Liebe lernen
Ratgeber
Dr. Martina Kessler erklärt, woran es liegen kann, wenn Menschen nicht zur Liebe fähig sind. Sie kennt Beispiele, weiß um Muster und meint, dass es sich lohnt, nicht zu schnell aufzugeben. Und sie meint auch: Es ist von Fall zu Fall nötig, gründlich hinzuschauen und die richtigen Schlüsse zu ziehen.
Mara freute sich so sehr auf ihren Sohn – ein Wunschkind. Die Schwangerschaft war unauffällig. Nun ist er geboren und Mara denkt: „Ich kann ihn einfach nicht lieben!“ Hannes ist schon länger verheiratet und ringt schon von Anbeginn der Beziehung mit sich und Friederikes Erwartungen an seine Liebesfähigkeit. Er fragt sich: „Kann ich überhaupt lieben?“ Wenn wir Menschen wie ihnen begegnen, dann müssen wir unbedingt ihre Hintergründe anschauen.
Gepaart mit der Angst
Mara könnte an einer Schwangerschaftsdepression leiden. Die Symptome einer Depression sind vielfältig. Bei einer jungen Mutter kann dann auch dazukommen, dass sie denkt, ihr Kind nicht lieben zu können. Vermutlich fällt es ihr tatsächlich schwer, sich emotional auf ihren Säugling einzulassen. Häufig ist das gepaart mit der Angst, den Herausforderungen durch einen abhängigen, aber fordernden neuen Erdenbürger nicht gewachsen zu sein. Eine Schwangerschaftsdepression braucht eine ärztliche Diagnostik und Behandlung.
Unfähig zur Beziehung
Behandlung brauchen auch andere psychische Erkrankungen, seelische Probleme oder Auffälligkeiten, die mit dem Gefühl einhergehen, nicht lieben zu können. Dazu gehören traumatische Erlebnisse und Vorkommnisse in der Kindheit oder sonstige prägende Ereignisse, die zu fehlendem Gefühlsempfinden oder zu Gefühlskälte führen können. Manchmal ist kein konkreter Auslöser zu finden, und dennoch können Menschen persönlichkeitsbedingt gefühlskalt auftreten. Manchmal tritt das Symptom nur in einem gewissen Zeitraum auf, manchmal werden Menschen zunehmend beziehungsunfähig. Menschen mit einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung müssen innerhalb dieses Themas besonders betrachtet werden. Weil sie vor allem sich selbst lieben und nicht fähig sind, andere Menschen zu lieben. Wenn sie behaupten „Ich liebe dich!“, hat das immer einen deutlich zu großen Anteil von Eigennützigkeit.
„Wenn Menschen zu Wut, Mitgefühl, Trauer oder Ergriffenheit fähig sind, scheitern sie eher an ihrer zu hohen Liebesselbsterwartung als an echter Gefühlskälte.“
Herz oder Kopf
Dass Hannes denkt, er könne nicht lieben, kann daran liegen, dass er verunsichert ist. Vielleicht sind es seine (oder Friederikes) Erwartungen an seine Gefühlsäußerungen. Denn, Achtung (!), das Scheitern durch Erwartungen an sich selbst kann auch von (Kitsch-)Filmen geprägt sein, in denen vermeintlich romantische Liebe dargestellt wird, deren Vorbild man meint, abbilden zu müssen. Wenn Menschen zu Wut, Mitgefühl, Trauer oder Ergriffenheit fähig sind, scheitern sie eher an ihrer zu hohen Liebesselbsterwartung als an echter Gefühlskälte. Sie sind dann nicht (so) romantisch (das Fachwort ist Aromantik), wie sie oder andere es erwarten. Es kann aber auch sein, dass Hannes ein Kopfmensch ist, der vorwiegend in sachlicher oder rationaler Art und Weise lebt. Statt eine Beziehung durch die rosarote Brille zu betrachten, bleibt er realitätsnah. So kann er durchaus aufrichtig und ehrlich lieben, ist aber keine romantische Wundertüte mit herzergreifenden Liebesbeweisen oder -bekundungen.
Bis auf Menschen, die eine narzisstische Persönlichkeitsstörung haben, ist es allerdings jedem möglich, Liebe zu lernen – vielleicht in einem begleiteten Prozess. Dafür braucht es Geduld und Nachsicht mit sich selbst. Aber es lohnt sich!
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