„Bin ich noch normal?“
Warum es beim Christsein um mehr als Gefühle geht
„Ist das noch normal?“ Susanna legte ihren Kopf schief, zog eine Grimasse und sah mich mit ihrem braungebrannten Gesicht an. Sie wirkte traurig und frustriert. Das war keine intellektuelle Frage, die sie uns stellte. Dieses Thema betraf ihre Existenz. Es brannte ihr unter den Nägeln. In der letzten Zeit hatten ihre Gefühle verrückt gespielt. Sie befand sich in einem negativen Strudel – sie fühlte sich unzufrieden, geistlich ausgehungert, zweifelte an ihrem Verstand. Sie blickte zum Ventilator, der an der Decke rotierte, dann zu ihrem Ehemann, der neben ihr auf dem Sofa saß, und dann wieder quer durch den Raum zu mir in meinem Schaukelstuhl aus Kiefernholz.
„Ist das normal, dass ein Christ sich so fühlt?“ Susanna war gekommen, um mit mir und meiner Frau zu sprechen, weil sie es nicht mehr aushielt. Sie war es leid, dagegen anzukämpfen, dass sie sich nicht „heilig“ fühlte. Und sie war ziemlich überrascht, als ich – ein Pastor! – ihr entgegnete, dass ich sie gut verstehen konnte.
Unabhängig von Susannas Lebensumständen weiß ich, dass wir alle in der gleichen zerrissenen, häufig finsteren Welt leben, einer Welt, die durchdrungen ist von negativen Einflüssen und Dummheiten, die in unser Leben kriechen wie Nacktschnecken, die nach einem Frühlingsregen auf den Gehwegen ihre Schleimspur hinterlassen. Eine ähnliche Spur zog sich übrigens schon vor langer Zeit aus dem Garten Eden heraus und hinterließ in unserer gesamten Welt sichtbare Zeichen. Seitdem die Menschheit auf eigene Rechnung unterwegs ist, seitdem Sünde real ist und uns das Böse wie ein schmieriger Film überzieht, ist es normal, dass wir Enttäuschung, Frustration, Versagensängste und Wüstenzeiten im Leben durchmachen. Sollten Christen da eine Ausnahme sein?
Ich liebe Jesus und seine Botschaft der Erlösung von ganzem Herzen. Ich liebe seine Worte nicht nur, ich versuche auch, danach zu handeln, und ich würde das auch tun, wenn ich kein Pastor wäre. Aber ich habe auch so meine eigenen Probleme mit negativen Empfindungen und meiner Dummheit, mit Unzufriedenheit und Entmutigung. Ich kämpfe gegen die magische Anziehungskraft ähnlicher Versuchungen wie Susanna und gegen immer gleiche Sünden. Und wenn Sie mich das Gleiche fragen würden wie Susanna, würde ich Ihnen antworten: „Ja, ich glaube, das ist irgendwie normal!“
Was ist normal?
Was ist „normales Christsein“? In der Bibel lesen wir viel über Glaubensaspekte und Handlungen, die wir wohl alle unterschreiben würden, wenn wir ein christliches Leben charakterisieren sollten. Zum Beispiel: Selbstbeherrschung bewahren, ehrlich sein, zuverlässig sein. Es wäre „unnormal“ für einen Christen zu stehlen, zu betrügen oder zu lügen. Nicht, dass das nicht „passieren“ kann, aber wenn, dann würde das sicher nicht als normales christliches Verhalten angesehen werden.
Genauso ist es normal und der Kern des Ganzen, dass alle Christen an Jesus Christus glauben. Es wäre total abwegig, sich ein Christentum ohne Jesus vorzustellen. Das widerspricht sich schon an sich. Im allgemeinen Verständnis gehören zu einem „normalen Christenleben“ unter anderem die Hingabe an Jesus Christus, Gebet, Einklang mit Gottes Wort und Wille, die Ausprägung guter Charaktereigenschaften und gute Taten. Selbst Menschen, die keiner Kirchengemeinde angehören, beurteilen Christen normalerweise nach diesen Kriterien.
