Auf dem Weg zu sich selbst
Essay
Er ist in aller Munde: einer der Begriffe, der sich wahrlich als Trend unserer Zeit herauskristallisiert hat: Achtsamkeit. Dabei ist nicht viel Neues daran, im Gegenteil; aber neuentdeckt wurde er wohl. Und damit auch die enorme Auswirkung seiner Umsetzung auf das Wohl des Menschen. Elena Lill hat sich für uns damit beschäftigt.
„Ich wünschte, ich könnte eine halbe Stunde auf der Bank vor meinem Haus sitzen und einmal in Ruhe wahrnehmen, was denn eigentlich gerade passiert“, äußert ein vierfacher Familienvater in meiner Beratungspraxis auf die Frage, was er sich im Augenblick vom Leben wünscht.
Kennen Sie das? Dass der Alltag so voll ist, dass man keine Zeit hat, in Ruhe nachzudenken? Dass ein Termin den anderen jagt und während man das Eine erledigt, schon das Andere im Kopf hat? Wenn Sie sich hier wiederfinden, dann könnte es sein, dass Achtsamkeit ein aktuelles Thema für Sie ist.
Wir leben in einer wirklich herausfordernden Zeit. Wir versuchen, unser Leben gut zu gestalten und das Beste zu gewinnen. Und da gibt es zwei Typen, die diese Herausforderungen unterschiedlich bewältigen.
Die Einen versuchen, alles zu erledigen, was auf der To-do-Liste steht, und nehmen sich selbst und ihre Umgebung gar nicht mehr wahr. Das Problem ist: wenn sie mit der einen To-do-Liste fertig sind, kommt schon die nächste. Die Anderen sind sehr auf sich konzentriert und versuchen, durch Selbstoptimierung bei Ernährung, Fitness, Schlafrhythmus etc. das Beste herauszuholen. Es gibt ganze Internet-Zweige, die sich damit beschäftigen und Apps anbieten, wie man sein Leben optimieren kann. Und vor lauter Beobachten, wie viele Schritte sie am Tag gehen, verpassen sie das Leben und die besonderen Momente im Alltag. Wir werden ständig dazu angehalten, uns zu vergleichen und unter Druck zu setzen, das Optimum zu erreichen.
Das Gute im Blick haben
Was bedeutet Achtsamkeit? Achtsamkeit ist ursprünglich ein Begriff, der aus den fernöstlichen Religionen wie dem Buddhismus und der Meditation stammt. Er fand Mitte des letzten Jahrhunderts Eingang in die Psychotherapie und wird heute in Achtsamkeits-Trainingsprogrammen und achtsamkeitsbasierten Verfahren angewendet, die Menschen helfen sollen, Stress zu reduzieren und mehr Gelassenheit im Leben zu entwickeln. Dabei geht es darum, dem Moment mehr Aufmerksamkeit zu schenken, das innere Gedankenkarussell zu stoppen und wahrzunehmen, was ich gerade tue, wie ich es tue und was ich dabei empfinde. Einige Christen fragen sich jetzt bestimmt: wenn der Begriff Achtsamkeit aus den fernöstlichen Religionen und der Meditation stammt, dürfen wir ihn dann überhaupt benutzen? Paulus hat dazu in 1. Thessalonicher 5,21 gesagt: „Prüft aber alles und das Gute behaltet.“ Jesus hat sich auch immer wieder zurückgezogen, um Abstand zu gewinnen und zu beten.
Der Weg, auf dem wir gehen
In Psalm 139 steht: „Erforsche mich, Gott, und erkenne mein Herz; prüfe mich und erkenne meine Gedanken. Zeige mir, wenn ich auf falschen Wegen gehe, und führe mich den Weg zum ewigen Leben.“ Als Christ ist es wichtig, sich immer wieder Zeit zu nehmen und zu prüfen, auf welchem Weg ich unterwegs bin, was ich gerade tue und ob Gott das so von mir möchte. Achtsamkeit schließt für mich drei Beziehungen ein: Die Beziehung zu mir selbst und meiner Gegenwart, die Beziehung zu anderen und deren Gegenwart und die Beziehung zu Gott. Es geht darum, das Hier und Jetzt mit allen drei Beziehungsebenen ohne schädigenden Einfluss aus der Vergangenheit bewusst wahrzunehmen und zu beschreiben. Manchmal gelingt uns diese urteilsfreie Wahrnehmung nicht, weil Themen der Vergangenheit unsere Wahrnehmung des Hier und Jetzt beeinflussen und trüben. Als Transaktionsanalytikerin in meiner Beratungspraxis frage ich mich: aus welcher Situation kommt jemand? Wie ist sein, wie ist ihr Alltag? Was denkt er oder sie über sich selbst, über andere, über das Leben, über Gott? Was sind die Erfahrungen aus der Vergangenheit und die Schlussfolgerung, die jemand für sein Leben daraus zieht? Was ist das Motiv, warum jemand etwas tut, denkt oder fühlt, und was treibt den Menschen an, um sich besser zu fühlen?
