Konsequent entschuldigt
Essay
Die Patzer unseres Lebens schlagen tiefe Wunden und hinterlassen oft hässliche Narben. Manche verheilen nie. Dr. Steffen Schulte erzählt, was ihn bedrückt, kennt seine Schuld und steht damit vor Gott. Konsequent. Dass dies der Anfang von etwas unglaublich Großartigem ist, erschließt sich dem, der glaubt.
Während meiner Schulzeit hatte ich einen Freund, der wegen seiner Kleidung öfters gehänselt wurde. Ich hatte den Eindruck, dass er es mit Humor nahm und über diesen Dingen stand. Zumindest die meiste Zeit. An vielen Tagen passierte auch nichts, aber an manchen anderen war es zu viel. Ich erinnere mich – zu meiner großen Schande – an einen Tag, wo ich in das Hänseln mit eingestiegen bin. Seinen Blick werde ich nie vergessen, und ich hörte auch sofort damit auf. Wie gerne hätte ich in jenem Moment eine „Rückgängig-machen-Funktion“ gehabt, wie wir sie vom Computer kennen. Aus Versehen eine falsche Datei gelöscht. Kein Problem, einfach auf „Rückgängig-machen“ klicken, und schon ist sie wieder da. Was beim Computer meistens funktioniert, gelingt im Leben nie. Ich hatte meinen Freund verletzt. Das war passiert, und ich konnte es nicht rückgängig machen. Damals fehlte mir der Schneid, mich direkt bei ihm zu entschuldigen. Er hatte aber die Stärke und Barmherzigkeit, unsere Beziehung davon unbeeinträchtigt zu lassen. Inzwischen haben wir uns aus den Augen verloren, und trotzdem hallt in mir der Wunsch nach, ihn um Verzeihung zu bitten.
Wo ist die Grenze?
Natürlich kann man sagen, dass so ein Verhalten ja nicht die schlimmste aller Sünden ist. Man könnte es als einen emotionalen Ausrutscher deklarieren. Aber es ist leider keine Ausnahme. Immer wieder erlebe ich Momente, in denen ich Menschen unrecht tue. Es gibt immer wieder scheinbar gute Argumente, warum es passiert ist. Trotzdem muss ich doch zu meinen Taten und deren Konsequenzen stehen, oder? Auf YouTube sah ich mal einen Ausschnitt aus einem Interview mit dem bekannten Schauspieler Anthony Hopkins. In diesem Interview wurde er gefragt, ob er irgendetwas bereue. Er überlegte kurz und antwortete: „Nein. Ich habe keine Zeit dafür. Wir gehen vorwärts … Ich bin ein Sünder. Ich bin ein alter Sünder. Ich habe einige schlimme Dinge getan. Ich habe einige gute Dinge getan. Also vergibst du dir einfach selbst und gehst weiter.“1
Der Satz klingt zwar schlau und befreiend, aber eigentlich ist er zutiefst traurig, und zumindest viel zu einseitig. Vor allem hilft er mir nicht weiter. Was nützt es meinem Freund, wenn ich mir selbst vergebe? Was passiert dadurch mit der Beziehung? Wo ziehen wir hier die Grenzen? Kann ich mir alles selber vergeben und einfach weitermachen? Bestimmt nicht. Dem würde Anthony Hopkins sicherlich auch zustimmen. Aber wer darf das entscheiden? Wer bestimmt die Grenzen? Ab wann braucht es die Vergebung von anderen?
Wie ist der Weg?
Vergebung ist nötig, weil wir versöhnte Beziehungen brauchen. Wir Menschen brauchen die Gemeinschaft mit anderen. Deshalb brauchen wir Versöhnung. Zerbrochene oder gestörte Beziehungen machen uns kaputt. Gott hat uns als Gemeinschaftswesen geschaffen, welche in guten, versöhnten Beziehungen leben wollen. Und dies ist auch wahr, wenn es um unsere Beziehung zu Gott geht. Wir brauchen eine versöhnte Beziehung zu Gott. Allerdings ist es Gott, der bestimmt, was zu vergeben ist. Dieser Satz mag vielleicht hart klingen, aber Gott als Schöpfer hat das Recht, die Standards festzulegen und sie auch einzufordern. Seine Erwartungen (Gebote) an uns lassen sich im Doppelgebot der Liebe zusammenfassen (Matthäus 22,35ff und 3. Mose 19,18). Liebe Gott und deinen Nächsten. Aber was ist, wenn wir dem nicht genügen? Dann laden wir Schuld auf uns. So wie ich damals durch mein Verhalten gegenüber meinem Freund. Mit dieser Schuld stehe ich nicht nur vor meinem Freund, sondern auch vor Gott.