Kann also jemand wie Susanna, die an bestimmten Schwächen ihres Glaubenslebens so sehr leidet, sich trotzdem als „normaler Christ“ verstehen? Wie gesagt: Sie litt an ihren Zweifeln, mochte ihre bittere Haltung und lustlose Hingabe selber nicht. Und sie gab sich nicht damit zufrieden, sondern suchte das Gespräch mit mir. Sie wollte wirklich dagegen ankämpfen anstatt einfach aufzugeben. Als sie mich allerdings fragte, ob ihre Stimmungen normal für einen Christen seien und ich dies bejahte – habe ich da wirklich als guter christlicher Ratgeber geantwortet oder bin ich selbst nur einen faulen Kompromiss eingegangen?
„Niemand sollte die ehrlichen und tatsächlich auftretenden Kämpfe verleugnen, die wir selbst als authentische Christen erleben können.“
Haben Sie auch ein Leck?
Für viele gilt Dwight L. Moody als ein Vorbild des Glaubens. Der bekannte Prediger des 19. Jahrhunderts wurde einmal gefragt, ob er vom Heiligen Geist erfüllt sei. „Ja“, sagte Moody, „aber ich habe ein Leck.“ Viele der Christen, die ich bewundere, würden das für sich selber auch so sagen können. Das sind keine gebrochenen Leute, sondern wirkliche Vorbilder, Menschen, die ihren Glauben leben, mit einem guten Charakter, die sich engagieren, die „Frucht hervorbringen, die bleibt“. Sie sind ein Zeugnis dafür, dass Gottes Geist in ihnen lebendig ist, und trotzdem geben sie unumwunden zu, dass sie auch wunde Punkte im Leben haben, versagen – „ein Leck haben“.
Stellen Sie sich mal ein Auto vor, das Öl verliert. Die vielen glänzenden schwarzen Pfützen auf Parkplätzen oder in der Garage belegen, dass mit dem Motor etwas nicht stimmt. Mit der Zeit nutzen sich die Dichtungen eines Motors aufgrund der großen Hitze ab und irgendwann läuft Öl aus. „Ganz normaler Verschleiß“, heißt es dann, aber der Motor braucht das Öl, um richtig zu funktionieren. Ohne Öl werden die Kolben nicht geschmiert und die Zylinder gehen kaputt. Die Folge: Motorschaden. Wenn also Öl ausläuft, muss das Leck schnellstens repariert werden, weil sonst der Motor komplett kaputt geht.
Der Heilige Geist ist keine Flüssigkeit in unserem Inneren wie Öl in einem Motor (auch wenn das Wort Öl in der Bibel häufig als Symbol für den Heiligen Geist steht). Vielmehr ist der Heilige Geist eine Person, zu der wir eine Beziehung aufbauen können. Wenn wir also hier von einem „Leck“ sprechen, bedeutet das nicht, dass der Heilige Geist irgendwie durch die Poren unserer Haut austritt. Vielmehr geht es um die Erkenntnis, dass unser Leben in einer gefallenen Welt unsere Beziehung zu Gott immer wieder auf die Probe stellt, herausfordert und manchmal auch verschleißen kann.
Wie beim Automotor ist meine Persönlichkeit – mit Herz, Seele und Verstand – täglich neu der enormen Hitze der Herausforderungen dieser Welt ausgesetzt (1. Johannesbrief 2,16). Wenn ein Bedürfnis von mir oder ein Verlangen nicht erfüllt wird, zermürbt mich das und ich bekomme „Risse“. Daraus quillt das Öl der Frustration oder sogar der Bitterkeit hervor. Ein Tropfen von Unzufriedenheit hinterlässt hässliche Pfützen des Grollens und der Anklage gegenüber Gott. Stolz tritt hervor und zerstört alles, mit dem er in Berührung kommt. Ich habe ein Leck, ich laufe aus.
