Ein Bild von Wirklichkeit

Mittendrin

Da, wo unbelegte Behauptungen den Alltag fluten, wo wahr sein soll, was nur laut und oft genug als Parole ausgegeben wird, wo einer ganzen Zunft vorgeworfen wird, zu lügen, zu betrügen und sich von den sogenannten Mächtigen missbrauchen und vor den Karren spannen zu lassen, da ist es Zeit für ein klärendes Wort. Von Jonathan Steinert.

Im Dezember 2018 gab das Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ bekannt, dass es jahrelang den Fälschungen eines seiner Autoren aufgesessen war. Der mehrfach preisgekrönte Reporter Claas Relotius hatte zahlreiche seiner Texte gefälscht, sich Protagonisten und Dialoge ausgedacht. Die Geschichten waren perfekt, wahr waren sie nicht. Der Fall hat nicht nur den „Spiegel“ erschüttert, sondern die ganze journalistische Branche. Wie konnte das passieren? Wie konnte es niemandem auffallen?  

Sagen, was ist

Das war das Motto von „Spiegel“-Gründer Rudolf Augstein. Im Fall von Relotius ist dieser Ansatz offenbar den Erwartungen an eine gute Geschichte zum Opfer gefallen. Bewusste Fälschungen oder „Fake News“ gab es in der Geschichte des Journalismus immer wieder. Mit Blick auf die Hunderttausenden von Beiträgen, die täglich in Zeitungen, Magazinen, online, im Radio oder Fernsehen veröffentlicht werden, dürften sie unrühmliche Ausnahmen sein. Journalisten sind der Wahrheit verpflichtet. Der Pressekodex, der die Leitlinien der journalistischen Ethik festhält, formuliert es so: „Die Achtung vor der Wahrheit, die Wahrung der Menschenwürde und die wahrhaftige Unterrichtung der Öffentlichkeit sind oberste Gebote der Presse.“ Dazu gehört, so heißt es dort ebenfalls, veröffentlichte Aussagen richtigzustellen, die sich nachträglich als falsch erweisen.

Der Qualität zuliebe

Um zu verstehen, wie Journalismus und Wahrheit zusammenhängen, ist es notwendig zu wissen, wie Journalismus funktioniert. Journalismus hat die Aufgabe, relevante, aktuelle Informationen zu veröffentlichen. Systemtheoretisch ließe sich seine Funktion so beschreiben: Er sorgt dafür, dass sich eine komplexe Gesellschaft selbst beobachten kann. Dafür müssen Journalisten aus den verschiedenen Bereichen der Gesellschaft Fakten sammeln, Zusammenhänge recherchieren, Meinungen erfragen, Informationen einordnen, ihre Bedeutung einschätzen – und am Ende die Komplexität reduzieren, also Dinge vereinfachen und verständlich machen. Ein Journalist veröffentlicht also nicht beliebig irgendetwas. Die zentralen Kriterien sind Relevanz und Aktualität. Auf welche Themen das zutrifft, hängt zum Beispiel vom Medium ab – eine Lokalzeitung wird Themen anders gewichten als die „Tagesschau“, ein christliches Magazin setzt andere Schwerpunkte als der Kultursender im Radio. Für Nachrichten sind vor allem Ereignisse und Themen bedeutsam, die etwa viele Menschen betreffen, folgenreiche Auswirkungen haben oder bei denen einflussreiche Länder oder Personen beteiligt sind. Die Entscheidung, worüber ein Medium berichtet, fällt nicht ein Journalist allein. Die Redaktion diskutiert und gewichtet die Themen. Sie kontrolliert auch die Qualität. Jeder Beitrag wird von mindestens einem weiteren Redakteur geprüft und korrigiert: Sind die Quellen zuverlässig, sind die Informationen belastbar, kommen verschiedene Perspektiven vor, sind die Schlussfolgerungen begründet? Erst dann kann ein Beitrag veröffentlicht werden. Das ist ein zentraler Unterschied zu den Sozialen Medien, wo es keine redaktionelle Kontrolle gibt.

