Eine Frage der Identität
Essay
Wir haben täglich ungezählte Möglichkeiten, uns zu verlaufen. Die Fakten des Lebens ein wenig zu beschönigen, sie anzupassen, zu beugen oder zu unseren Gunsten zu interpretieren. Aber tun wir es auch, bloß weil wir es können. Sandra Menges meint, das ist eine Frage der Identität.
Als ich merkte, dass meine Tochter mich anlog, gingen bei mir als Erziehungsperson alle Alarmglocken an. Als Mutter spürte ich die Enttäuschung über mich und sie. Aber es passierte immer wieder. Ich strafte, redete und fragte nach, aber wir kamen nicht weiter. Ich suchte die Ursache bei ihr und bei mir. Warum log sie mich an? Auch: Bin ich so eine Hexe, dass sie sich gar nicht traut, ehrlich zu sein? Es dauerte, bis sie lernte, nicht zu lügen, und ich lernte zu vertrauen. Aber wir haben es geschafft!
Kannst du mit der Wahrheit umgehen?
Als Mensch müssen wir das Lügen nicht lernen. Wir wissen genau, wie man es macht, ohne große Anleitung, und wir tun es ganz spontan und denken oft erst im Nachhinein an die Folgen. Und doch zerstört es unsere Beziehungen. Eine Beziehung ist ein zartes Geflecht von gegenseitiger Annahme, Vertrauen, Intimität und Miteinander. Lügen zerbrechen dieses Geflecht auf jeder Ebene. Eine Lüge sagt: Ich fühlte mich bedingt von dir angenommen und habe Angst, dass du mich ablehnst. Ich traue dir nicht zu, dass du mit der Wahrheit umgehen kannst. Es zerbricht die Intimität zwischen uns, da ich etwas zurückhalte. Du spürst es oder erfährst es und reagierst dementsprechend. Lügen brechen unsere „gemeinsame Welt“ auf in meins und deins. Misstrauen breitet sich aus und unser freier Umgang miteinander wird zerstört.
Ich bin überzeugt, dass es in der Partnerschaft oder Ehe keinen Platz für Lügen, Halbwahrheiten oder Enthaltung von Information gibt. Mein Mann und ich trafen vor der Ehe die Entscheidung, dass wir ehrlich miteinander umgehen würden. Über die Jahre haben wir viel gestritten, waren wütend aufeinander und enttäuscht voneinander, aber wir müssen uns nie Gedanken machen, ob wir einander die Wahrheit sagen oder nicht. Die Wahrheit hat oft sehr viel Schmerz verursacht, weil sie wehtat – und doch waren wir frei. Unsere Beziehung ist offen, ehrlich und ungeschminkt und wir vertrauen uns gegenseitig in jeder Hinsicht.
Innerhalb der Verwandtschaft ist es auch Thema – weil die Beziehungen oft mit jeder Person anders sind und weil die Beziehungen viel Geschichte mit sich tragen. Mit unseren eigenen Kindern und in der Ehe haben wir noch eine eins-zu-eins Beziehung. In der Verwandtschaft gibt es ein vielschichtiges Beziehungsgeflecht. Es sind Leute, die ich mir nicht ausgesucht habe, und es gibt ein Gemisch an Wertvorstellungen und Prägungen, die mitschwingen. Diese drei Regeln helfen mir sehr: Ich möchte die Wahrheit sagen und leben, ich möchte die Wahrheit in Liebe sagen und ich achte die anderen höher als mich selbst. Ist das einfach? Nein. Ist es möglich? Ja. Bringt es Verletzungen mit sich? Auf jeden Fall, aber deshalb gibt es Vergebung und Heilung von unseren Wunden in Christus!
Mache ich mit oder nicht?
Meine Arbeitswelt ist auch betroffen. Mein Chef, meine Kollegen, die Kunden, die Lieferanten. Wie berechne ich meine Arbeitsstunden im Homeoffice? Erzähle ich meinem Chef, dass ich bald abspringe? Wie ehrlich ist unsere Werbung? Welchen Grund gebe ich für eine Terminabsage an? In einem Ferienjob sagten die Kollegen zu meiner Tochter: „Arbeite nicht zu effizient, sonst wird der Chef mehr Leistung pro Stunde von uns allen erwarten.“ Ist das ehrlich? Mache ich mit oder nicht? Was, wenn ich gebeten werde, eine Lüge mit zu verbreiten, damit jemand einen Vorteil hat? Wie steht es mit Ehrlichkeit in Finanzberichten und Steuererklärungen? Fragen, die nicht leicht zu beantworten sind. Das Leitwort hier ist Integrität. Und natürlich die Frage, was für ein Zeugnis ich über meinem Glauben gebe.
