Was hab ich denn erwartet?
Essay
Detlef Eigenbrodt nimmt Sie mit auf eine ganz besondere Reise und gibt Ihnen Einblick in eine ganz besondere Wahrheit. Nicht, dass es immer leicht wäre, die zu erkennen. Oder zu beherzigen. Auf jeden Fall aber ist es gut, wenn man auf dem Weg ist und bleibt.
Ich sitze im Flieger und schließe die Augen. Hinter mir liegen fünf wunderbare Tage an der türkischen Riviera. Sonne pur und um die 40° Celsius. Jeden Tag. Viel Zeit zum Lesen. Zum Nachdenken. Zum Reden. Zur regelmäßigen Erfrischung ab in den Pool. Als Ausgleich zum guten Essen ab in den Fitnessraum. Zur Entspannung in die Sauna, das Hammam und auf die Massageliege. Einfach großartig. An meiner Seite? Mein jetzt erwachsener Sohn, der in wenigen Tagen das Haus für vermutlich immer verlassen wird. Jedenfalls als dauerhafter Mitbewohner. Einmal wollt ich noch mit ihm allein sein, Zeit haben, gemeinsam etwas Besonderes erleben und ausgiebig über die vergangenen Jahre reden. Abschließen. Aufschließen. Anschließen.
Als ich diesen Kurztrip ausgesucht und gebucht habe, hatte ich eine bestimmte Vorstellung davon, wie diese Zeit werden und was sie für uns bedeuten sollte. Ich wollte nicht einfach nur in der Sonne liegen, essen und Cocktails schlürfen. Ich wollte etwas Bedeutungsschweres und Dauerhaftes schaffen, etwas, das uns weit über die räumliche Trennung hinweg auf ewig als schöne Erinnerung verbindet. Ich hatte Erwartungen, und das nicht zu knapp. Aber natürlich war ich sicher, dass ich auch nicht zu viel erwartete. Wie denn auch. Ich hatte ja alles sauber durchdacht.
„Bemerkenswert, wie schnell man sich doch im eigenen Kopf verirren kann.“
Nur hatte ich eben nicht bedacht, dass mein Sohn nicht automatisch mitspielt bei dem, was ich als ideelles Programm zurechtgelegt hatte. Nicht mitspielt und vor allem auch gar nicht mitspielen muss. Er hatte nämlich durchaus so seine eigenen Vorstellungen. Und die schlossen zwar ein, sich immer mal wieder auch mit mir zu unterhalten. Was mich allerdings nicht dazu verleiten sollte anzunehmen, wir würden lange und intensive Gespräche führen. Schließlich hatte er sein Smartphone dabei und darauf so allerhand Unterhaltsames. Spiele. Musik. Mehr Spiele und noch mehr Musik. Was ein junger Mann eben so braucht. Und so ein Ohrhörer kann einen ja auch mal ganz ausgezeichnet von der Umwelt – und dem sich unterhalten wollenden Vater – abschotten. Ja, das funktioniert ganz gut. Damit hat man dann nicht nur seine Musik, sondern nebenbei auch noch seine Ruhe.
Manchmal fand ich das dann ziemlich doof. Weil ich nicht meine Ruhe wollte, sondern meinen Sohn. Ich wollte hören, mit welchem Gefühl er zurückschaut auf seine Zeit daheim, wie er nach vorn schaut auf das, was kommt. Wollte hören, ob es irgendetwas gibt, das nicht in Ordnung ist. Das ich als Erzeuger und Erzieher gründlich falsch gemacht und damit die Pflicht hab, wieder in Ordnung zu bringen. Wollte Absolution für meine Fehler. Wollte ihn nicht im Unguten gehen lassen. Wie gesagt, ich hatte meine Erwartungen und war frei jeglicher Freiheit, mich anzupassen.
Jetzt muss man ein wenig meinen Sohn – und vermutlich auch mich selbst – kennen, um die besondere Atmosphäre zwischen uns empfinden zu können. Wir lagen nämlich manchmal nebeneinander auf unseren Liegen in der Sonne. Gespräche klangen dann etwa so: „Kannst du mir mal eben den Rücken eincremen?“ oder „Bist du nicht jetzt an der Reihe, was zu trinken zu holen?“ Nicht allzu ergiebig? Ja, dachte ich auch zunächst. Bis ich begriff, dass ich mich irrte. Es gab nämlich offenbar gar nichts zu reden und so waren die „Ich geh gleich in den Fitnessraum, kommst du mit?“-Konversationen richtig lang ausufernde Unterhaltungen.