„Journalismus hat die Aufgabe, relevante, aktuelle Informationen zu veröffentlichen. Systemtheoretisch ließe sich seine Funktion so beschreiben: Er sorgt dafür, dass sich eine komplexe Gesellschaft selbst beobachten kann.“

Gründlich recherchiert

Selbst ein Journalist weiß nicht alles. Deshalb gehört gründliche Recherche zu seinen edelsten Aufgaben. Er braucht Quellen, die ihm etwas über sein Thema verraten: Menschen, die sich darin auskennen und ihm Zusammenhänge erklären, Texte von anderen Journalisten, Auskünfte von Betroffenen oder Verantwortlichen. Um ein umfassendes Bild zu bekommen, ist es wichtig, verschiedene Quellen zu nutzen und auch zu prüfen, wo es Widersprüche gibt oder wer womöglich bestimmte Interessen verfolgt. Ein voreingenommener Informant macht nicht automatisch unwahre Aussagen. Aber sie sind von einer bestimmten Perspektive gefärbt: Ein Bürgermeister wird sehr genau erklären und belegen können, warum die neue Verordnung über die Straßenbaubeiträge die beste aller Lösungen für den Ort ist. Doch die Opposition im Gemeinderat und Anwohner sehen es womöglich anders und haben ebenfalls gute Argumente dafür. Für die Berichterstattung sind also mehrere Blickwinkel unerlässlich, denn die Wirklichkeit ist komplex – es gibt nicht die eine Wahrheit.

Nicht ohne Perspektive

Ein Journalist kann die Wirklichkeit nicht abbilden, sie nicht eins zu eins widerspiegeln. Er muss eine Auswahl an Informationen treffen, die er in seinen Beitrag aufnimmt, muss Informationen gewichten, in eine Reihenfolge bringen und dafür passende, verständliche Formulierungen finden. Ob er will oder nicht: Er zeichnet ein Bild von der Wirklichkeit. Ein möglichst facettenreiches oder auch eines, das ein Detail besonders unter die Lupe nimmt. Bestenfalls macht ein Journalist deutlich, woher er seine Informationen hat, damit das Publikum sie einordnen kann. Allerdings kommt ein Bild – der journalistische Beitrag – nicht ohne Perspektive aus. Und am Ende trägt auch der Pinselstrich selbst zur Wirkung bei, so wie der Ton die Musik macht. Trotzdem ist es wahr und hat nichts mit Manipulation zu tun. Leser und Zuschauer sind daher als aktive Mediennutzer gefragt, die verantwortlich und kritisch mit Informationen umgehen und vielleicht auch verschiedene Medien nutzen, um sich selbst ein breites Bild zu machen.

Vertrauen verdient

Forscher machen das Vertrauen in Journalismus an vier Ebenen fest, die sich auf die journalistisch beschriebene Wirklichkeit beziehen: Vertrauen in die Auswahl der Themen, in die Auswahl der Fakten, in die Richtigkeit von Beschreibungen und in Bewertungen. Dass das Vertrauen in den Journalismus in den vergangenen Jahren gelitten hat – Stichwort „Lügenpresse“ –, hat weniger mit bewussten Lügen seitens der Medien zu tun als eher mit Problemen auf einer dieser vier Ebenen. Eine als einseitig wahrgenommene Themenauswahl, unausgewogene Darstellungen oder nicht nachvollziehbare Einschätzungen. Journalisten haben eine große Verantwortung. Nach wie vor sind Medien für die Meinungsbildung ein entscheidender Informationslieferant. Doch Journalisten sind keine Maschinen. Sie können mit ihren Bewertungen daneben liegen, bedeutsame Informationen übersehen oder vielleicht auch aus Zeitdruck mal nicht so genau hinschauen. Das Internet und die dort verfügbaren Informationen versetzen das Publikum aber in eine mächtigere Rolle. Nutzer können journalistische Aussagen leichter überprüfen und abgleichen. Deshalb sollten Journalisten auch offen mit Mängeln umgehen und ihr Publikum als Gegenüber ernstnehmen. Dadurch und durch überzeugende Qualität können sie Vertrauen gewinnen. In einer Zeit, wo jeder zum Publizisten werden kann, ist guter Journalismus als Garant für zuverlässige Informationen wichtiger denn je.

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