Den möchte ich als Nachbarn haben!
Essay
Zugegeben. Dieses Zitat, das ein deutscher Politiker über Jerome Boateng machte, haben wir abgewandelt. Es hat seinerzeit für einige Aufregung gesorgt und sicher auch die Frage in den Raum geschleudert: wie kommen wir eigentlich mit einer deutschen Fußballnationalmannschaft der Männer zurecht, in der die meisten gar nicht deutscher Herkunft sind? Hans-Günter Schmidts über die Dialektik eines Phänomens.
8. Juli 2014: Ich bin schon seit zwei Wochen mit einer SRS-Fußballmannschaft in Brasilien zu verschiedensten Missionseinsätzen unterwegs. Am 26. Juni waren wir noch im Stadion in Recife und bejubelten nach dem 1:0 Sieg gegen die USA den Einzug der deutschen Nationalmannschaft ins Achtelfinale. Dann sitzen wir am Flughafen, bereit nach Hause zu reisen, und sind begeistert, dass überall das Halbfinale Brasilien – Deutschland übertragen wird. Wir können es kaum glauben: nach nur einer halben Stunde führt Deutschland 5:0! Und das gegen den Gastgeber und Mitfavoriten. Wir liegen uns jubelnd in den Armen, und neben uns tun die Brasilianer weinend dasselbe. Doch kein Wort, keine Geste der Wut, des Zorns oder gar des Hasses auf uns. Im Gegenteil. In die große Enttäuschung der Brasilianer mischt sich die Bewunderung und Faszination für das deutsche Spiel. Fünf Tage später schauen sich in unserem Sportzentrum in Altenkirchen etwa 1000 Menschen das Endspiel an. Als Mario Götze in der 113. Minute das 1:0 schießt, kennt der Jubel keine Grenzen. Wenige Minuten darauf hat Deutschland den vierten Stern, ist nach 1954, 1974 und 1990 zum vierten Mal Fußball-Weltmeister. Die live Übertragung in der ARD bricht alle Rekorde: 35 Millionen Deutsche haben das Endspiel am Fernseher oder beim public viewing verfolgt. Gemeinsam bejubeln wir stolz unsere Jungs: Manuel Neuer, Jérome Boateng, Basti Schweinsteiger, Mesut Özil, Sami Khedira, Lukas Podolski, Miroslav Klose und alle anderen WM Helden.
Deutschland? Mein Land!
Ein Jahr später: Die Flüchtlingswelle erreicht einen brutalen Höhepunkt. Zehntausende von Syrern, Afghanen oder Irakern haben nach unglaublichem Leid, Krieg und Terror endlich das rettende Europa erreicht. Sie werden entsprechend der UN-Flüchtlingskonvention versorgt. Aber nicht überall. Denn plötzlich stoppt Ungarn, trotz vorher gemachter Zusagen, die Aufnahme. Familien und Kinder liegen auf der Straße: ohne Nahrung, ohne Hilfe, ohne Perspektive. Österreich und Deutschland entscheiden sich nach Abstimmung aller Regierungsparteien zur Soforthilfe. Viele Deutsche packen beherzt zu und engagieren sich in einer bisher nicht bekannten Willkommenskultur. Und wieder bin ich stolz auf „mein Deutschland“. Eben noch auf unsere Männer, die den Titel nach Hause brachten und das Volk, das sie dafür bejubelt hat. Jetzt auf die Politiker, die mutig und nach biblischen Prinzipien entscheiden und das Volk, das sich einsetzt. Viele Kirchen und christliche Gemeinden helfen in Not geratenen Menschen bis zur Grenze der eigenen Kraft und Möglichkeiten. Deutschland? Das ist mein Land!
