Wir wollen alle online sein
Leitartikel
Was ist das Gegenteil von Trends? Konservativismus? Stagnation? Angst? So einfach ist das nicht, meint Detlef Eigenbrodt, der seine innere Ausrichtung immer wieder im Kloster sucht. Da, wo er Bewährtes und Beständiges findet und gleich auf mehrfache Weise online ist. Er weiß, dass die persönliche Haltung das entscheidende Zünglein an der Waage ist.
Was war das für ein großartiger Vormittag! Eingeladen hatte mich eine alte Freundin und wir saßen anlässlich einer Gedenkfeier zum hundertsten Geburtstag Nelson Mandelas nebeneinander im großen Saal der „Carmen Würth Stiftung“. Auf der Bühne das Miagi Jugend Orchester aus Südafrika unter der fachkundigen und leidenschaftlichen Leitung Duncan Wards. Als sie losspielen presst mich die Wucht, Kraft und Energie, mit der die rund achtzig jungen schwarzen, coloured und weißen Frauen und Männer ihre Instrumente beherrschen, in meinen mit rotem Samt bezogenen Sessel. Wahnsinn! Ich habe jede Sekunde genossen: Echte Menschen zaubern mit echter Hingabe und mitreißendem Gefühl ein echtes Erlebnis herbei. Ich merke, ich will mehr davon.
Szenenwechsel. Wir sitzen in der Redaktionskonferenz und diskutieren das Titelbild dieses Magazins. Je länger ich es betrachte, desto deutlicher steht mir vor Augen, was ich längst weiß. Ich bin kein Technik-Freak. Ich finde es zwar irgendwie faszinierend, was Maschinen heute alles tun und erledigen können, aber ich steh‘ nicht so drauf. Ich persönlich bräuchte keinen Roboter für Dinge, die Menschen sonst tun würden. Nicht, weil mir die Möglichkeiten zur Einsparung von Zeit und Geld egal wären, sondern weil ich einfach lieber mit Menschen zu tun habe. Und, ganz nebenbei, für den Arbeitsmarkt wäre es ja eine interessante Revolution, würden Unternehmen auf Gewinn verzichten – der ja meistens in den Chefetagen verteilt wird – und dafür mehr Menschen anstelle von Maschinen beschäftigen. Was der Gesellschaft doch schon irgendwie zugutekäme.
Der, der malt, entscheidet
Ist es ein Phänomen unserer Zeit, dass Menschen bisweilen durch Maschinen ersetzt werden können? Oder war das nicht immer schon irgendwie so und fällt uns nur heute stärker auf? Besonders vielleicht denen, die eben keine „Tekkis“ sind, also keine Technik-Freaks? Die einen sehen hier eine deutlich negative zeitgeistliche Entwicklung, die anderen meinen, man solle den Ball mal flach halten. Wir leben schließlich im Zeitalter der Digitalisierung und da ist eben vieles anders. Worüber wir uns ja, das sei am Rande bemerkt, auch in wesentlichen Teilen freuen. In denen nämlich, die uns genehm sind und die wir selber gern nutzen. Wie schätzen wir es doch, zu jeder Zeit und an jedem Ort vernetzt zu sein. Und wehe, es gibt mal keinen Empfang und wir müssen warten, bis wir Nachrichten lesen oder senden können. Es lebe eben doch der Fortschritt und die Entwicklung. Zeitgeist hin oder her. Wir wollen alle online sein.
Trends gab es immer. Zeitgeistliche Entwicklungen auch. Beide kann man in bunten und hellen Farben malen, oder eben auch in sehr düsteren. Wie die Darstellung ausfällt, entscheidet immer der, der den Pinsel führt. Der Duden definiert den Begriff „Zeitgeist“, der übrigens 1915 erstmals in dem bedeutenden Nachschlagewerk geführt wurde, so: „Eine für eine bestimmte geschichtliche Zeit charakteristische allgemeine Gesinnung, geistige Haltung“, und das Lexikon der Psychologie schreibt: „Zeitgeist, in einer bestimmten Zeit vorherrschende Ausprägung geistiger Orientierungen, Lebensstile und gesellschaftlich geteilter Ideen und Werte.“ Nun wissen wir also, womit wir es zu tun haben. Mit einer Haltung, die zeitlich abgrenzbar ist und die die Kraft hat, die Gesellschaft als solche umzuprägen. Umzuprägen wohl deshalb, weil Trends und zeitgeistliche Erscheinungen wellenartig aufeinander folgen. Was haben wir da nicht schon alles „über uns ergehen lassen“: Von der Erfindung des Buchdrucks 1440 über die des Fernsehers 1930 bis hin zur heutigen, digitalen Revolution. Angst haben müssen wir im Grunde vor keiner davon, wohl aber vor den Menschen, die alle Errungenschaften entweder für ihre eigenen Zwecke nutzen oder gegen die Werte der Gesellschaft einsetzen. Nicht also das, was sich da bewegt und verändert, ist das Problem, sondern der Mensch, der damit umgeht oder eben auch nicht. Viele tun das ausschließlich auf der Grundlage humanistischer Erkenntnisse und Überzeugungen und machen damit den Menschen zum Angelpunkt des Geschehens und Bewertens. Was ich dann in der Tat beunruhigend finde. Denn damit sind wir bei der wohl gefährlichsten aller zeitgeistlichen Errungenschaften angekommen: nämlich der, dass der Mensch entscheiden kann, darf und muss, was richtig ist und was falsch. Nach einer soliden Grundlage für diese wesentlichen Entscheidungen wird allerdings vergeblich gefragt. Wenn überhaupt gefragt wird.