Und dann gibt es unsere Freundschaften. Was sage ich zu meinen Freunden und was sage ich anderen über meine Freunde? Wie gehe ich mit den vertraulichen Informationen einer Freundin um? Was mache ich, wenn ich höre, dass verdrehte Wahrheiten über jemanden verbreitet werden? Und wenn meine Freundin mich nach meiner ehrlichen Meinung fragt, was sage ich dann? Hier leitet mein Streben, authentisch zu sein und transparent zu leben, meine Entscheidungen.
Ich fühle mich einfach überfordert
Es befreit mich ungemein, wenn ich keine Angst haben muss, was andere über mich erfahren oder sagen, und es befreit mich auch, wenn ich nicht in Angst lebe über das Gesagte oder das, was verschwiegen wird. Die Wahrheit macht tatsächlich frei und baut Vertrauen. Neulich war ich in einem komplexen Gespräch mit einer Person, die ich schätze. Ich hatte wirklich keine Ahnung, wie ich nach einigen Aussagen reagieren sollte, und hatte keine Zeit, eine angemessene Reaktion zu formulieren. Da sagte ich einfach die Wahrheit: „Ich fühle mich überfordert durch dieses Gespräch und weiß echt nicht, was ich sagen soll“, worauf sie antwortete: „Jetzt verstehst du endlich, wie es mir geht.“
„Wenn wir verstehen, dass unser Wert nicht durch andere definiert wird, sind wir frei, die Wahrheit zu wissen, zu leben und zu sagen, da wir unsere Menschenfurcht verlieren.“
Auch in der Gemeinde stehen wir oft mitten in diesem Thema. Zwei Perspektiven der gleichen Wahrheit werden als zwei Wahrheiten wahrgenommen – oder eher als meine Wahrheit und deine Fehlwahrnehmung. Wir reden übereinander statt miteinander. Wir sind nicht immer ehrlich, was unsere Erwartungen an jemand betrifft, der überlegt, ob er mitarbeiten wird oder nicht. Es wird nicht viel von dir verlangt, sagen wir, nur eine Stunde pro Woche – auch wenn wir jetzt schon wissen, dass Vorbereitung, Besprechungen und Geldsammelaktionen auch dazu gehören. Ehrliche Rückmeldung fehlt oft. Sonntag für Sonntag hören viele Pfarrer, wie gut die Predigt war, aber am Küchentisch und Nachbarszaun wird was anderes gesagt. So stand ich schon vor einigen verwirrten Pfarrern, die nicht verstanden, warum sie eines Tages plötzlich hörten, dass ihre Gemeinden Wege suchten, sie loszuwerden. Warum tun wir es? Was möchten wir dadurch erreichen? Wem tun wir einen Gefallen durch unseren Umgang miteinander?
Es gibt nur eine Wahrheit
Wichtig ist aber, weise mit der Wahrheit umzugehen. Da ist meine Motivation, etwas zu verschweigen oder aufzudecken, entscheidend. Ist mein Verhalten von Liebe geprägt oder nicht? Möchte ich bloß recht haben oder jemand in Verlegenheit bringen? Es gibt einen griechischen Spruch: Es gibt immer nur eine Wahrheit. Das stimmt. Aber wie gehe ich mit dieser Wahrheit um? Ich glaube, die Antwort liegt in unserer Identität in Christus. Wenn wir verstehen, dass unser Wert nicht durch andere definiert wird, sind wir frei, die Wahrheit zu wissen, zu leben und zu sagen, da wir unsere Menschenfurcht verlieren. Ich bin frei, die Wahrheit wahrzunehmen, zu akzeptieren und sie auf eine Art weiterzugeben, die anderen guttut und die nicht zerstört. Ich bin geborgen und sicher in meiner Gottesbeziehung und ehrlich mit mir selbst. Denn wer nicht ehrlich mit sich selbst ist, hat auch ein Problem, ehrlich zu anderen zu sein.
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