Ich bin oft pflichtvergessen
Als ich noch jung im Glauben war, haben diese Kämpfe die gleiche Art inneren Konflikt in mir ausgelöst wie Susanna sie beschreibt. In meiner evangelikal geprägten Umgebung wusste ich schon als Kind, dass „normales“ christliches Leben oft in schillernden Worten definiert wird, die sich natürlich alle biblisch begründen lassen: „Sieg über Sünde“, „Leben in Heiligung“, „vollkommene Liebe“ und „Hingabe an andere“, „vollmächtiges Zeugnis“, „anhaltende Freude“, „tiefer Friede“ und so weiter. Christen denken zumindest öffentlich häufig mehr über Fortschritte und Sieg im Glauben nach als über Rückschritte und Niederlagen.
Allerdings scheint – und das klingt wie eine dieser Paradoxien, für die das Christentum bekannt ist – geistliches Wachstum mit einer geschärften Sicht für die eigene Sünde und Fehlbarkeit einherzugehen. Auch Paulus war sich am Ende seines Lebens seiner eigenen Schwächen sehr bewusst und überdrüssig und sehnte den Tag herbei, an dem er endgültig und für immer frei davon sein würde (1. Tim 4, 6-8). Das geht mir genauso. Aber jetzt bin ich eben noch umgeben von Zweifeln, Angst und Stolz, was in der molekularen Struktur meines Glaubens eine Reibung verursacht zwischen Wunsch und Wirklichkeit.
Das Entscheidende ist, dass niemand Ungehorsam gegenüber Gott, Mittelmäßigkeit oder Unreife bagatellisieren oder entschuldigen sollte. Ich mache das natürlich nicht. Aber genauso sollte niemand die ehrlichen und tatsächlich auftretenden Kämpfe verleugnen, die wir selbst als authentische Christen erleben können.
Hätte Susanna ihre Frage etwas anders gestellt: „Ist es in Ordnung, wenn ich diese negative Haltung aufrechterhalte?“, dann hätte ich mit „nein“ geantwortet. Eine solche Frage wäre genauso, als ob ich fragen würde, ob es in Ordnung ist, das Wasser in der städtischen Kläranlage ungereinigt zu lassen, anstatt es aufzubereiten. Aber Susannas Kämpfe zu erkennen und sogar als normal zu bezeichnen heißt eben noch lange nicht, eine laxe Haltung gut zu heißen. Es geht vielmehr darum, eine Spannung wahrzunehmen, die schon in der Bibel erkannt wird. Paulus schreibt, dass wir Gott unsere Glieder als „Werkzeuge der Gerechtigkeit“ (Römer 6, 13) zur Verfügung stellen sollen. Und gleichzeitig lebt jeder von uns noch in einem vergänglichen und anfälligen „Körper des Todes“ (Römer 7, 24). Der Psalmdichter David schrieb, dass sich der Herr „erbarmt über die, die ihn fürchten“ und dass Gott gleichzeitig weiß, dass „wir Staub sind“. (Psalm 103, 13+14). Und Jesus sagte: „Der Geist ist willig, aber das Fleisch ist schwach.“ (Matthäus 26,41).
Diese Erkenntnisse sind wichtig, weil sie unseren Selbstbetrug und unsere Ausreden aufdecken. Selbstbetrug bedeutet, dass ich höher von mir denke als ich sollte (Römer 12,2). Ich habe die Neigung, in Selbsttäuschung zu verfallen, wenn ich das vergesse, oder wie J. J. Packers es formuliert: „Heilige Menschen rühmen sich nicht ihrer Heiligkeit, sondern des Kreuzes Christi; denn der heiligste Heilige ist nicht mehr als ein gerechtfertigter Sünder und sieht sich auch nie als etwas anderes.“
Wie schnell habe ich Ausreden parat, wenn ich vergesse, dass auch ich nur ein gerechtfertigter Sünder bin. Paulus schrieb: „Solange ihr noch auf der Erde lebt, lasst euch nicht von menschlichen Leidenschaften, sondern von Gottes Willen leiten.“ (1.Petrus 4,2). Meine menschlichen Leidenschaften sind real, ich sollte das im Blick behalten und mich gegebenenfalls mit aller Kraft gegen sie wehren. Die vielen „Tu das nicht!“-Imperative in den neutestamentlichen Briefen der Bibel sprechen eine deutliche Sprache.
