Die Zeit der großen Fragen

Geschichte

Es gab und gibt sie, die Epochen, in denen die richtigen Antworten auf die Fragen des Lebens nicht willkommen sind. Weil sie den Herrschenden nicht ins Konzept passen. Dass das nicht allein ein politisches Phänomen ist, zeigt Dr. Simone Flad mit ihrem Ausflug in die Geschichte.

Es gibt Zeiten im Leben, wo vieles unklar ist, wo wichtige Fragen auftauchen und erstmal unbeantwortet bleiben. Manchmal lösen ein neuer Impuls, passende Informationen oder eine Begegnung den Knoten, der das Leben undurchsichtig gemacht hatte. So erlebte es auch Martin Bucer. Martin wer? Vielleicht kennen Sie seinen Namen gar nicht. Vor 500 Jahren war das in Deutschland und sogar in England jedoch ganz anders.

Der Junge wird Mönch

Martin Bucer wurde 1491 im Elsass in eine Küblerfamilie hineingeboren. Somit wäre für Martin der Weg eines Handwerkers vorgezeichnet gewesen. Aber der Großvater, bei dem er aufwuchs, wollte für den begabten Martin eine bessere Zukunft. Bildung war der Schlüssel dazu, und somit die gute Lateinschule vor Ort ein erster Schritt dahin. Ohne Vermögen blieb zu dieser Zeit eigentlich nur der Weg in die Kirche, wenn man Karriere machen wollte. Daher verfügte der Großvater, dass Martin Bucer mit 15 Jahren als Novize in das örtliche Dominikanerkloster eintreten sollte. Ob Martin damit einverstanden war Mönch zu werden, lässt sich nicht mehr genau feststellen. Jedenfalls kam er auf diesem Weg sehr gut voran, er wurde zum Priester geweiht und dann ausgewählt, die akademische Laufbahn als Lehrbeauftragter an einer Universität weiter zu verfolgen. Dafür wurde er an der Universität Heidelberg eingeschrieben, um den Grad eines Doktors der Theologie zu erwerben.

Alles ziemlich abstrakt

Der Beginn des 16. Jahrhunderts war in vieler Hinsicht eine turbulente Zeit. Große Denkschulen rangen miteinander um die Vorherrschaft unter den gebildeten Menschen der damaligen Zeit – und Martin Bucer befand sich sozusagen im Zentrum dieser Diskussionen. Der dominikanische Orden, zu dem Bucer ja gehörte, vertrat die konservative Richtung, die sich hauptsächlich am berühmtesten Dominikaner Thomas von Aquin orientierte. Theologische Fragen wurden philosophisch mit Hilfe der Logik von Aristoteles beantwortet. Bucer wurde in dieser Denkschule gründlich ausgebildet. In manchem ein hilfreicher Ansatz wurde diese Theologie jedoch oft auch abstrakt und sehr theoretisch. Mit dem täglichen Leben hatten viele Themen wenig zu tun. 

Der innere Konflikt

In Heidelberg lernte Bucer nun die andere große Strömung seiner Zeit immer besser kennen: den Humanismus, vor allem seinen berühmtesten Vertreter Erasmus von Rotterdam. Der Fokus der humanistischen Theologie richtete sich nicht auf die Philosophie, sondern auf die alten Quellen des Christentums: die Bibel selbst und die Kirchenväter. Außerdem spielte die Lebenspraxis, die Ethik, eine ganz zentrale Rolle, philosophische Überlegungen weniger, und auch nicht die zahlreichen Zeremonien der damaligen Kirche. Die christliche Lebenspraxis wurde für Bucer immer wichtiger, und so gehörte er bald zu der Minderheit von Humanisten unter den Dominikanern. Dadurch steckte Bucer aber in einem grundlegenden inneren Konflikt und hatte manche Fragen: Ließen sich die beiden Denkansätze irgendwie vereinen? Hatte er persönlich eine Zukunft in diesem Orden? Wie sollte die Theologie aussehen, die er lehren würde?

