realität. Sie sagen mir, ja da war doch diese Ost-gegen-West-Geschichte, na, die Mauer sollte doch schützen. Ich glaube, es wäre gut, mal mit den eigenen Großeltern drüber zu reden. Da gib es doch diesen Song mit der Textzeile „niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten“. Das ist cool, denn keiner hat das Recht, einfach Mauern zu bauen. Wäre interessant, mal darüber zu sprechen, was wir heute tun können, damit es nicht wieder passiert. Was sie nicht gut finden ist, dass es immer noch Unterschiede zwischen Ost und West gibt. Das ist doch jetzt 30 Jahre her. Was sie jedoch positiv wahrnehmen ist die Tatsache, dass alte DDR-Produkte plötzlich wieder Trends setzen wie z. B. die Simson-Mopeds. Natürlich bekommen sie auch mit, dass Eltern oder Großeltern oft über früher sprechen. Besser oder schlechter hängt von eigenen Erlebnissen und Wertungen ab. Die ersten sind erwachsen geworden und haben eine Lehre begonnen und natürlich geht‘s da auch um Geld. Warum verdient man im Westen mehr als im Osten? Eine berechtigte Frage.

Magazin Herbst 2019