Patriotismus - Darf ich stolz auf Deutschland sein?

Orientierung

Die Frage muss erlaubt sein. Gerade wegen unserer Geschichte. Gerade weil es bisweilen unterschiedliche Annahmen gibt, wer oder was ein Patriot ist und wie man sich als solcher zu verhalten hat. Oder eben auch nicht. Dem Einen sträubt sich alles bei der kausalen Verbindung der Begriffe Patriotismus und Deutschland. Dem Anderen tritt ein Funkeln und Leuchten in die Augen. Andreas Malessa wagt sich an ein heißes Eisen.

Zunächst mal: In der Bibel gibt es das Wort „Patriotismus“ gar nicht. Nur 11 Verse sprechen von „Vaterland“, allerdings, um es zu verlassen (Abraham, Gen 12,1, und Ruth 1, 1-3) oder weil „der Prophet nichts gilt in seinem Vaterland“ (Matthäus 13,57). „Stolz“ ist man im Judentum auf die Erwählung Gottes als religiöse (!) Gemeinschaft. Ein ethnisches oder nationalstaatliches Überlegenheitsgefühl verbietet sich für Jesusjünger. Warum? Weil in Apostelgeschichte 2,9 – 11 nicht weniger als 17 (!) Völker und Volksgruppen genannt werden, die der Predigt des Petrus lauschen und aus denen heraus sich „etwa 3000 Menschen“ bekehrten und taufen ließen (Apostelgeschichte 2, 41). Das heißt: Die Ur-Gemeinde Jesu Christi war vom ersten Tag an eine bunte Multi-Kulti-Truppe.

Gesund oder ungesund. Das ist hier die Frage

Nun setzt die Formulierung „gesunder Patriotismus“ ja voraus, dass es auch einen „ungesunden“ gibt. Ein nationalistischer, kultureller oder gar rassisch begründeter, „ungesunder“ Patriotismus „säubert“ immer erstmal seine Geschichte: AfD-Landeschef Björn Höcke möchte in Berlin bitte kein „Denkmal der Schande“ mehr haben, das ihn an den Holocaust erinnert; Tayyib Erdogan locht jeden ein, der den Völkermord an den Armeniern von 1916 erwähnt. Sowas soll dem „Stolz“ aufs Vaterland dienen, beschädigt ihn aber in Wirklichkeit. Wenn unsere Großeltern von „Hitlers Machtergreifung“ erzählten, dann verschleierte dieser Begriff, dass Hitler ganz legal und demokratisch gewählt wurde. Weil eine überwältigende Mehrheit der Deutschen ihn und sein Programm wollten! Rechtsstaat und Demokratie können also mit ihren eigenen Mitteln zerstört werden, und das erleben wir gerade live: Die glühendsten Patrioten, die „stolz sein wollen auf ihr Land“, sind am ehesten jene Türken, die ihre in Deutschland garantierten Freiheiten dazu benutzen, um diese in der Türkei abzuschaffen. Herr Erdogan hatte schon wenige Tage nach dem rätselhaften Putschversuch vom 15. Juli 2016 eine lange Liste von missliebigen Juristen und Staatsbeamten parat, die er fristlos feuerte.

„Rechtsstaat und Demokratie können mit ihren eigenen Mitteln zerstört werden.“

Journalisten, Schriftsteller und Künstler wurden und werden vorsorglich ins Gefängnis gesteckt. Wegen „Beleidigung des Türkentums“ oder gar „Terrorismus“. In den USA zur Zeit der McCarthy-Kommunistenjagd hieß dieser Vorwurf „unamerikanische Umtriebe“ und trieb Oskar-Preisträger Charlie Chaplin aus dem Land. Abendfüllend könnte man beklagen, wie viele Millionen Menschenleben der mörderische Hurra-Patriotismus der preußischen Kaiser und der Nazis gefordert hat. Vom deutschen Kolonialismus in Afrika und vom Holocaust in Europa ganz zu schweigen. „Patrioten zur Verteidigung des christlichen (!) Abendlands“ nannten sich ausgerechnet jene, die Pogromstimmung gegen Nichtdeutsche schürten, hasserfüllte Drohmärsche als „Abendspaziergang“ verharmlosten und damit, gewollt oder ungewollt, jährlich rund 900 Anschläge auf Flüchtlingsheime achselzuckend tolerierten.