Und eigentlich erwarten wir auch, dass Gott richtet. Überrascht Sie dieser Satz? Ich höre ihn ganz häufig, aber ganz anders formuliert, nämlich als Frage. „Wie kann es einen Gott der Liebe geben, wenn es so viel Böses und Ungerechtigkeit in der Welt gibt?“ Hier wird also angenommen, dass ein liebender Gott sich dadurch auszeichnet, dass er Gerechtigkeit schafft und das Böse austilgt. Würde Gott dies aber tun, wer könnte da bestehen? Wer ist ohne Schuld? Niemand. Ich zucke oft innerlich zusammen, wenn ich darüber nachdenke, dass Gott bestraft. Aber anderseits weiß ich auch, dass ich es ganz furchtbar finde, dass Menschen andere Menschen in Prostitution versklaven, Kindern Rauschgift verkaufen oder Soldate ausbilden, die es schaffen, sich jeglichem menschlichen Gericht zu entziehen. Sollten sie nicht zur Rechenschaft gezogen werden für ihre Taten? Sollten sie sich dafür nicht verantworten? Soll Gott das alles gleichgültig sein? Kann er die Kinder lieben, welche in Zwangsprostitution geschickt werden und nicht die Täter und Verursacher zur Rechenschaft ziehen? Dies sind sehr extreme Beispiele, aber sie sollen das Prinzip verdeutlichen. Unsere Schuld hat Konsequenzen und muss gesühnt werden. Was im Großen gilt, gilt auch im Kleinen. Was ich bei anderen einfordere, dazu muss ich auch selbst stehen.
„Ich stehe jetzt so vor Gott, als wäre da niemals etwas gewesen! Ich stehe vor Gott, genauso gerecht und gerechtfertigt wie Jesus.“
Wer bringt die Lösung?
Gott schafft die Lösung, er sühnt unsere Schuld. Sühne ist ein altes Wort, aber sehr hilfreich, denn es bedeutet, dass eine Ausgleichsleistung erbracht wird. Hier kommt eine der hoffnungsvollsten Lehren der Bibel zum Einsatz. Gott schafft die „Rückgängig-machen-Taste“. Im Römerbrief schreibt Paulus: „Ihn (Jesus) hat Gott vor den Augen aller Welt zum Sühneopfer für unsere Schuld gemacht.“ Jesus vollbringt die Ausgleichsleistung für die Schuld, welche ich verursacht habe. Durch sein Blut, das er vergossen hat, ist die Sühne geschehen, und durch den Glauben kommt sie uns zugute. Wenn ich an Jesus glaube, dann bekomme ich diese Vergebung. Und dann heißt es weiter: „Damit hat Gott unter Beweis gestellt, dass er gerecht gehandelt hatte, als er die bis dahin begangenen Verfehlungen der Menschen ungestraft ließ.“ Darum spricht die Bibel auch davon, dass wir teuer erkauft wurden. Nichts wurde zugedeckt. Kein Kompromiss gemacht. Eine totale und hundertprozentige Wiedergutmachung wurde geleistet. Ich stehe jetzt so vor Gott, als wäre da niemals etwas gewesen! Ich stehe vor Gott, genauso gerecht und gerechtfertigt wie Jesus. Was ist mein, was ist unser Anteil daran? Wir müssen uns unserem Leben stellen. Kein Rumdrucksen. Es gilt, zu sagen: „Ich bin ein alter Sünder. Ich habe einige schlimme Dinge getan. Himmlischer Vater, vergib mir.“
Dies ist ein unglaubliches Angebot der Gnade Gottes. Wer dies verstanden hat und weiß, was es Gott gekostet hat, uns diese Möglichkeit des Neuanfangs zu bieten, der wird seine Gnade und Sühne nie leichtfertig beanspruchen. Mehr noch, der wird erleben, dass diese Gnade uns gnädig macht und in uns die Bereitschaft bewirkt, unserem Nächsten zu verzeihen. Wir leben dann in versöhnten Beziehungen. Zu Gott, und dadurch auch mit unserem Nächsten.
Dr. Steffen Schulte ist gebürtiger Kanadier, verheiratet und hat zwei Töchter. Seit 2009 ist er Dozent am Theologischen Seminar Rheinland, 2015 wurde er zum Rektor berufen, 2020 in den Vorstand von NEUES LEBEN. In seiner Freizeit fährt er leidenschaftlich gern Fahrrad, betreibt Fitnesstraining und geht gern mit seiner Familie zelten.
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