Das weiße Blatt
Leitartikel
Im Grunde ist das ja ein schönes Bild: Da liegt etwas ganz unbenutzt und frisch vor einem. Man kann es gestalten, der eigenen Kreativität freien Lauf lassen, sich fröhlich austoben. Dass dabei Dinge schief gehen und das Blatt unschöne Spuren davonträgt, weiß Detlef Eigenbrodt genau und schreibt über Lernerfolge, Enttäuschungen und die Entschlossenheit, dem Leben die Stirn zu bieten.
Ich bin schon oft gefragt worden, was ich eigentlich als Kind werden wollte. Und die Antwort ist nach wie vor die gleiche: Ich habe keine Ahnung. Schlimmer noch. Ich hatte absolut nicht die Spur einer Idee, welchen Beruf ich lernen und ausüben wollte. Mann, ich war 16! Einzelgänger, unsicher und gequält genug durch die garstigen Hänseleien meiner Mitschüler. Wegen meines Vornamens. Die Älteren wissen, wovon ich spreche. Und die Jüngeren vielleicht auch. Aber ich kam ja nicht dran vorbei, die Schulzeit näherte sich ihrem Ende, und ich musste irgendetwas tun. Alle meine Brüder waren Handwerker, sehr begabt, die wussten, wo sie hingehören. Und Papa hatte auch immer irgendetwas für sie zu tun. Nur bei mir war er sehr, sehr behutsam. Das Beste war, meinte er, wenn ich einen Hammer, oder welches Werkzeug auch immer, gar nicht erst irgendwie in die Hand nähme, nicht mal zum Aufräumen. Viel zu gefährlich. Da schrieb schon früh jemand auf das noch weiße Blatt meines Lebens. Dass mir das, was da geschrieben wurde, nicht gefiel, spielte maximal eine untergeordnete Rolle, eher aber gar keine. Ich konnte es geradezu vor meinem inneren Auge in großen Lettern geschrieben sehen: Detlef ist, was auch nur die einfachsten handwerklichen Tätigkeiten betrifft, völlig talentfrei und absolut unbegabt! Bäämm! Und weil ich nicht gerade vor Selbstbewusstsein strotzte, ließ ich es geschehen. Ich nahm hin, was da sprichwörtlich über mich ge-, und für meine Zukunft festgeschrieben wurde. Ich wurde dann Koch. Das hatte meine Mutter eingefädelt. Da musste ich zwar auch mit den Händen arbeiten, mit recht scharfen Messern obendrein, aber diese Dialektik schien niemanden wirklich zu verwirren. Jetzt wusste ich zwar, was ich werden würde, aber nach wie vor nicht, was ich werden wollte. Ich akzeptierte, was Menschen auf das leere Blatt meines Lebens schrieben, hatte aber keine Vorstellung davon, was ich gern schreiben würde. Ich wusste also im Grunde noch nicht viel.
Ich kann das nicht
Aber ich lernte dazu. Ich begriff Zusammenhänge und Konditionen, ich erkannte: was gesagt und geschrieben wird, ist deswegen noch lange nicht auch wahr. Zum Beispiel meine handwerkliche Unfähigkeit. Ich erinnere mich sehr genau an einen Vormittag, der Jahrzehnte zurückliegt. Ich war bei Freunden zum Frühstück, was wirklich schön war. Abgesehen davon war der Tag scheußlich. Grau und nass. Nicht schön. Dann sagte mein Freund: „So, und jetzt geht’s an die Arbeit. Hinter dem Haus muss eine Drainage gelegt werden, und da gibt’s einiges zu tun.“ Was mich dazu führte, mich zu verabschieden und ihm einen schönen Tag zu wünschen. Aber ich kam nicht weit. Bevor ich auch nur den Raum verlassen konnte, sagte er: „Nene, du hilfst mir!“ Alles Ausreden à la „ich kann das nicht“ halfen nichts, er drückte mir eine Spitzhacke in die Hand und zeigte mir, wo der Graben ausgehoben werden musste. Um es kurz zu machen: weder hackte ich mir ins Bein noch ihm. Wir arbeiteten Seite an Seite und hatten obendrein auch noch Spaß. Später sagte er nur: „Ich kann das nicht? Vergiss den Scheiß!“
„Die Ermutigung Gottes brauchte ich, weil das ziemlich weh tat und ans Eingemachte ging. Das Augenzwinkern war nötig, weil der Prozess ohne Humor kaum zu ertragen gewesen wäre.“
Das Blatt ist verschmiert
