Im Angesicht des Feindes

Bericht

Als wir Baruir Jambazian baten, einen Artikel über Feindesliebe zu schreiben, war uns klar, das würde keine einfache Aufgabe für ihn. Zu frisch die Wunden des Krieges in Armenien, zu nah die vielen Opfer, zu intensiv der Schmerz. Er hat sich dennoch drangesetzt, erzählt von einem Vater, der seinen Sohn beerdigen musste, und von seinen eigenen inneren Kämpfen. Danke, Baru.

Garik fiel am 9. Oktober 2020, irgendwo auf einer der Berghöhen der Karvachar- Region in Artsakh, Berg-Karabach. Eine Drohne beendete sein Leben und das von fünf seiner Kameraden. Während des letzten Telefonates von der Front mit seiner Mutter hatte er noch gesagt: „Mama, hab keine Angst. Schau auf Jesus, setz deine Hoffnung auf Gott. Wenn er es vorsieht, dass ich zurückkomme, dann wird dies auch geschehen. Doch wenn ich sterben sollte, dann wisse, ich bin in Gottes Händen.“

Schau nach oben, Opa!

Gariks Vater Garabed holt tief Luft, als ich mit ihm zusammensitze. Seine Stimme zittert, als er sich an die Beerdigung erinnert: „Meine Hände verkrampften sich um den Stuhl, auf dem ich saß. Ich konnte nicht reden, nicht denken, ich verstand nichts mehr. Plötzlich sagte mein Enkel, der neben mir saß: ‚Opa, Opa, schau nach oben.‘ Ich fragte, was denn da sei. Er schaute mich mit großen Augen an und sagte: ‚Schau nach oben, Opa, ich sehe Papa. Er sagt, er ist bei Jesus.‘ Da erfüllte mich ein tiefer Frieden und Worte aus der Bibel kamen mir in den Sinn. Keine Worte des Fluches, sondern Worte des Lebens. Ich konnte Gott loben. Ich konnte Gott tatsächlich mit lauter Stimme am offenen Grab meines Sohnes loben! ‚Hört mir zu, meine Freunde, glaubt an Gott. Gott ist ein Gott der Lebenden, nicht der Toten. Und mein Sohn lebt, seine Seele ist bei unserem Herrn, auch wenn sein Körper jetzt hier im Grab liegt. Gelobt sei Gott …‘“

Später sitze ich in Bruder Garabeds Wohnzimmer, und wir erinnern uns an diese schweren Tage. „Mein Bruder“, sagt er zu mir, „bis du es nicht am eigenen Leib erlebt hast, kannst du diesen Schmerz nicht nachvollziehen. Doch ich kann unsere Feinde nicht hassen. Denn wenn ich Hass und Feindschaft in mir habe, dann gehöre ich nicht zu Gott. Gott ist Liebe, und wenn diese Liebe in uns ist, dann erkennen wir, dass unser einziger Feind Satan ist. Wir haben keine anderen Feinde. Ich bete für denjenigen, der meinen Sohn getötet hat. Ich habe Frieden.“

Jeder Name ein Leben

Fröstelnd stehe ich auf dem Soldatenfriedhof „Yeraplur“ am Stadtrand Yerevans. Ein Meer von Fahnen. Blau, Rot, Orange. Die Farben meiner Heimat. Sie stehen für das Fleckchen Erde, für das meine Brüder ihr Leben gelassen haben. Die Tränen sind nicht aufzuhalten, wenn ich in die eingravierten Gesichter auf den Grabsteinen blicke. Garik, Hovik, Petros, Henrik, Poghos, Artak und die vielen, vielen anderen. Jeder von ihnen wurde von jemandem geliebt, jeder von ihnen hatte Pläne, ein Leben vor sich. Auch viele der Patenkinder, die wir im Rahmen unserer Arbeit in einer christlichen Hilfsorganisation jahrelang betreuten, die vor unseren Augen aufwuchsen, liegen jetzt hier. Wie soll ich angesichts dessen, was meinem Volk widerfährt, was mir selbst widerfährt, meine Feinde lieben? Geht das per Entscheidung? Wenn ich ehrlich vor mir selbst bin, ist die Antwort schnell gefunden. Aus mir heraus kann ich es nicht, es reicht ja nicht aus, diese Vergebung nur auszusprechen. Wie Bruder Garabed sagte: Die Worte müssen in mir zum Leben erweckt werden.