Von Stolz und Scham erfüllt
Doch nur wenige Wochen später mischt sich ein anderer Ton in die täglichen Meldungen. Immer mehr Deutsche rufen den geschundenen und verängstigen Geflüchteten plötzlich laut und brutal „raus“, „abschieben“ oder „eigene Interessen in den Vordergrund stellen“ zu. Sie begründen das mit nationaler Identität und scheinbar deutschen Werten. Ich bin entsetzt und schäme mich für mein Land. Die gleichen, die den deutschen Spielern mit ausländischen Wurzeln eben noch begeistert zugejubelt haben, beleidigen und bekämpfen jetzt Menschen anderer Herkunft und Kultur. Es scheint so, als wäre der Migrationshintergrund dann kein Problem - und die Menschen gut genug und herzlich willkommen - wenn sie uns zum Triumpf verhelfen. Aber wehe sie wären in Not und bräuchten unsere Hilfe. Abscheulich, dieses Verhalten! Der AfD-Politiker Gauland bringt dann mit einem lapidaren Zitat auf den Punkt, was er wohl für die scheinbare Stimmung im Land hält, als er sagt: „Ich möchte Boateng nicht als Nachbarn haben“. –Daraufhin stimmen die einen begeistert zu, die anderen schütteln angewidert den Kopf und sagen: „Ich möchte lieber Herrn Gauland nicht als Nachbarn haben!“ Die Diskussion nimmt Fahrt auf. „Wie deutsch soll Deutschland sein?“ Die genannten Fußball-Nationalspieler sind selbstverständlich allesamt deutsche Staatsbürger, sonst dürften sie gar nicht für Deutschland spielen. Aber das wissen viele vermutlich gar nicht, weil es ihnen nicht so sehr um Fakten und Wahrheiten geht. Wesentlich scheint ihnen nur zu sein, dass da Menschen sind die türkische, afrikanische oder polnische Wurzeln und Vorfahren haben.
„Ich bin zutiefst dankbar, in einem Land mit demokratischen Rahmenbedingungen leben zu können, wie sie mir und uns gegeben sind.“
Was geht mich das an?
Neulich sagte mir jemand nach einem Gottesdienst mit Blick auf die Flüchtlingssituation: „Wir in Deutschland, wir leben ja wenigstens noch nach den zehn Geboten.“ Ich dachte, ich höre nicht richtig! Davon merke und erlebe allerdings recht wenig, obwohl ich viel in Deutschland unterwegs bin. Und ich kann mir nicht vorstellen, dass es in der Gesellschaft nicht sichtbar würde, wenn wir tatsächlich nach den Vorgaben der 10 Gebote lebten. Dabei stünde es uns gut an. Es gilt mir als große Verantwortung, für christliche Werte einzutreten. Darüber hinaus ist es mir wichtig, die Verantwortung der Verkündigung ernst zu nehmen, Menschen in Not zu helfen und das Salz und Licht-Prinzip des Neuen Testaments zu leben. Ich möchte das umsetzen, was uns als Christen aufgetragen ist: über den großen Nutzen und Gewinn von Gottes Geboten und deren Orientierung für unsere ganze Gesellschaft zu sprechen. Die Frage, ob die Leistungsträger in Deutschland von ihrer Herkunft her deutsch sein müssen, ist im Grunde falsch und biblisch betrachtet abwegig. Ob es anständig ist, ihnen in einem Moment zuzujubeln und im nächsten die Tür vor der Nase zuzuknallen, auch. Die Antwort auf beide Fragen ist zu klar, als dass man wirklich darüber reden müsste. Die größere Not habe ich eigentlich eher mit der Haltung diverser Deutscher, die einen Exklusivismus fordern. Deutschen, deren Werte verrutscht sind oder sich gleich ganz in Wohlgefallen aufgelöst haben.
Ich bin zutiefst dankbar, in einem Land mit demokratischen Rahmenbedingungen leben zu können, wie sie mir und uns gegeben sind. Ich bin dankbar für das Recht und Vorrecht, wählen zu dürfen, mitgestalten zu können. Dieses Recht ist auch Verantwortung, und als Christ will ich meine Stimme erheben. Nicht zum Meckern und Verurteilen, sondern zur Hilfe und zur Veränderung. Das entspricht dem Auftrag Jesu, und ich freue mich über jeden, der sich fröhlich und mutig an der Umsetzung beteiligt.
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