Ich fing dann mehr und mehr an, die Passagen meines Lebensblattes auszuradieren, die nicht passten. Solche, die unwahr waren, die hinderten und blockierten. Das war nicht einfach. Manche Lügen über mich hatte ich so lange geglaubt, dass ich meinte, sie nicht mehr auslöschen zu können. Doch nachdem ich gelernt hatte, mit einer Spitzhacke umzugehen, warum sollte ich dann nicht auch lernen können, mich den unbequemen Dingen der Vergangenheit zu stellen? Also machte ich mich an die Arbeit und entdeckte, ermutigt durch meine Beziehung zu Gott und sein immer wieder freundliches Augenzwinkern, was alles möglich war. Die Ermutigung Gottes brauchte ich, weil das ziemlich weh tat und ans Eingemachte ging. Das Augenzwinkern war nötig, weil der Prozess ohne Humor kaum zu ertragen gewesen wäre. Stück um Stück sorgte ich dafür, das nicht mehr weiße Blatt wieder weiß zu bekommen. Dazu brauchte es neben dem an mir Arbeiten auch eine Reihe von klärenden Gesprächen. Entschuldigungen und zerknirschte Bitten um Vergebung eingeschlossen. Mann, oh Mann. Oft genug dachte ich, es gehe nicht weiter, aber es ging. Ohne meinen Glauben wäre ich wohl kläglich gescheitert. Es ging schließlich um deutlich mehr als darum, alte Codes aufzudecken, sie als unzutreffend zu entlarven und neue zu schreiben. Buße, Vergebung und der Gnade Gottes kamen Schlüsselpositionen zu. Das verschmierte Blatt wurde stellenweise wieder weiß, und zwar richtig. Also nicht so, wie wir das von früher mit den Tipp-Ex-Streifen kennen, Sie erinnern sich? Da wurde durch das nochmalige Anschlagen eines Typen möglichst an der richtigen Stelle und unter Zuhilfenahme dieses Streifens der falsch geschriebene Buchstabe mit Weiß überschrieben. Meistens war das nicht sonderlich erfolgreich, und man sah hinterher immer sehr deutlich, was alles schiefgelaufen war. Die Gnade Gottes erinnert mich eher an mein Tablet, auf das ich mit einem Stift schreiben und bei Bedarf jeden einzelnen Eintrag dauerhaft und unwiederbringlich löschen kann.
Was will ich denn werden?
Allerdings geht es mir nicht nur darum, das Falsche von meinem Lebensblatt zu löschen, das wäre viel zu wenig. Im gleichen Zug will und muss ich mich ja auch damit beschäftigen, was ich neu darauf hinterlassen will. Welche Botschaften über mich sind nicht nur schmeichelhaft, sondern auch noch wahr? Welche Werte bedeuten mir so viel, dass sie hier hinterlegt sein müssen? Was möchte ich aus mir machen – ganz gemäß der frühen Frage „was willst du denn mal werden?“ – und was ist nötig, um das zu erreichen? Und ich entdecke: immer noch macht es hin und wieder Mühe, für neue Ordnung zu sorgen, immer noch habe ich viel Spaß, wenn ich Dinge entdecke, die mir gelingen, und immer noch spielt die Gnade Gottes eine erhebliche Rolle.
Jederzeit ein Neuanfang
Es ist schon einige Jahre her, dass ich mit meiner Frau in Hamburg war und wir uns das großartige Musical „Der König der Löwen“ anschauten. Atemberaubend schön! Nach der Vorstellung wollten wir noch etwas essen gehen, und auf dem Weg zum Restaurant auf der Reeperbahn sprach mich eine Frau mit Hund an, ob ich ihr nicht etwas Geld geben könnte. Sie war freundlich und unaufdringlich, und ich weiß bis heute nicht, was in mich gefahren ist. Hartherzig und lieblos ging ich weiter, ohne sie auch nur eines Blickes zu würdigen. Ich schäme mich tief dafür, auch jetzt, beim Niederschreiben dieser Zeilen. Im Restaurant überfiel mich eine große Wut über mich selbst, mein Essen schmeckte mir nicht, und ich betete mit jedem Atemzug: „Herr, lass die Frau noch da sein, wenn wir zurückgehen“. Ich wollte mich für mein unverschämtes und respektloses Verhalten entschuldigen, mit ihr reden, ihrem Hund übers Fell streicheln und ihr etwas Geld geben. Aber sie war nicht mehr da. Ich trage noch heute, Jahre später, schwer an meinem Mangel an Respekt und Menschlichkeit in jener Situation. Die Gnade Gottes hat dennoch zugeschlagen: Sie hat den „schlechten“ Text auf meinem Blatt markiert und dauerhaft gelöscht. Dafür bin ich Gott von Herzen dankbar. Doch die lebhafte Erinnerung an diesen Abend mahnt mich immer neu, dass mir so etwas nie wieder passieren soll.
Detlef Eigenbrodt, M.A., Leiter einer eigenen Agentur für Kommunikationsberatung und Redaktionsleiter dieses Magazins, träumt von einer eigenen Wohnung in Südafrika und freut sich bis zur Erfüllung an den herrlichen Plätzen in Deutschland. Der Ehemann und Vater von vier erwachsenen Kindern sitzt super gern in der Sonne seines Gartens am Rande des Odenwalds und stellt sich der Herausforderung des Alltags. myjabulani.com
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