Mich selbst im Blick

Inspiration

Hier endet die Trilogie: Nachdem Eva Dittmann über die Liebe zu Gott und Markus Pfeil über die Liebe zum Nächsten schrieb, lenkt Dr. Steffen Schulte hier den Blick auf die Liebe zu einem selbst. Dass sie am Ende nicht wirklich viel mit in Frühlingsfarben leuchtenden Self-care-Programmen zu tun hat, wird schnell klar. Aber sie hat eben auch genau damit zu tun.

Achtsamkeit und Self-care sind gerade stark im Trend und ich finde das durchaus positiv. Wir werden ermutigt, auf uns selbst zu achten und liebevoll mit uns umzugehen. Was ich grundsätzlich für sehr gut befinde, stellt mich aber auch vor eine gewisse Herausforderung: Ist es für einen, der Jesus nachfolgen möchte, denn überhaupt angemessen, sich sosehr auf die Selbstliebe zu konzentrieren und sie zu einer Priorität zu machen? Schnell kommen mir Bibelstellen in den Sinn, die einen inneren Widerstand gegen eine Selbstliebe zu begründen scheinen. Ich denke zum Beispiel an Philipper 2. In der großartigen Christushymne schreibt Paulus unter Verweis auf die Hingabe Jesu: „Tut nichts aus Eigennutz oder um eitler Ehre willen, sondern in Demut achte einer den andern höher als sich selbst, und ein jeder sehe nicht auf das Seine, sondern auch auf das, was dem andern dient.“ Wo ist denn da noch Raum für Self-care oder Selbstliebe?

Das ist Egoismus, oder?

Zum Jahreswechsel gab es im Deutschlandfunk einen kurzen Podcast mit einem Psychologen, der den Titel trug: „Zu viel Self-care. So achtsam, dass es egoistisch ist“. In dem Vortrag wurde Self-care durchaus kritisch betrachtet. Man könnte meinen, Bibel und Psychologie seien sich mal einig: Self-care führt zu und nährt Egoismus. Würden mir da nicht auch Menschen einfallen, die sich deutlich verausgabt haben und selbst dann noch ja zu weiteren Aufgaben sagen, wenn es der eigenen Gesundheit schadet. Menschen, die mit allen anderen liebevoll and achtsam umgehen, nur mit sich selbst nicht. Das kann es doch nicht sein. Und nun?

Perfekt zusammengefasst

Für mich ist die Bibel immer ein heilsamer Ratgeber gewesen. Gerade dann, wenn ich sie in ihrer Gesamtheit betrachte und offen für komplexere Antworten bin. Darum schaue ich auch jetzt wieder, was sie dazu sagt. Eine Schlüsselstelle ist sicherlich das sogenannte Doppelgebot der Liebe. Darin werden wir aufgefordert, Gott mit unserem ganzen Sein und unseren Nächsten wie uns selbst zu lieben. Wir finden es in drei der vier Evangelien. Jesus zeigt, dass dieses Doppelgebot alle anderen Gebote zusammenfasst (Matthäus 22,40), dass die Liebe wertiger und wichtiger ist als alle Opfer (Markus 12,33) und dass wir im Halten dieser Gebote Leben finden (Lukas 10,28).

„Genau genommen gibt es keine Aufforderung, uns selbst zu lieben, sondern wir sollen den Nächsten lieben wie uns selbst. Das heißt, die Selbstliebe wird vorausgesetzt.“

Doppelt oder dreifach?

Aber ist es jetzt eigentlich ein Doppelgebot oder eher ein Dreifachgebot? Genau genommen gibt es keine Aufforderung, uns selbst zu lieben, sondern wir sollen den Nächsten lieben wie uns selbst. Das heißt, die Selbstliebe wird einerseits vorausgesetzt und gleichzeitig dient sie als Orientierung und Richtschnur für die Nächstenliebe. Wir könnten sogar daraus rückschließen, dass die Selbstliebe notwendig ist für die Nächstenliebe. Jesus schafft eine direkte Verknüpfung mit der Nächstenliebe. Was für ein genialer Schachzug, weil er eine automatische Regulierung schafft. Manche hören diesen Satz, und für sie bedeutet er weniger Nächstenliebe und mehr Selbstliebe, aber für andere ist die Aufforderung genau gegenteilig: mehr Nächstenliebe, weniger Selbstliebe. Beide korrigieren einander. Die einen müssen wissen, dass sie sich selbst Gutes tun dürfen. Sie dürfen Pausen machen, ohne ein schlechtes Gewissen zu haben. Sie dürfen nein sagen, ohne sich rechtfertigen zu müssen. Sie dürfen müde sein, ohne sich schwach oder faul zu fühlen. Andere müssen wissen, dass die Bedürfnisse ihres Umfeldes genauso wertvoll und wichtig sind wie die eigenen.

Was ich mir wert bin

Selbstliebe bedeutet, dass ich anerkenne, dass ich begrenzt bin. Ich bin bedürftig. Ich bin endlich. In der Nächstenliebe sehe ich die Bedürftigkeit des anderen, habe Mitleid und versuche zu helfen. In der Selbstliebe liegt der Fokus auf dem Wahrnehmen der eigenen Bedürftigkeit. Selbstliebe ist kein Ausdruck davon, dass man sich für besonders wertvoll hält, sondern die Anerkennung der eigenen Begrenztheit und Schwachheit. Wer von sich selbst mehr erwartet als von anderen, der geht oft davon aus, dass er diese Liebe und Fürsorge nicht wert ist. Er sieht sich als zu klein. Das Gegenteil kann aber auch der Fall sein: Man erwartet mehr von sich selbst, weil man sich für stärker und besser als die anderen hält. Beides sind Irrwege. Aber was ist mit den Versen von Paulus, ist da nicht ein Widerspruch? Wir müssen nach dem Telos fragen. Das ist ein hilfreiches griechisches Wort, das uns hier Klarheit geben kann. Das Telos beschreibt das letztendliche Ziel. Das Telos einer Eichelnuss ist zum Beispiel, eine Eiche zu werden. Und das Telos der Selbstliebe ist die gesunde Beziehung zu meinem Nächsten und natürlich auch zu Gott selbst.

„Selbstliebe bedeutet, dass ich anerkenne, dass ich begrenzt bin. Ich bin bedürftig. Ich bin endlich.“

In einer konsumgetriebenen Self-care-Industrie ist das Telos das „Ich“ selbst. Es geht alles um mich. Dies ist anders bei der Selbstliebe, die im Doppelgebot impliziert ist. Sie ist auch kein Gebot, weil die Selbstliebe nicht das Telos ist. Und diese Selbstliebe steht nicht in Konkurrenz zu der Gottes- oder Nächstenliebe. Selbstliebe bedeutet, mehr Raum zu schaffen und mir an Gottes Liebe genügen zu lassen. Indem ich mit meiner Bedürftigkeit zu Gott komme, praktiziere ich die positivste Form von Self-care.