Wunderbar und wertvoll

Bericht

Es ist bisweilen tief erschütternd, die Lebensgeschichten mancher Menschen zu hören. Geschichten, die wütend machen, traurig und hilflos. Bettina Becker hat mit ihrem Mann Simon die Villa Wertvoll in Magdeburg gegründet und weiß um die Tragödien des Alltags. Und sie weiß auch, dass es nicht ganz so einfach ist, die eigene Loyalität richtig zu setzen.

Mittwochvormittag, ich sitze im Büro der Villa Wertvoll an meinem Schreibtisch. Es klingelt, vor der Tür steht Lisa (Name geändert). 13 Jahre, zwei geflochtene Zöpfe, Mütze, dick geschminkt. „Hey Lisa, willkommen! Was machst du denn hier?“, frage ich, denn eigentlich geht sie ja zur Schule. Sie huscht an mir vorbei ins Innere der Villa. „Mach schnell die Tür zu – und wieso hast du mich erkannt?“ Naja, das mit dem Erkennen war einfach – sie war gestern in meinem Theaterkurs, und bis auf die Zöpfe und einen anderen Lidschatten hatte sie nicht so viel verändert. Aber in ihrer Welt hat sie sich extrem stark verkleidet. „Kann ich mich hier verstecken?“ Sie zittert. Wir gehen in den Beratungsraum, ich gebe ihr eine Decke, mache einen Tee. Der Schreibtisch muss dann wohl erstmal ohne mich auskommen. Liebe heißt, Prioritäten zu setzen. Wir trinken lange schweigend zusammen Tee, bis es nach und nach aus ihr rauskommt. Sie ist abgehauen – aus der Schule, versteckt sich vor Lehrern, Schulsozialarbeiterinnen und der Polizei. Als mein Telefon klingelt, zuckt sie zusammen und schaut mich angstvoll an. Gemeinsam sehen wir aufs Display: Es ist ihre Lehrerin. „Bitte, geh nicht ran.“ Ich lasse es erstmal klingeln, weiß, ich befinde mich in einer Grauzone. Ich bin ja selbst unsicher. Ich sehe dieses verängstigte Mädchen, das mir vertraut. Der erste Ort, der ihr in ihrer Not eingefallen war, ist die Villa Wertvoll. Gleichzeitig weiß ich um meine professionelle Pflicht als Kooperationspartnerin der Schule. Liebe kann kompliziert sein.

Das können wir tun

In der Villa Wertvoll können Kinder kostenlos an künstlerischen Workshops teilnehmen. Ein Jahr lang erarbeiten wir mit insgesamt 200 Kindern im Bereich Theater, Tanz, Film, Kunst und Tonstudio ein großes Bühnenstück, das dann im Schauspielhaus präsentiert wird. Dahinter steckt ein ausgeklügeltes Konzept mit verschiedenen Dimensionen aus biblischer, pädagogischer, psychologischer und gesellschaftspolitischer Sicht. Eine Arbeit, mit der wir Kindern zeigen, dass sie geliebt sind. Wir können ihnen verbal Wertschätzung und Anerkennung geben, sie in den Arm nehmen, ihnen zuhören, in die Augen schauen, lächeln. All das kann dem Kind oder Jugendlichen vermitteln: Ich sehe dich. Du bist wertvoll. Als ein Mädchen mal nach ihrem Lieblingsmoment in der Villa Wertvoll gefragt wurde, sagte sie: „Als Lena mein Namensschild nochmal neu geschrieben hat, nachdem ich meins absichtlich kaputt gemacht hatte.“ Es sind immer die Menschen, die die Liebe konkret weitergeben. Unsere Konzepte bieten dafür lediglich einen Rahmen, in dem das möglichst leichtfallen soll.