Worüber ich mich wirklich freue

Aber: Darf ich wegen solches offenkundig „ungesunden“ Patriotismus nicht „gesund stolz“ sein auf Hildegard von Bingen, Elisabeth von Thüringen, Albrecht Dürer, Martin Luther, Johann Sebastian Bach, Goethe, Schiller, Gottlieb Daimler, Albert Einstein, Sophie Scholl und Dietrich Bonhoeffer? 

Doch! Ich steige sehr erleichtert in Frankfurt aus dem Flieger, weil elektrisches Licht, sauberes Trinkwasser, Telefon, Internet, öffentlicher Nahverkehr, Notarzt, Krankenhaus und Apotheke, Lebensmittelnachschub und Abwasserentsorgung rund um die Uhr funktionieren. Ich bin stolz auf ein Versicherungs- und Sozialsystem, das im Prinzip niemanden der 82 Millionen Deutschen auf unter 500.– € Mindesteinkommen rutschen lässt. Stolz auf über 60.000 verschiedene Vereine, Stiftungen und private Initiativen, in denen sich mehr als 10 Millionen Deutsche ehrenamtlich für das Gemeinwohl engagieren. Ich bin stolz auf ein tolles Grundgesetz, entstanden unter dem Schock der patriotisch-rassistischen Barbarei, als eine der freiheitlichsten und menschenfreundlichsten Verfassungen der Welt, beginnend mit „in Verantwortung vor Gott und den Menschen…“! 

Unser Gleichgewicht ist intakt

Und auf unsere Gewaltenteilung bin ich stolz: Die Regierung ist gegenüber dem Parlament rechenschaftspflichtig, das Parlament gegenüber der Justiz, und alle drei gegenüber der Öffentlichkeit. Das nennt man Transparenz, Rechtsstaatlichkeit und öffentliche Kontrolle. Weshalb Trump, Kaczynski, Orban & Co ja immer als erstes auf die Justiz und die Medien losgehen. Bei uns ist das Gleichgewicht der „Checks and Balances“ aber noch intakt und garantiert mir ganz persönlich Meinungs-, Versammlungs- und, Achtung, Religionsfreiheit! Ich bin besonders stolz, in einem weltanschaulich neutralen Staat zu leben, der mir (und Muslimen, Hindus, Esoterikern oder Atheisten) nicht vorschreibt, was wir zu glauben, zu lieben und zu hoffen haben. Thron und Altar sind getrennt, aber es gibt eine behutsam ausbalancierte Kooperation zwischen Staat und Kirche, die eines der besten diakonisch-karitativen Versorgungssysteme ermöglicht das es weltweit gibt. Wir sind weder eine Theokratie (wie der Iran) noch ein streng laizistischer Staat (wie Frankreich). Gut so, finde ich.

Der Himmel soll mir werden…

Nichts gegen die Vorfreude auf deutsches Schwarzbrot, Bier und Bundesliga, wenn man nach längerem Auslandsaufenthalt heimkommt. „Heimat“ und „Vaterland“ beschreibt die Bibel aber nicht nostalgisch-romantisch rückwärtsgewandt, sondern als zukunftsoffene, hoffnungsvolle Vision: „Aus Glauben verließ Abraham ohne zu zögern seine Heimat, obwohl er nicht wusste, wohin er kommen würde. Er vertraute Gott…und wartete auf eine Stadt, deren Baumeister und Schöpfer Gott ist. (Hebräer 11, 8 und 10). Kurz: Glaubende suchen ihr „Vaterland“ nicht geografisch und historisch „hinter sich“, in der Erinnerung, Restauration und im kulturellen Rückgriff, sondern „vor sich“ – in der Verheißung auf ein „himmlisches Jerusalem“ nach diesem Leben und dieser Welt. Liederdichter Paul Gerhardt’s geistlicher „Patriotismus“ gefällt mir am besten: „Ich bin ein Gast auf Erden und hab’ hier keinen Stand. Der Himmel soll mir werden. Dort ist mein Vaterland.“

Dort, wo ich ja nicht weniger Geschwister haben kann, als mein himmlischer Vater Kinder hat, ist die ganze multikulturelle Mischpoke vom ersten Pfingstfest aus Apostelgeschichte 2 wieder beisammen. Himmelspatriotisch, glaub’ ich.

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