„Wenn ich vom Geist Gottes geleitet werde, dann kann ich nur Gutes geben, weil in mir nichts anderes mehr ist. Gottes Gnade hat mich verändert.“

Wie soll das gehen?

„Doch ich sage euch: Liebt eure Feinde, tut wohl denen, die euch hassen, segnet, die euch fluchen, damit ihr eurem himmlischen Vater gleich werdet …!“ Diese Worte fallen mir schwer, und ich verstehe, dass sie zunächst das Wesen Gottes beschreiben. Er hat uns damit aber auch eine Anweisung gegeben. Eine, die zu befolgen mir extrem schwerfällt. Wie soll ich das machen? Wie kann ich meinem Feind, der mir direkt gegenübersteht, Auge in Auge, etwas Gutes tun und ihn lieben? Wie?! Soll und kann ich einfach nur abstrakt und mit Gehorsam diesem Auftrag folgen, ohne ihn aus Überzeugung zu leben? Also praktisch nur, weil ich muss? Jesus sagt mir hier auch etwas über mein Wesen. Ich erkenne, dass ich mit Adams Natur in mir ein Feind Gottes bin. Als Mensch und Sünder bin ich ein Feind von Gottes Wesen. Christus aber liebt seine Feinde. Für sie ist er ans Kreuz gegangen. Für mich! Ich war es nicht wert, kein Mensch auf Erden ist es wert, aber Jesus lebte die Liebe. Einfach, weil er die Liebe ist.

Ich werfe, was ich habe

Gott weiß, dass wir nicht aus eigener Anstrengung so lieben können. Deswegen hat er gesagt: „Verleugne dich selbst, nimm dein Kreuz auf und folge mir nach.“ Beim Umsetzen dieser Anweisung wird Gottes Gnade in unseren Herzen arbeiten und wir werden erfüllt von seiner Liebe. Der indische Missionar Sadhu Sundar Singh erzählt in seinem Buch „At the Master’s Feet“ von einem Baum voller leckerer Früchte. Kinder werfen mit Steinen nach dem Baum, und der Baum wirft anstelle von Steinen das Einzige, was er von Gott bekommen hat, auf sie zurück: seine guten lieblichen Früchte. Was für ein Bild! Wenn ich vom Geist Gottes geleitet werde, dann kann ich nur Gutes geben, weil in mir nichts anderes mehr ist. Gottes Gnade hat mich verändert.

Drastisch verschoben

Es war auf einer Konferenz christlicher Gemeinden der ehemaligen Sowjetunion in Wolgograd, als Bruder Hrant eine aufgeregte Stimme rufen hörte: „Wo ist der Armenier? Ich muss ihn sofort sehen!“ Hrant schaute auf, vor ihm stand ein Azeri (ein Aserbaidschaner), mit Tränen in den Augen. Dieser Mann fiel auf die Knie und mit brechender Stimme erzählte er, wie während der Kämpfe um Berg-Karabach in den 90er-Jahren sein Bruder von Armeniern getötet worden war. Damals schwor er auf den Koran, dass er ihn rächen würde. Er würde einen Armenier enthaupten und den Kopf auf das Grab seines Bruders legen. Doch dann begegnete ihm Jesus. Diese Begegnung veränderte sein Herz. Sein sehnlichster Wunsch hatte sich drastisch verschoben: Nun wollte er einem Armenier nach dem Vorbild Jesu die Füße waschen und mit ihm das Abendmahl feiern. In Jesus wurden aus Feinden Brüder.

Was also kostet die Feindesliebe? Sie kostet mich alles, mein „Ich“, meine rebellische Natur. Sie ist ein Kampf, den ich täglich kämpfen muss. Doch der Lohn ist es wert. Weil ich in der Ähnlichkeit Jesu wachse, Frieden finde und ewige Gemeinschaft mit Gott erlange.