„Ganz ehrlich: das ist der größte Unsinn, den Menschen jemals von sich geben können. Es ist auch völlig unerklärlich, warum Menschen, die Überzeugungen haben, die Wert auf Werte legen, darauf, sich nicht nur allein im Blick zu haben, als negativ konservativ diskreditiert werden.“
Ich hatte Angst, was das bedeutet
Ich erinnere mich gut an eine Zeit, in der ich noch im Gemeindedienst gearbeitet habe. Da wurde ich mit einer Situation konfrontiert, an die ich mit großer Hochachtung zurückdenke und die mir immer wieder hilft, klar zu sehen. Ich wurde, als ich selbst werdender Vater von – soweit wir wussten – gesunden Zwillingen war, zu einer Familie der Gemeinde gerufen. Sie wollten mit mir reden. Ich kannte die Leute, hatte losen Kontakt mit ihnen; wusste, dass sie einen Sohn hatten und das Leben insgesamt manchmal sehr schwer für sie war. Jetzt waren sie erneut schwanger mit der Diagnose, dass ihr Kind mehrfach schwerstbehindert sei. Sie weinten, wir weinten, es ging mir extrem an die Nieren. Dann sagte die Frau zu mir: „Detlef, ich komme doch jetzt schon kaum mit dem Alltag und seinen Herausforderungen zurecht, verzweifle und fürchte, meinem Sohn keine gute Mutter zu sein. Wie kann ich da einem weiteren Kind, einem mit großer Behinderung, gerecht werden?“ Ich konnte gut verstehen, was sie meinte, und begann mich vor ihrer Konsequenz zu fürchten. Was würden die Eltern tun? Warum hatten sie mich gebeten zu kommen? „Ich habe große Angst“, fuhr sie fort, „ich fürchte, kaputt zu gehen, wenn ich das Kind bekomme. Aber was habe ich für eine Wahl? Ich werde dieses Kind, das Gott uns anvertraut hat, nicht umbringen. Alles liegt in Gottes Hand.“ Ja. Alles liegt in Gottes Hand. Wann hatte ich zuletzt in einer so verzweifelten Situation einen solchen Glauben gesehen? Menschen, die sich ohne Wenn und Aber auf Gott verlassen? Diese Eltern taten es im Angesicht ihrer Angst, und wir beteten gemeinsam und im Vertrauen, dass es gut werden würde. Eine Woche später begleitete ich die beiden in die Klinik zu einer Routine-Untersuchung. Als sie aus dem Behandlungszimmer kamen, sagte die Mutter ausdruckslos und tief erschüttert: „Das Baby ist tot. Ich muss jetzt zur Ausschabung.“ Wenig später, ich war umgezogen, hatte eine andere Stelle und so gut wie keinen Kontakt mehr zu dieser Familie, da riefen sie mich an um mir zu sagen: „Wir wollten nur, dass du weißt, dass wir schwanger sind. Mit Zwillingen. Gott gibt uns das Kind, das er uns genommen hat, bevor es geboren wurde, jetzt zurück.“
Noch heute, viele Jahre später, bewegt mich diese Geschichte. Weil ich Menschen erlebt habe, die in tiefster Ehrfurcht vor dem Leben zu einer tonnenschwer wiegenden Entscheidung bereit waren. Die moderne Technik hielt Geräte bereit um die Diagnose der Behinderung zu stellen. Also wussten sie, was auf sie zukommen würde. Das Gesetz hielt einen Ausweg bereit, um sie legal aus dieser Situation herauszubringen. Dauerhaft. Wichtiger für die beiden war aber die Freiheit, die Gott ihnen gab und gibt, eine Entscheidung zu treffen. Eine mutige, eine schwere, aber eine, die auf dem Wert gegründet ist, dass es etwas Größeres im Leben gibt als das eigene Wohlbefinden. Jeder, der sich gegen das Leben entscheidet, könnte sich auch dafür entscheiden, wenn er sich nicht selbst zum Mittelpunkt der Dinge machen würde. Deshalb bewundere ich die beiden. Sie haben sich richtig entschieden.
