Gar nicht so einfach
Ethik
Muss man immer sagen, was man weiß? Was soll man tun, wenn man Kenntnis von Lüge hat, von Halbwahrheiten? Welche ethische, moralische und gesellschaftliche Verantwortung ergibt sich daraus? Dr. Martina Kessler meint: über den richtigen Umgang mit Wahrheit lässt sich leichter schreiben, als ihn zu pflegen.
Gefühlt war mir der Unterschied zwischen Wahrheit und Lüge schon immer bekannt. Dennoch log ich, als ich ein Kind war, mal aus Angst vor Strafe, mal, um einer peinlichen Situation zu entgehen, und manchmal wollte ich damit einen Vorteil erreichen. Natürlich war ich auch im Umgang mit Halbwahrheiten – nicht wirklich lügen, aber auch nicht die ganze Wahrheit auf den Tisch legen – geübt. Als erwachsene Frau und Christin habe ich mittlerweile andere und klarere Werte. Und doch merke ich, dass ich bei diesem Thema überaus sorgfältig mit mir und meiner Umgebung umgehen muss. Vor einiger Zeit schellte es an der Haustüre. Ein amtlich aussehender Mann fragt mich: „Auf dem Bild ist doch sicher nicht ihr Mann?“ Sicher, die Frage war schlecht formuliert, aber ich hatte schneller „Nein“ gesagt, als ich denken konnte, obwohl ich meinen Mann erkannt hatte. Erst als ich die Haustüre geschlossen hatte, wurde mir bewusst, was ich getan hatte. Trotzdem: Wahrheit ist mir wichtig! Ich arbeite an mir!
Du hast es in der Hand
Unseren Kindern haben wir ab einem bestimmten Alter gesagt: „Wenn ihr uns belügt, werden wir das nicht unbedingt merken. Wir mögen das nicht, aber wir werden euch auch nicht akribisch kontrollieren und zwanghaft nach der Wahrheit suchen. Aber macht euch bewusst: Ihr werdet danach das schlechte Gewissen haben, nicht wir. Damit müsst ihr dann leben.“ Ein anderer Satz war: „Jeder kann mal Mist machen, jedem kann mal was Blödes passieren. Aber steht dazu! Alles andere macht es häufig nur schlimmer.“ Auch in der Erziehung ist es also unbedingt nötig, dass wir für uns selbst klären: Wie wichtig ist mir der Umgang mit der Wahrheit? Im Laufe meines Lebens wurde es mir immer wichtiger, wahrhaftig zu leben. Dabei war dann Ehrlichkeit ein so großer Wert geworden, dass ich manchmal die Liebe vergaß. Eine Freundin wies mich auf Matthäus 10, 16 hin: „Seid klug wie die Schlangen und ohne Falsch wie die Tauben.“ Inzwischen hatte ich gelernt, ohne Falsch wie die Tauben zu sein, aber ich musste lernen, klug wie die Schlangen zu agieren, ohne in Un- oder Halbwahrheiten zu verfallen.
Lügen und Wahrheit betreffen auch gesellschaftliche Vorgänge. Nehmen wir die aktuell diskutierte „Impfpflicht“ von der hartnäckig die Rede ist. Fakt ist, dass in Deutschland niemand zu irgendeiner Impfung gezwungen wird. Alles ist freiwillig – und doch hält sich diese Lüge. Woran liegt das? Weshalb wird sie immer wieder verbreitet? Auf der einen Seite steht – wie bei jeder Impfung – dass Impfungen Leben retten. Auf der anderen Seite gibt es natürlich (wie immer mehr oder weniger schlimme) Nebenwirkungen. Neben politischen Interessengruppen, die eine solche Falschmeldung gerne nutzen, gibt es genügend Bürger, die sich aus echter Sorge gegen jede beginnende staatliche Reglementierung des Persönlichen wehren. Vielleicht sehen sie die Notwendigkeit einer Impfung nicht ein, vielleicht, stehen sie gegen jeden Zwang auf, vielleicht, denken sie „Wehret den Anfängen“. Trotzdem ist diese Meldung ein Fake (eine Falschmeldung) und kein Fakt. Im privaten Umfeld kann man darüber reden, versuchen, zu überzeugen und Beweise anführen. Ob man eine Veränderung erreicht? Das liegt in der Hand der Gesprächspartner.
