Zum Greifen nah

Essay

Es gehört zur sprachlichen Grundausstattung der meisten Christen, Gott gut und liebevoll zu nennen. Was das aber in der Tiefe des erlebten Alltags wirklich meint, schaffen längst nicht alle zu artikulieren. Angelika Marsch meint, dass Worthülsen nicht helfen, und erzählt uns auf ihre Art und Weise, wie sie Gottes Liebe zum Greifen nah erlebt.

„Das darf doch nicht wahr sein! Wieso habe ich das denn nicht eher gemerkt?“ Ich war am Boden zerstört. Der lange angedachte Plan fiel gerade in sich zusammen. Seit Monaten hatten meine gute Freundin, ich nenn sie hier mal Rita, und ich überlegt, in ihrem Haus eine Art WG zu gründen. Sie war gerade dabei, das elterliche Haus komplett zu sanieren. Sie selbst würde eine Etage höher ziehen und ich könnte in die Einliegerwohnung einziehen. Mit Begeisterung machten wir uns an die Vorbereitungen und ich kündigte meine Wohnung im Nachbarort, die mir über 20 Jahre lang ein schönes Zuhause gewesen war. Ein bisschen Wehmut kam schon auf, aber die Vorfreude auf das Neue überwog. Schließlich würde ich in die Nähe der Gemeinde ziehen, zu der ich gehöre, und würde in Zukunft auch ganz dicht bei Kollegen der Missionsgesellschaft wohnen, mit denen ich bereits jahrelang unterwegs war. Mit Ritas Haustier hatte ich zwar schon immer meine Mühe gehabt, aber die Einliegerwohnung würde ja frisch renoviert sein – dann müssten sich die allergischen Reaktionen doch in Grenzen halten, oder?

Das hatte ich nicht erwartet

Schon beim ersten Besuch in Ritas komplett sanierter Wohnung merkte ich, dass ich trotzdem hochallergisch auf ihr Haustier reagierte. Bereits nach wenigen Minuten fing ich an, mich zu kratzen, die Augen tränten und die Stimmbänder waren belegt. Ganz offensichtlich waren frisch renovierte Wände, Decken und Böden nicht genug. Mir wurde schlagartig bewusst: Ich kann nicht in dieses Haus ziehen! Sollte ich versuchen, die Kündigung der Wohnung rückgängig zu machen? Ein Anruf brachte Klarheit. Nein, das ist nicht möglich, der Vertrag mit den Nachmietern war bereits unterschrieben. 

In meiner Verzweiflung klagte ich Gott meine Not. Allmählich kam mein Herz zur Ruhe und ich verstand, ich solle einen Schritt nach dem anderen tun. Der erste Schritt war nicht einfach: Ich musste Rita erklären, dass unsere schönen Pläne nicht aufgehen würden. Wir waren beide traurig darüber, aber auch froh, dass wir ehrlich miteinander sein konnten. Doch was nun? Ich wusste nicht, wo ich hinziehen sollte, nur eins war klar: Ich musste aus der jetzigen Wohnung raus.

Die Hand Gottes im Spiel

Einen Tag später traf ich morgens den Verwaltungsleiter der Mission und fragte ihn spontan, ob er nicht zufällig eine Wohnmöglichkeit für mich wüsste. Ein kleines Zimmer würde reichen. Daraufhin meinte er, es sei gerade eine Wohnung im Zentrum der Missionsgesellschaft frei geworden. Da könnte ich unterkommen. Das war eine gute Nachricht, auch wenn mir nicht wirklich klar war, warum ich denn ausgerechnet dorthin ziehen sollte. Am gleichen Tag rief mich nachmittags der Vorstand der Mission an und fragte, ob ich als Vertretung für eine Kollegin einspringen könne, die sehr schwer erkrankt war. In dem Moment fiel es mir wie Schuppen von den Augen: Hier hatte Gott seine Hand im Spiel. Genau als ich am tiefsten Punkt war und nicht wusste, wie es weitergehen sollte, muss der Vorstand beschlossen haben, mich zu fragen. Jetzt passte auf einmal diese Wohnung auf dem Gelände perfekt! Eine unbändige Freude erfasste mich über diesen wunderbaren Gott, der die Fäden in der Hand hält und mich so führt, dass es einen Sinn ergibt.

Was für eine Möglichkeit!

Warum erzähle ich dieses Erlebnis so ausführlich? Weil es für mich so eine eindrückliche Erfahrung der Liebe Gottes war. Die möchte ich weitergeben! Mehreren Menschen habe ich erzählt, wie es mir in den letzten Wochen ergangen ist, und jedes Mal kam als Reaktion: „Wahnsinn, wie Gott das gemacht hat!“ Oder auch von jemandem, der nicht so intensiv mit Gott unterwegs ist: „Da hat doch einer dafür gesorgt, dass alles so kam, oder?“ Was für eine Einladung, mehr von dem Einen zu erzählen, der uns im Blick hat, dem wir nicht gleichgültig sind und der in seiner Liebe für uns sorgt! 

In meinem Erfahrungsschatz tummeln sich viele dieser Geschichten. Selbst erlebte und von anderen erzählte. Sie beschreiben einen Gott, der die Menschen – mich eingeschlossen – aufrichtig liebt. Sie berichten davon, wie zärtlich dieser Gott ist, wie aufmerksam und zugewandt. So ließ er mir beispielsweise von jemandem ein Parfüm nach Südamerika schicken, das gerade an dem Tag ankam, als ich den letzten Tropfen aus meinem alten Flakon gequetscht hatte. In einer anderen Situation ließ er ein Taxi vorfahren, das gar nicht für mich bestellt war, das mich aber rechtzeitig zum Flughafen nach Nairobi brachte. Nur dadurch war es mir möglich, noch am Bett meiner todkranken Mutter zu sitzen, ehe sie starb. Unvergessene Momente, die mir Gottes Liebe tief ins Herz gegraben haben.

Nicht einfach zu verstehen

Zu dem oben genannten Schatz gehören aber auch Erfahrungen, die mir verdeutlichen, dass Gott auch eine verborgene Seite hat. Eine Seite, die sich mir entzieht, die nicht so leicht seine Liebe erkennen lässt. Dazu gehören einige Erkrankungen und Todesfälle, die ich bis heute nicht verstehe: eine gute Freundin, die jahrelang an Alzheimer litt; der Sohn einer peruanischen Freundin, der unter mysteriösen Umständen ertrank; der schlimme Unfall eines jungen Mannes, der zur Querschnittslähmung führte; das schwerstbehinderte Kind von Bekannten, das auf kontinuierliche Pflege angewiesen ist. Hier helfen keine oberflächlichen Erklärungen. Hier geht es darum, diesen verborgenen Gott auszuhalten und mit den Betroffenen daran festzuhalten, dass Gott gut ist. 

Die Liebe Gottes ist nichts Abstraktes, kein Konzept, das es zu verstehen gilt. Nein, sie ist erlebbar und muss erlebt werden. Man muss sie empfinden, sie schmecken können. Interessanterweise gibt es in vielen indigenen Sprachen nicht die Möglichkeit, „Liebe“ als abstrakten Begriff auszudrücken. Man muss stattdessen ein Verb wählen und am besten noch die an der Handlung beteiligten Personen nennen. So könnte man zum Beispiel „Gottes Liebe“ mit „Gott liebt die Menschen“ wiedergeben. Und wie lässt sich das besser vermitteln als durch selbst erlebte Geschichten!