Wo die Freiheit zuhause ist
Ein Trend ist eine Haltung, die sich in der Gesellschaft einnistet und diese durchdringt. So, dass früher oder später jeder meint, dabei sein zu müssen, mitmachen zu müssen. Die Positionierung für oder gegen den Trend teilt das Lager dann in der Regel in zwei Seiten. Die, die dem Trend folgen, modern sind, unabhängig und nach vorn schauend. Den anderen sagt man gern nach, altbacken und konservativ zu sein, nicht beweglich und rückwärtsgewandt. Ganz ehrlich: das ist der größte Unsinn, den Menschen jemals von sich geben können. Es ist auch völlig unerklärlich, warum Menschen, die Überzeugungen haben, die Wert auf Werte legen, darauf, sich nicht nur allein im Blick zu haben, als negativ konservativ diskreditiert werden. Im Vergleich zu meinen Kindern bin ich eher alt. Das merke ich unter anderem auch daran, dass es mir schwerfällt, bei jeder nur möglichen und unmöglichen Situation das Smartphone in der Hand zu haben. Wenn ich Nachrichten schaue, dann schaue ich Nachrichten. Wenn meine Kinder Nachrichten schauen – Gott sei Dank tun sie das tatsächlich – dann schreiben sie gleichzeitig Nachrichten, posten dies und das und wollen sich möglichst angeregt mit mir unterhalten. Sie sind Kinder ihrer Zeit, ich bin es nicht. Und mit Blick auf Menschen im Alter meiner Eltern stelle ich fest, dass ich doch ganz offensichtlich in weiten Teilen ein supermoderner Mensch bin. Auf das Gegenüber kommt es beim Vergleichen an und auf das, was ich aus dem Leben mache. Wovor ich mich fürchte, warum ich mir Sorgen mache.
Eins jedenfalls ist klar. Ich bin nicht bereit wegzuschauen, auszuweichen, abzuhauen. Ich will nicht so tun, als gäbe es keine Aufgaben mehr, bloß, weil die Mehrheit meint, sich auf etwas einigen zu können, was modern und trendy zu sein hat. Ich bin so frei und höre zu, schaue hin, frage nach und lerne, wo immer ich etwas lernen kann. Aber ich bin ebenfalls so frei, nicht jeder Entwicklung oder Meinung nachzurennen und zu meinen, ich müsse dabei sein. Bis heute komme ich übrigens bestens ohne Facebook und Co. aus, bin dadurch weder vereinsamt noch habe ich Kontakte zu mir wichtigen Menschen verloren. Gleichzeitig freu ich mich für jeden, der diese oder andere Plattformen für sich gewinnbringend nutzt. Schwieriger wird es wohl, wenn es um weniger profane Dinge geht, sondern um entscheidende für die persönliche und gesellschaftliche Entwicklung. Da bietet ein Blick in die Nachrichten aktuell mal wieder allerhand Stoff zum Staunen und Kopfschütteln. Ganz großer Unsinn auf ganz großer Bühne. Aber muss ich deswegen Angst haben? Wohl nur dann, wenn mein Fundament dieser Bezeichnung nicht entspricht, wenn der Grund, auf dem ich stehe, so wackelig ist wie meine sich ständig ändernde Meinung, wenn ich neben mir selbst keine andere Größe im Universum akzeptiere, die ein Recht auf Mitsprache hätte.
Und da wir ja immer alle online sein wollen, um die wichtigen und entscheidenden Entwicklungen, Trends und was auch immer nicht zu verpassen und sekundenschnell zugeschaltet zu sein, hier noch eine Allegorie zum Abschluss: Gott ist real! Gott ist da! Er lässt sich jederzeit von uns erreichen und will gern auch mit uns in Kontakt sein. Immer und überall. Das einzige Empfangsgerät, das wir dazu brauchen, ist uns von Geburt an eingepflanzt und übersteht jeden Test einwandfrei: Unser Herz. Wäre doch schön, wir würden es auf Empfang halten für das Reden und Wirken Gottes, das uns Freiheit schenkt, die Richtung weist und von Angst befreit.
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