Die zufriedene Schweigsamkeit meines Sprosses ließ mir plötzlich ausreichend Zeit, gedanklich selbst auf die Reise zu gehen. Mich mit meinen Erwartungen an ihn auseinanderzusetzen. Mit dem Grund, den ich meinte zu haben, auf dem sie gediehen. Wie wohltuend. Nicht so von mir geplant. Nicht beabsichtigt, aber als lehrreiche Lektion ankommend. Bemerkenswert, wie schnell man sich doch im eigenen Kopf verirren kann. Wie gut, wenn man einen Sohn hat, der einen da wieder auf die richtige Spur bringt.
Als Erstes wurde mir dann dies klar: Mein Sohn, in den ich so viel Zeit und Energie investiert habe, ist mir gar nichts schuldig. Er hat keine Pflicht, meine Erwartungen zu erfüllen. Schon gleich gar nicht, wenn er sie nicht mal kennt. Er muss nicht sein, wie ich möchte, dass er ist. Er ist er. Und ich bin begeistert, wenn ich an ihn denke. Sein nicht oder nur sehr knapp auf meine Erwartungen nach intensiver Unterhaltung eingehen, hat viel weniger mit ihm als viel mehr mit mir zu tun. Ich hatte schlicht eine nicht angebrachte Erwartung und es war an mir, mich umzustellen. Und wie ich so im Flieger sitze und zurückblicke fällt mir auf, wieviel wir geredet, gelacht, gealbert haben. Ausgelassen waren wir, unbeschwert. Völlig dem Wissen ergeben, dass tatsächlich alles in Ordnung ist und jeder Versuch, ein „Gespräch“ zu kreieren die Gefahr in sich bergen würde, das kaputt zu machen. Herrlich.
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Als Zweites wurde mir klar: Ich hatte nicht wirklich darüber nachgedacht, welche Erwartungen mein Großer mit auf die Reise nahm. Mir ging’s um mich, wo es mir um ihn oder um uns hätte gehen sollen. Meine Erwartungen sind nicht automatisch gut und richtig, weil sie von mir kommen. Sie sind ebenfalls nicht einfach nur falsch und überzogen, weil er sie grad nicht erfüllen will. So funktioniert das nun mal in gesunden Beziehungen. Man redet, oder man redet auch nicht. Solange die Herzen denselben Beat wummern, ist alles gut. Zum Beispiel, wenn er mir gerade, wenn ich lese, einen seiner beiden Ohrstöpsel ins Ohr pfropft, aufdreht und mich fragt, wie ich den Song finde. Jeder von uns hat ein Recht auf seine Erwartung und auch die Freiheit, dem anderen darin nicht zu entsprechen. Wie oft schon habe ich Menschen getroffen, die genau an diesem Punkt beziehungsunfähig wurden. Sie konnten nicht damit umgehen, dass der andere nicht ihrem Ideal entsprechen wollte oder konnte. Das Problem liegt dabei eindeutig bei dem, der sein ausgeprägtes Ideal in sich trägt und dem anderen nicht den Raum lässt, er selbst zu sein. Danke, mein Sohn. Ich hab’s verstanden.
Als Drittes wurde mir die Dimension meiner eigenen Beziehung zu Gott, meinem himmlischen Vater, klar. Auch der hat Erwartungen an mich und ich an ihn. Auch wir beide enttäuschen einander. Er mich, weil er nicht tut, was ich will. Oder was ich denke, das er tun könnte. Zum Beispiel, weil er Menschen, die mir oder meiner Familie viel bedeuten, nicht vom Krebs befreit. Und ich ihn, weil ich mich so oft nicht so verhalte, wie er weiß, dass es gut für mich und meine Entwicklung wäre. Aber wirft er mich deswegen von der Sonnenliege und bringt mir nichts mehr zu trinken mit? Nein. Tut er nicht. Er lehnt sich zurück, mal mehr und mal weniger entspannt, und wartet, bis ich die Ohrstöpsel rausnehme und zuhöre. Nicht, weil ich müsste, sondern weil ich möchte. Nicht, weil da ein unterschwelliger Druck ist, sondern weil Freiheit herrscht. Die Freiheit, den eigenen Erwartungen und denen anderer nicht wehrlos ausgeliefert zu sein.
Magazin Herbst 2016
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