„Ich sehe dieses verängstigte Mädchen, das mir vertraut. Der erste Ort, der ihr in ihrer Not eingefallen war, ist die Villa Wertvoll.“

Wenn dir keiner glaubt

Zurück zu Lisa. Irgendwann hat sie mir dann die ganze Geschichte erzählt. Sie hatte vor einigen Tagen Stress mit einem Lehrer, weil er ihr zu nahe gekommen war. Im Sekretariat hat ihr niemand geglaubt. Die glauben längst nicht mehr alles, was Schülerinnen und Schüler so erzählen. Ihre Mutter ist schon länger abwesend, der Vater unbekannt. Wer ihr geglaubt hat, war ihr großer Bruder. Der konnte den Lehrer noch nie leiden und hatte gerade eh sehr viel ungenutzte Zeit und sehr viele Muskeln. Also ist er in die Schule spaziert, in Lisas Klassenraum, hat den Lehrer krankenhausreif geprügelt und ist dann abgehauen. Als Krankenwagen, Polizei und Feuerwehr kamen, rannte Lisa weg. Angst und Panik. Verständlicherweise. Eine furchtbare Situation für alle Beteiligten. 

Einfach nur zuhören

Ein erster Schritt war geschafft: Lisa hatte sich ausgesprochen und aufgehört zu zittern. Ein Kinder- und Jugendpsychotherapeut hat mir mal gesagt, dass es reicht, wenn einem Kind pro Tag drei Minuten aktiv zugehört wird. Liebe könnte so einfach sein, wenn das schon alles wäre, wenn wir die Geschichte mit dem Fazit beenden könnten: „Hab immer Tee und Decken da, und nimm dir einfach Zeit.“ Aber so einfach ist es nicht, die wenigsten Geschichten enden mit Tee und Zuhören. Wir müssen mit den Folgen unseres Handelns und denen des Handelns der Menschen um uns herum leben. Ständig. Die Lehrerin versucht schon wieder, mich ans Telefon zu kriegen.

Wem gilt meine Liebe?

Dem 13-jährigen Mädchen, das sich einfach nur einkuscheln und verstecken möchte? Der Lehrerin, die ich persönlich kenne und die sich sicher Sorgen macht? Der Schulleiterin, die unfassbar wütend ist und mit der wir als Villa Wertvoll einen Kooperationsvertrag haben? Dem Lehrer, der auf dem Weg ins Krankenhaus ist? Oder Lisas Bruder, der ja auch ein paar Herausforderungen hat? Ihrer Mutter, die einige Wochen später zum Gespräch kommt und mit all dem sichtlich überfordert ist? Es gibt in dieser Situation viele Menschen, die alle ganz viel Liebe brauchen. Und dann sind da auch noch meine eigenen Kinder, die in einer Stunde aus der Kita abgeholt werden müssen. Liebe ist kompliziert. Ich muss Entscheidungen treffen. Jetzt. Ich mache Lisa noch einen Tee, erkläre ihr die Sache mit meinen Kindern und frage, was sie jetzt braucht. Sie will einfach bleiben und uns irgendwie helfen. Also gebe ich ihr eine Aufgabe: Bei den Weihnachtspostkarten müssen noch Sterne ausgestanzt werden, das macht sie und scheint sich dabei zu beruhigen.

„Es gibt in dieser Situation viele Menschen, die alle ganz viel Liebe brauchen. Und dann sind da auch noch meine eigenen Kinder.“

Was Gott gefällt

Die Geschichte geht weiter und ist auch heute noch nicht zu Ende. Es würde viel Zeit und Platz brauchen, um über all die Höhen und Tiefen zu schreiben, über alles Komplizierte, allen Schmerz, alle Ungerechtigkeiten – von denen gab es eine Menge! – und über alle Hoffnungsmomente, von denen es Gott sei Dank ja auch welche gibt. Worum es mir eigentlich geht? Liebe ist nicht der Zuckerguss auf unserem ausgeklügelten Konzept. Liebe ist nicht das, was alles noch etwas schöner und netter macht. Liebe ist das Wunder an sich. Liebe ist das Wunder, das inmitten des gesteckten Rahmens der Villa Wertvoll – und an unzähligen anderen Orten – geschieht. Und sie ist das, was Kinder und Jugendliche so sehr brauchen.

„Niemand hat Gott je gesehen, aber wenn wir einander lieben, bleibt seine Liebe in uns und kommt in uns zum Ziel“, so steht es in 1. Johannes 4,12. Wenn wir Kinder und Jugendliche lieben, kommt Gott dadurch zum Ziel. Was kann es Schöneres, Besseres und Wunderbareres geben, als dass wir diese endlose Liebe nach unseren Möglichkeiten weitergeben? Was daraus wird, ist Gottes Sache.