Auf Stuttgarts Straßen

Interview

Es gibt sicher kaum einen anderen Ort, an dem der Begriff „Liebe“ so inflationär missbraucht wird wie im Rotlicht-Milieu. Dort, wo Menschen Ware sind und ihre Seelen nicht gesehen werden. Weil ihre Art zu leben verachtet wird. Alina Weißer arbeitet genau dort und hat es sich zur Aufgabe gemacht, Ungeliebten Liebe und Hoffnungslosen Hoffnung zu schenken. Ein Gespräch mit Detlef Eigenbrodt.

Alina, du arbeitest seit einiger Zeit im HoffnungsHaus in Stuttgart. Um was geht es da genau?

Das HoffnungsHaus öffnet unter anderem seit 2016 mehrmals in der Woche sein Café im Erdgeschoss, um Frauen und Transfrauen in der Prostitution ein erweitertes Wohnzimmer zu bieten: Hier können sie für einen Moment zur Ruhe kommen. Neben Essen und Trinken gibt es die Möglichkeit zu Gesprächen, gemeinsamen Spielen, kreativen Angeboten, Massage, Maniküre und noch mehr. Wir möchten ihnen einen Raum bieten, in dem sie ohne Erwartungsdruck einfach sie selbst sein können und Liebe und Annahme erfahren.

Woher kommen die Frauen und Transfrauen, die euch besuchen? Und wie entsteht so ein Kontakt? Ich stelle mir vor, dass das gar nicht so leicht ist … 

Wir sind für Frauen da, die in der Prostitution arbeiten oder gearbeitet haben. Sie sind sehr unterschiedlich und kommen aus ganz verschiedenen Herkunftsländern und Situationen. Die Altersspanne unserer Besucherinnen ist sehr groß und reicht von Anfang zwanzig bis Mitte achtzig. Da sich unser Haus sehr zentral in der Leonhardstraße befindet, ist es nicht zu übersehen. Alle Menschen, die im Stuttgarter Rotlichtviertel unterwegs sind, laufen ganz zwangsläufig bei uns vorbei. Letztendlich funktioniert viel durch Mund-zu-Mund-Propaganda. Ohne eine Person, die schon mal bei uns war und positiv davon berichten kann, ist die Hemmschwelle, zu uns zu kommen, meistens zu groß.

Die Frauen, sind die langfristig bei euch oder tauchen die schnell wieder ab? 

Es gibt bei uns schon ein Stammpublikum von ungefähr 15 Frauen, die sehr regelmäßig kommen. Da fällt es dann schon auf, wenn eine von ihnen an einem Tag nicht da war. Bei manchen Frauen weiß ich auch genau, um welche Uhrzeit sie kommen und was sie dann gerne trinken oder essen wollen. Das sind allerdings hauptsächlich die Frauen, die nicht mehr aktiv in der Prostitution arbeiten. Die Frauen, die aktiv im Milieu sind, wechseln recht häufig ihren Standort. Aktuell gibt es einige Frauen, die schon mehrere Jahre in Stuttgart sind und regelmäßig zu uns kommen. Es gibt auch ein paar Gruppen, die ab und zu in Stuttgart sind und dann zu uns kommen, oder solche, die wir wirklich nur ein- oder zweimal sehen.

„Die Altersspanne unserer Besucherinnen ist sehr groß und reicht von Anfang zwanzig bis Mitte achtzig.“

Ich weiß, dass das sehr persönlich ist, aber kannst du, ganz anonym, aus dem Leben der ein oder anderen Frau erzählen, die bei euch einkehrt? Was haben sie erlebt? Gibt’s eine Biografie, die dich besonders bewegt?

