Mit leeren Händen dastehen
Essay
Wie egoistisch ist es eigentlich, darüber nachzudenken, in welcher Form man gern geliebt werden will? Maike Fethke meint, überhaupt nicht. Im Gegenteil! Es ist sogar gesund und hilfreich, auf die sich ohnehin oft aufdrängende Frage eine tragfähige und taugliche Antwort zu suchen. Denn wer nicht weiß, wie er sich Liebe wünscht, wie will er sie dann anderen schenken?
„Das ist er! Ja, genau, das ist er“, denke ich und bin erleichtert. Endlich habe ich ihn gefunden, unverhofft, fast nebenbei. Mir ist sofort klar: Das ist er, der Aufhänger für diesen Artikel: „Liebe lässt sich in allem fühlen.“ Ich wiederhole ihn, zu schnell gleiten die Augen darüber. „Liebe lässt sich in allem fühlen.“ Diese Worte stammen von der Schriftstellerin Elke Naters, aus ihrem vor kurzem erschienenen Buch: „Alles ist gut, bis es das dann nicht mehr ist. Über das Leben, die Liebe und das Sterben“. Es hat das Potential, mein Buch 2024 zu werden – doch das ist etwas anderes.
Das, was ankommt
„Liebe lässt sich in allem fühlen.“ Ich übersetze es für mich mit „Liebe lässt sich in allem fühlen, was ich wahrnehmen kann, will, zulasse …“. Liebe ist für mich ein Gefühl mit vielen verschiedenen Facetten. Manchmal nehme ich es bewusst wahr, viel öfter unbewusst. Liebe ist nicht zuerst die Botschaft, die der andere sendet, auch wenn er oder sie es beabsichtigt. Liebe ist vor allem das, was bei mir ankommt und was das Ankommende mit mir macht. Dadurch entsteht etwas Erfüllendes, etwas Verbindendes im „Wir“. Jeder von uns kennt Situationen, in denen unser Gegenüber mit besten Absichten „sendet“, doch die Botschaft kommt nicht an – oder ganz anders – als gewünscht. „Liebe“ wird es in dem Moment, in dem bei mir dieses wertvolle Gefühl erwacht, warm und wohlig, mich aus- und erfüllend. Manchmal weckt es Schmetterlinge im Bauch, macht Herzklopfen.
Ich kann es förmlich spüren
Drei Gedanken möchte ich hierzu teilen. Der erste: Liebe hat für mich mit all meinen Sinnen zu tun. Da sind zum Beispiel die jubelnden, mir zugewandten Worte, die in meinen Ohren lange nachklingen. Nie werde ich vergessen, wie meine kleine Nichte Charlotte mich im stolzen Alter von sechs Jahren aus allen Knopflöchern anstrahlte: „Du bist die tollste Tante der Welt. Ich habe dich so lieb!“ Ich hatte ihre Lieblingspuppe Elsa vor dem Ertrinken in einem kalten Fluss gerettet. Die Begeisterung war groß. Und bei mir – schwupps – da war es, dieses Gefühl von Liebe. Warm und wohlig, voller Verbundenheit.
„Liebe ist vor allem das, was bei mir ankommt und was das Ankommende mit mir macht.“
Wir wissen, wie es dir geht
Oder das köstliche Abendessen, das drei Freundinnen in einer schwierigen Lebensphase für mich zauberten. Dazu ein schön gedeckter Tisch mit rosa Rosen in der Mitte und kleinen weißen Kerzen. Alles strahlte eine tiefe Freundschaft aus. Und dann die Worte von Bettina: „Wir wissen, du hast es gerade schwer. Wir sind bei dir, wir sind für dich da. Wir gehen mit dir.“ Da war es, dieses warme, wohlige, erfüllende Gefühl. Ich werde geliebt. Da meinen es andere gut mit mir, greifen mir unter die Arme, gehen die Extrameile für mich. Sie haben gekocht und eine gute Flasche Rotwein aufgemacht. Liebe, die durch den Magen geht, die Nase mit köstlichem Duft erfüllt. Liebe, die die Ärmel hochkrempelt und anpackt.
Nimm das als Zeichen
Oder Liebe ganz anders: Vor vielen Jahren habe ich einige Zeit im Nahen Osten gelebt. Regelmäßig war ich zu Gast in einer christlich-orthodoxen, palästinensischen Familie vor den Toren Jerusalems und habe Zeit mit der weit über 80 Jahre alten Großmutter Mariam verbracht. Wir haben uns mit Händen und Füßen verständigt, viel gelacht, sie hat mir die Tür zu einer fremden Kultur ein Stückchen geöffnet. Manchmal haben wir nur geschwiegen und Tee getrunken. Kurz vor meiner Abreise gab Mariam mir ein Täschchen aus derbem schwarzem Stoff, bestickt mit wunderschönen Kreuzen. Rot leuchteten sie auf dem dunklen Untergrund. Und Mariam ließ von ihrer Tochter übersetzen: „Du bist wie eine Tochter für mich geworden. Nimm diese Tasche als Zeichen meiner Liebe.“ Da war es wieder, dieses Gefühl von Liebe. Dieses Mal ausgedrückt in einer kostbaren Stickerei, die mich lange begleitete.
Leider geht’s nicht immer gut
Mein zweiter Gedanke: Es gibt toxische Liebe. Viel Raum gebe ich diesem Thema nicht. Aber es soll genannt werden, denn immer wieder schleicht sich Böses, Schädliches, Verletzendes unter dem Deckmantel der Liebe in unser Leben hinein. Und es ist schmerzhaft, wenn zuerst mein „Ich werde geliebt“- Gefühl geweckt wird, vielleicht sogar in die Zukunft blickt oder doch zumindest den Moment so sehr auskostet, dass ich ein bisschen blind werde. Es gab Zeiten in meinem Leben, in denen ich darum gebetet habe, hiervor bewahrt zu bleiben. Das hat nicht immer funktioniert, aber ich wusste, ich bin nicht allein. Gott ist treu und er ist mit seiner Liebe bei mir.
„Doch als eine besondere Qualität empfinde ich es, wenn Liebe bedingungslos geschenkt wird. Wenn all mein ‚Ich gebe dir etwas zurück‘ nicht dran ist.“
Kein Gegenzug mehr nötig
Und der dritte Gedanke: die kostbarste Liebe. Liebe ist immer kostbar. Doch als eine besondere Qualität empfinde ich es, wenn Liebe bedingungslos geschenkt wird. Wenn all mein Tun, mein „Ich gebe dir etwas zurück“, kurzum alles, was ich im Gegenzug auffahren könnte, nicht dran ist. Wenn ich mit leeren Händen dastehen darf und mich beschenken lasse. Und das nicht nur einmal im Jahr, sondern immer wieder. Diese Liebe finde ich bei Gott, ohne Verfallsdatum oder Befristung. Jeden Morgen neu. Sie steht 24/7 als Angebot zur Verfügung. Ob sie stets von innen warm und wohlig macht oder Schmetterlinge im Bauch weckt? Bei mir nicht. Und doch ist sie mir so kostbar, denn Gott will sie und sich immer wieder verschenken. Und ich darf annehmen. „Liebe lässt sich in allem fühlen“, ganz besonders und gerade hier.
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