„Wie oft bin ich pflichtvergessen“, gab schon Robert Robinson in seiner wunderbaren Hymne des 18. Jahrhunderts („Komm du Quelle jedes Segens“) zu. Es ist eine Hymne für ein ganz normales Leben als Christ in einer gefallenen Welt.
O könnt ich es nur ermessen, wie groß täglich meine Schuld, wie so oft ich pflichtvergessen, wie du trotzdem hast Geduld! Nein, verlassen könnt ich immer dich, du gnadenreicher Hort, dir gehört mein Herz für immer, wo ich bin, an jedem Ort.
„Wir leben alle in der gleichen zerrissenen, häufig finsteren Welt, einer Welt, die durchdrungen ist von negativen Einflüssen.“
Ich sehe meinen Schatten
Kürzlich bin ich durch ein Wissenschaftsmuseum für Kinder gelaufen und kam schließlich in einen abgedunkelten Raum, in dem eine einzige Lampe an einer Wand brannte. Auf einem Hinweisschild hieß es, man solle auf das Licht zulaufen und beobachten, wie der eigene Schatten hinter einem immer größer wird. Je näher man an das Licht heranging, umso deutlicher erschien der Schatten.
Dieses Prinzip gilt für das Geistliche genauso wie für die Wissenschaft. Jesus Christus ist Licht. Je näher wir zu ihm hingehen, um so klarer umrissen wird unser Schatten. So sollte es wenigstens sein. Und wenn wir unseren Schatten sehen, dann werden wir auch intensiver die Kämpfe mit der kalten Realität erleben: dass wir Sünder sind – gerechtfertigte zwar, aber trotzdem Sünder.
Betrachten wir einmal den Erfolg des puritanischen Autors John Bunyan mit seinem Klassiker der Weltliteratur „Die Pilgerreise zur seligen Ewigkeit“. Vom 17. Jahrhundert an erschien das Werk durchgängig bis heute in immer neuen Auflagen. Es wurde in mehr als 200 Sprachen übersetzt. Und obwohl er für seine Frömmigkeit bekannt war und das Leben vieler Menschen zum Guten veränderte, gab Bunyan zu, dass er ab und zu ganz und gar nicht christliche, lästerliche Gedanken hatte.
Ist das etwa normal? Kommt ganz darauf an, was man erwartet. Manche Gläubige geben solchen Kämpfen, wie Bunyan sie hatte, wenig oder gar keinen Raum. Gotteslästerung bringt sie nicht in Versuchung und sie können nicht verstehen, warum es überhaupt jemanden in Versuchung bringen sollte, der Jesus liebt. Sie können Bunyans Offenheit nicht verstehen. Andere schon eher. Gotteslästerliche Gedanken quälen sie vielleicht nicht, dafür aber andere Dinge, und sie würden deshalb mit Bunyan nicht so hart ins Gericht gehen.
Bunyan ist nicht zurückgewichen, als er seinen Schatten größer werden sah. In der Überzeugung, dass die Gnade, die ihn gerettet hatte, ihn auch halten würde, bewegte er sich weiter auf das Licht zu. Genau das riet ich auch Susanna zu tun. „Wir haben keinen Hohepriester, der nicht mit unserer Schwachheit umgehen könnte“, schrieb der Autor des Hebräerbriefes (Hebräer 4,15). Er sieht unseren Schatten und will uns dennoch immer näher an sich heranziehen.
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