Die Lebensgeschichten sind sehr unterschiedlich und alle sehr bewegend. Eine Frau kommt zum Beispiel immer gut gestylt zu uns und bleibt kurz in der Tür stehen, damit wir ihr Outfit bewundern können. Eigentlich wollte sie Modedesignerin werden, konnte diesen Traum jedoch nicht verwirklichen, als sie nach der Scheidung von ihrem gewalttätigen Ehemann die Kinder allein versorgen musste. Viele Jahre hat sie als Prostituierte gearbeitet. Sie musste erleben, dass andere Menschen sie dadurch schlechter behandeln und abwerten. Diese Erfahrungen teilen die meisten Frauen, die in der Prostitution tätig sind oder waren. Auch die Biografien der Frauen aus Bulgarien bewegen mich immer sehr. Die meisten sind nur wenige Jahre älter als ich und haben mit Anfang 30 schon fast erwachsene Kinder. Als Sinti und Roma sind sie in ihrem Heimatland diskriminiert und leben in Armut. Hier in der Leonhardstraße zahlen sie eine tägliche Miete von rund 150 Euro in den Bordellen oder erarbeiten sich ihr Geld auf dem Straßenstrich.  

Was könnt ihr dem entgegensetzen? In welcher Form könnt ihr euren Besucherinnen Hoffnung schenken?  

Ein warmes Essen und ein offenes Ohr von einer Person, die es gut mit einem meint, machen oft schon einen großen Unterschied. Wir wollen die Frauen wahrnehmen und wirklich Beziehungen zu ihnen aufbauen. Dazu gehört dann natürlich auch, selbst aus dem eigenen Leben zu erzählen. Es braucht sehr lange, bis Vertrauen aufgebaut wird, aber wenn es so weit ist, können wir oft ganz vorsichtig in das Leben einzelner Frauen hineinsprechen und sie in ihrem Selbstwert bestärken und unterstützen.

Ich vermute, dass der Begriff „Liebe“ für eure Gäste ein oft missbrauchter ist. Und dass sie sich doch so sehr danach sehnen, geliebt zu werden. Wie gelingt es dir, sie wohlproportioniert zu lieben? 

Ja, „Liebe“ ist bei uns oft ein großes Thema. Ich hoffe, dass vor allem durch unser Angebot und unsere Haltung die Liebe Gottes bei den Frauen ankommt. In einzelnen Gesprächen überlegen wir zusammen, was Liebe ausmacht und wie man Liebe erkennen kann. Da, wo es passt, sprechen wir den Frauen zu, dass sie von Gott geliebt sind und diese Liebe durchweg positiv und unabhängig von unserem Verhalten ist.  

Was an deinem Einsatz fällt dir besonders schwer, Alina?

Viele Frauen erleben in der Prostitution starke Gewalt durch Zuhälter oder Freier. Die meisten halten das ohne Alkohol- und Drogenkonsum nicht aus. Das sieht man einigen auch an, gerade wenn man sie kennt. Das auszuhalten, fällt mir oft schwer. Die Situationen, in denen sich die Frauen befinden, sind oft komplex, und so braucht es viel Zeit, bis Veränderungen im Leben entstehen. Da ist viel Geduld nötig und ein langer Atem.  

Und, bei allem Schweren und Komplexen, was macht dir außerordentliche Freude an deinem Dienst? 

Wir verbringen oft sehr fröhliche Stunden im HoffnungsHaus. Für einige Frauen ist es wie ihr Wohnzimmer, in dem sie sich aufs Sofa legen, sich mit uns unterhalten und eine Runde Mensch-ärger-dich-nicht spielen. Ich glaube, einen Ort zum „einfach mal sein“ braucht jeder, und ich freue mich immer sehr, wenn das HoffnungsHaus so ein Ort sein kann. Und dann sind es die kleinen Dinge, die mir Freude machen, wie das Deutschlernen mit einer Frau, die sehr motiviert ist und begeistert lernt und dadurch mehr Selbstvertrauen bekommt. Auch unser Gottesdienst, in dem wir gemeinsam singen, macht mir viel Freude.

Alina, vielen Dank dir für das Gespräch und deinen Einsatz.