„Bucer bekam für die Beantwortung seiner Fragen eine neue Basis: die Bibel in der Auslegung von Martin Luther. Damit war Bucer auch sofort klar, dass sein Leben nun eine andere Richtung nehmen würde.“

Eine neue Basis

In dieser Zeit der großen Fragen kam es zu einer schicksalshaften Begegnung: Martin Bucer lernte den anderen Martin kennen: Martin Luther. Im April 1518 musste Luther sich in Heidelberg vor seinem Augustinerorden verantworten. Seine 95 Thesen gegen den Ablasshandel hatten für Aufruhr gesorgt, und nun sollte er sich erklären. Bucer war unter den Zuhörern – und war begeistert von dem, was Luther sagte! Er sah seine eigenen Gedanken von Luther ausgesprochen und fühlte sich sofort mit ihm verbunden. Ein persönliches Gespräch zwischen den beiden Martins am nächsten Tag bestätigte seinen Eindruck. Bucer bekam für die Beantwortung seiner Fragen eine neue Basis: die Bibel in der Auslegung von Martin Luther. Damit war Bucer auch sofort klar, dass sein Leben nun eine andere Richtung nehmen würde. Er sah ganz eindeutig, dass Luther – bei aller Übereinstimmung mit Erasmus – eine noch viel tiefgreifendere Kritik an der Lehre und dem Leben der damaligen Kirche übte. Ein öffentliches Bekenntnis zu dieser lutherischen Lehre konnte zu jener Zeit sehr gefährlich werden. Dies galt für Luther, der zwei Jahre später als Ketzer und Irrlehrer verurteilt wurde, aber das galt auch für Bucer. Gerade als Dominikaner konnte man es sich eigentlich nicht leisten, als möglicher Irrlehrer zu gelten – denn eine Aufgabe des dominikanischen Ordens war, Irrlehrer aufzuspüren und unschädlich zu machen. Als Humanist zu gelten, war für einen Dominikaner damals schon kritisch genug – ein Anhänger Luthers zu sein war geradezu selbstmörderisch!

Das Ende der Karriere

Trotzdem gab es für Bucer von Anfang an keine Zweifel. Er sah in der Lehre Luthers seine eigenen Fragen beantwortet – und zwar aus der Bibel und nicht aus der Philosophie der vorangegangenen Jahrhunderte. Er hatte die Wahrheit gefunden – dahinter konnte und wollte er nicht mehr zurück, egal, was es ihn kosten würde. Kurz bevor er seinen Abschluss als Doktor der Theologie hätte erhalten können, floh er aus seinem Kloster. Einflussreiche Freunde von ihm erreichten, dass er kurze Zeit später offiziell von seinem Gelübde entbunden wurde. Der Verfolgung durch den Orden konnte er damit erst einmal entgehen, aber dadurch war auch seine Karriere als Universitätsprofessor zu Ende, noch bevor sie begonnen hatte.

Die Wende in Straßburg

Es folgten zwei unstete Jahre an unterschiedlichen Orten, wo er als der Priester, der „evangelisch“ predigte, immer wieder vertrieben und schließlich doch noch exkommuniziert wurde. In dieser Zeit heiratete Bucer die ehemalige Nonne Elisabeth Silbereisen und machte so noch einmal öffentlich klar, dass er sich ganz auf die Seite Luthers geschlagen hatte. So kam er 1523 nach Straßburg – als exkommunizierter Priester, der auch noch verheiratet war; als ein Flüchtling, der nicht wirklich willkommen war. Aber im relativ toleranten Straßburg, wo auch andere evangelisch predigten und sich die Reformation nach und nach etablierte, konnte Bucer seine neue Berufung finden: er durfte irgendwann wieder lehren und predigen und schrieb viele Bücher über die evangelische Lehre und das Leben, das daraus erwachsen sollte. Schritt für Schritt wurde er der Leiter der Reformation in Straßburg und darüber hinaus. Sein Einfluss reichte von vielen Städten Süddeutschlands, zum Beispiel Ulm und Augsburg, bis nach Köln. In seinen letzten Lebensjahren prägte er die Reformation in England mit. Seine Begegnung mit Luther und dessen Lehre hatten den Knoten in seinem Leben entwirrt und seinem Leben eine entscheidende Wende gegeben. Neben Luther, Zwingli, Calvin und Melanchton gehört er zu den prägendsten Gestalten der Reformation – auch wenn sein Name heute vielen unbekannt ist. 

Dr. Simone Flad ist Theologin und Dozentin am Theologischen Seminar Rheinland (TSR), kommt aus dem Schwabenland und lebte von 2004 bis 2015 in Sofia, Bulgarien. Ihre große Leidenschaft ist die (Kirchen-) Geschichte.

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