Was wirklich passiert ist
Viel schwieriger ist es in der medialen Welt. Gerüchte, Halbwahrheiten, üble Nachrede und Lügen halten sich dort viel länger, weil sie immer wieder vervielfältigt werden können. Vermutlich verschwinden sie nie. Und dennoch, auch hier kann ich in meinem Umfeld die Wahrheit immer wieder danebenstellen! Inwieweit sich dabei jemand engagiert, hängt ganz davon ab, wie stark man sich ein Thema zu eigen macht und wieviel Kraft man bereit ist zu investieren. „Was ist wirklich passiert?“ Diese Frage stelle ich häufig bei der Beratung von Menschen, weil unsere Wahrnehmung zum Beispiel auch von Vorerwartungen, Vorentscheidungen, Annahmen und Atmosphären geprägt ist. Manchmal baut man das „Gehörte“ so in das eigene Denken ein, dass man meint, so, und nur so, sei es.
Ratsuchende kommen mit allerlei Anliegen. Dabei geht es häufig um das, was andere Menschen getan oder unterlassen haben: Der Chef hat mich willentlich übersehen bei der Beförderung. Meine Mutter bevorzugt immer meine Schwester. Meine Freundin ist mir untreu. Mein Kind bevorzugt die Schwiegerfamilie … Dann frage ich, neben aller Empathie dafür, dass jemand zu einer solchen Beurteilung kommen kann, auch immer nach den Fakten. „Woran machst du das fest?“ Manchmal stellt sich dann heraus: Diese Beurteilung stimmt! Aber genauso oft kommen wir zu dem Schluss: Wenn man genau hinsieht, ist es ganz anders. Besonders schwierig verlaufen die Gespräche, wenn die Anerkennung der Wahrheit unerlässlich ist, aber die vor mir sitzende Person diese „aus Liebe“ oder Gnade der anderen Person gegenüber nicht anerkennen will. „Mein Mann liebt mich doch, aber er geht immer fremd.“ „Meine Tochter will ja arbeiten, aber jetzt ist sie schon wieder nach kurzer Zeit gefeuert worden, weil sie sich nicht unterordnen wollte.“ „Mein Chef sagt, ich sei wichtig für die Firma, aber er hat mich wiederholt aufs Abstellgleis gestellt.“ „In meinem christlichen Werk sind christliche Werte unbedingt zu beachten, aber jetzt hat mich mein Chef aufgefordert zu lügen.“ In solchen Gesprächen der Wahrheit zu ihrem Recht zu verhelfen, ist lohnend, aber anstrengend. Auch, weil ich als Beraterin weiß: Das wird dem Menschen jetzt weh tun. Trotzdem ist es in vielen Fällen unerlässlich.
„Im Laufe meines Lebens wurde es mir immer wichtiger, wahrhaftig zu leben. Dabei war dann Ehrlichkeit ein so großer Wert geworden, dass ich manchmal die Liebe vergaß.“
Zuverlässig und tragfähig
Was bedeutet Wahrheit eigentlich in der Bibel? Die alten Griechen, eine Kultur, die uns wesentlich geprägt hat, haben unter Wahrheit das verstanden, was schon ewig war und immer sein wird. Dazu gehören zum Beispiel die mathematischen Gesetze. Der Satz des Pythagoras galt, bevor man ihn entdeckte, also von Ewigkeit her, und wird immer gelten. Er gilt unabhängig von meinem und Ihrem Leben. Frau Merkel erklärte vor einigen Wochen, dass sie deshalb in der DDR Physik studiert habe, weil physikalische Wahrheiten Bestand hätten und nicht biegbar sein. Wenn man vom hebräischen Denken ausgeht, genügt es aber nicht, etwas als wahr zu erkennen. Wahrheit muss auch getan werden. Es geht also nicht nur um pures Wissen, sondern Wahrheit ist auch eine Person. Sie geschieht in Wort und Tat: Wahrheit ist die Wirklichkeit Gottes, die Wahrheit ist durch Jesus Christus GEWORDEN (Joh. 1, 17), wer Jesus ansieht, sieht die Wahrheit (14, 6), weil er die Wahrheit ist. Er sieht aber auch den Vater („Wer mich sieht, der sieht den Vater“; 14, 9), der Heilige Geist ist ein Geist der Wahrheit, das Wort Gottes ist Wahrheit, wer „die Wahrheit tut, kommt zu dem Licht“ (3, 21) – Menschen, in denen sich die Wahrheit entfaltet, die in der Wahrheit leben, werden die Wahrheit umsetzen.