Was wir manchmal so denken
T. Kahler hat fünf Antreiber beschrieben, die erklären, was Menschen tun, wenn sie unter Stress geraten und sich besser fühlen wollen. Die Einen möchten alles perfekt machen, Fehler lösen das Gefühl in ihnen aus, nicht okay zu sein. Andere wollen es allen recht machen. Sie setzen sich sehr unter Druck, dass dies gelingt, und wenn sie Konflikte erleben, fühlen sie sich schlecht. Einige müssen sich immer anstrengen und stark sein. Diesen Menschen fällt es sehr schwer, einen leichten Weg zu gehen oder sich Hilfe zu holen. Manche müssen sich ständig beeilen und alles ganz schnell erledigen. Diese Antreiber haben auch gute Seiten, weil sie uns helfen, erfolgreich zu sein. Aber wenn wir nicht mehr frei entscheiden können, ob wir zum Beispiel etwas perfekt machen oder nicht, stehen wir unter einem enormen Druck, der uns unfrei macht.
Achtsamkeit bedeutet, bewusst wahrzunehmen, was ich jetzt gerade denke und fühle. Dabei ist es wichtig, dieses Wahrnehmen ohne Bewertung zu tun. Gefühle sind ein hilfreiches Instrument und uns von Gott geschenkt, um die Gegenwart zu verstehen. Wenn Sie sich zum Beispiel traurig fühlen, könnte es sein, dass Sie einen Verlust erlebt haben oder erleben, der Ihnen noch gar nicht bewusst ist, oder dass Sie sich von etwas verabschieden müssen, was Sie gar nicht wollen. Wenn Sie Wut empfinden, kann es sein, dass Sie gerade eine Grenzverletzung erleben, die durch eine oder mehrere Personen oder eine Situation ausgelöst wurde. Manchmal kann Angst, die man aktuell empfindet, ein Hinweis auf ein ungelöstes Thema sein. Dieses Thema kann aus der Vergangenheit sein. Da denkt dann einer vielleicht: „Meine Mutter ist gestorben, als ich sechs Jahre alt war, deshalb habe ich jetzt Angst, dass meiner Frau etwas zustößt“. Das Thema kann aber auch in der Zukunft liegen: „Werde ich im Alter finanziell versorgt sein?“ Diese ungelösten Themen haben oft nicht nur mit Angst zu tun, sondern auch mit Wut und Trauer, und sind oft unbewusst.
Gelassenheit und Freiheit
Wenn Sie eine solche Situation erleben, ist es hilfreich eine(n) Freund(in), Seelsorger(in), Berater(in) zu suchen, um die Situation aufzuarbeiten. Wenn Sie das Gefühl von echter Freude empfinden, ist dies ein Zeichen, dass die Gegenwart gut ist. Es ist wichtig, sich Zeit zu nehmen und herauszufinden, was Sie fühlen und was Sie denken. Dabei kommt es darauf an, sich nicht nur von seinen Gefühlen und Gedanken leiten zu lassen, sondern diese zu überprüfen. Manchmal hilft es, mit anderen darüber zu sprechen. Sich selbst wahrzunehmen, kann vielen Menschen helfen, sich besser zu verstehen. Für manche ist es aber nicht so gut, in ständiger Achtsamkeit zu leben, weil diese Achtsamkeit ihre Situation auch verschlechtern kann, zum Beispiel bei Schmerzpatienten oder Menschen mit psychischen Erkrankungen. Deshalb ist es wichtig, dass Sie die Achtsamkeitsübungen so gestalten, dass es Ihnen gut damit geht. Gott ist an Ihnen interessiert, daran, dass es Ihnen gut geht. Sprechen Sie mit ihm über sich. Er hört Ihnen zu, Tag und Nacht.
Gott will uns helfen, dass wir unseren Alltag, uns selbst, und andere bewusst wahrnehmen können. Gott ist es wichtig, dass wir Freiheit und Gelassenheit entwickeln und nicht wie gehetzte Menschen durch unser Leben jagen. Gott will uns diese Gelassenheit und Freiheit schenken. Er möchte nicht, dass wir uns zersorgen und keine Ruhe finden. Er hat uns geschaffen; Sie und ich, wir sind Geschöpfe Gottes und unglaublich wertvoll in seinen Augen. Deshalb können Sie auch lernen, positiv über sich zu denken. Das, was er für uns wollte, ist, dass wir seine Kinder sind. Dass wir befreit und mit Freude leben. Nehmen Sie sich Zeit, das immer wieder in Ihrem Alltag zu entdecken und zu entwickeln. Sie sind es wert.
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