Im hebräischen Wort Wahrheit steckt auch, zuverlässig und tragfähig zu sein. Ein zuverlässiger Mensch ist ein wahrhaftiger Mensch. Wenn Jesus also von sich sagt, dass er die Wahrheit ist, dann heißt das: Ihr könnt euch auf mich verlassen. Felsenfest!
Harmonie oder Frieden?
In mir tobte immer wieder ein Konflikt: Wahrheit oder Gnade? Was ist wichtiger? Gnade ohne Wahrheit ist billig und Wahrheit ohne Gnade hart! Es brauchte eine Weile, bis ich verstanden hatte: Wahrheit und Gnade gehören zusammen und müssen zusammen gelebt werden. Wenn beides gar nicht oder nur sehr schwach vorhanden ist, herrschen Krieg, Unterdrückung, Rache, Korruption und Lüge. Wenn man einseitig an der Wahrheit interessiert ist, dann wird es empathielos, durchaus mit Transparenz, zu schonungsloser Wahrheit und kalter Gerechtigkeit kommen. Schlägt das Pendel zur anderen Seite aus, wird man einem trügerischen Frieden nachjagen, Amnestie für kleine und große Vergehen leben und mit Harmonie zufrieden sein. Bedenken Sie: Harmonie und Frieden unterscheiden sich deutlich! Harmonie ist möglich, wenn man meint, Schmutziges, Belastendes und aneinander schuldig werden durch Nichtbeachtung ausblenden zu können. Ganz nach dem Motto: Was ich nicht sehe, gibt es nicht. Was man also unter den Teppich kehrt, ist wie nicht da! Irgendwann poppt es allerdings an die Oberfläche und oft ist es dann schlimmer als jemals zuvor.
Wahrheit und Gnade gehören zusammen! Aus Gnade versus Wahrheit muss Gnade und Wahrheit werden. Nur so kann echte Liebe, echter Schalom, entstehen. Man kann „fairsöhnt“ leben. Schalom herrscht da, wo Gnade und Wahrheit sich verbünden und Gerechtigkeit und Frieden sich küssen (siehe auch Psalm 85)! Dann wachsen Liebe und ein gutes Miteinander.
Muss ich sagen, was ich weiß?
Das heißt dann ganz praktisch, dass ich nicht versuche, die Wahrheit in Person zu sein, sondern die Werte Wahrheit und Gnade in Liebe auszuleben. Mögliche Sätze, mit denen ich heute manche Aussage vorab prüfe, lauten: Muss die andere Person das wirklich wissen? Welche Folgen kann es haben, wenn ich nicht alles sage, was ich weiß? Will die andere Person die Wahrheit wirklich wissen? Und wie kann ich sie dann so liebevoll sagen, dass meine Worte an sich sie nicht verletzen? Das mag Ihnen vielleicht seltsam erscheinen. Aber gerade in der Beratung ist das manchmal meine harte Wirklichkeit.
Mir hat die Auseinandersetzung mit all den genannten Elementen geholfen. Auf der einen Seite will ich nicht lügen, aber auch niemand die Wahrheit um die Ohren knallen. Ich möchte meinem Umfeld mit Gnade begegnen, aber nicht auf Kosten der Wahrheit. Mein Ziel ist es, Wahrheit und Gnade zum Wachsen zu bringen, damit Schalom entsteht, in welchem sich reife Liebe immer besser entfalten kann. Dabei will ich mich vom hebräischen Denken – erstens persönlich, zweitens in der Beratung von Menschen und drittens in meiner gesellschaftlichen Verantwortung – prägen lassen.
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