Das Leben in der anderen Welt
Essay
Soziale Netze und Erlebnisplattformen müssen für alles herhalten. Was für die Einen Reiz und Vorteil ist, verdammen die Anderen als das Ende verantwortlichen Handelns. Um zu diesem Thema etwas Sinnvolles schreiben zu können, muss man wohl in erster Linie selbst betroffen und geneigter Poweruser sein. Und zwar einer mit dem Hang, das Kind nicht mit dem Bade auszuschütten. So wie Philipp Rüsch.
Mit Anfang Zwanzig war Into the Wild mein absoluter Lieblingsfilm. In diesem auf einer wahren Lebensgeschichte beruhenden Film macht sich Christopher McCandless auf die Suche nach Freiheit und Glück. Nach seinem College Abschluss bricht er alle Kontakte ab und zieht mit minimalem Besitz durch die Vereinigten Staaten. Er trifft spannende Menschen und erlebt viele Abenteuer. Zwei Jahre lang dauert seine Reise bis zu ihrem tragischen Ende in der Wildnis Alaskas. Christophers letzter Satz, der sich mir sehr eingeprägt hat, lautet: Happiness is only real when shared – Glück ist nur echt, wenn es geteilt wird. Nun könnte man diese Weisheit einfach eindimensional auf die Social Media übertragen. Die Hauptaktivität auf Instagram, Facebook, Snapchat, YouTube, WhatsApp und Co. ist Teilen. Wir teilen Bilder, Videos, Meinungen und quasi alles was digital teilbar ist. Demzufolge müssten besonders aktive Social Media Nutzer high sein vor Glück.
Wieviel Klicks braucht das Glück?
Leider entsprechen meine persönliche Erfahrung sowie die Ergebnisse einiger Studien zu Social Media genau dem Gegenteil. Menschen tendieren dazu, deutlich unglücklicher zu werden, je häufiger sie diese Plattformen nutzen. Vor allem in der Identitätsentwicklung befindliche Jugendliche haben stark unter negativen Einflüssen durch hohen Konsum sozialer Netzwerke zu kämpfen. Einfach ausgedrückt, stellen die Dinge, die wir auf Plattformen wie Instagram anschauen, oft nur aufpolierte Realitäten dar. Zum Großteil werden die schönen Seiten des Lebens geteilt, nicht aber die traurigen, langweiligen, und schmerzhaften Aspekte. So entsteht schnell der Eindruck, man sei nur von Glückspilzen umgeben, die leichten Fußes durchs Leben gehen, und dass der eigene Alltag mit seiner Monotonie, Arbeit und abends-müde-ins-Bett-fallen das Ergebnis des eigenen Versagens sei. Dass dies schnell zu Neid führt, ist keine Überraschung. Und Neid ist nun mal weder ein gutes Lebensgefühl noch ein gesunder Erfolgsmotor. Warum nutzen dennoch so gut wie alle 15-65-jährigen Deutschen täglich Social Media, inklusive Messenger-Dienste?
Warum verbringt der Durchschnitts-Deutsche 1 1/4 Stunden pro Tag auf diesen Plattformen? Dazu gibt es viele Antworten. Eine ist das Glückshormon Dopamin. Es wird ausgeschüttet, wenn wir Likes, Kommentare und Follower bekommen. Leider ist dieses Glück nur von kurzer Dauer. Es hat aber das große Potential, süchtig zu machen. Auf der Suche nach mehr dieser kleinen Glückstropfen, verbringen wir zunehmend mehr Zeit auf diesen Seiten als ursprünglich geplant. Und wenn wir endlich abschalten, fühlen wir uns selten glücklich und erfüllt, da das Dopamin dann schon verflogen ist. Was ist also die Lösung? Einfach alle Social Media Accounts löschen? Das ist sicherlich eine Möglichkeit. Aber dann bitte auch alle Spiele, Netflix und Nachrichten-Apps vom Smartphone löschen, denn die haben das gleiche Dopamin- und Zeit-raub-Potential.
Wie kann ich meinen Nutzen finden?
Ich plädiere eher für einen verantwortungsbewussten und reflektierten Umgang mit dem, was man hat. Ich persönlich habe bemerkt, dass ich vor allem auf meinem Smartphone zu viel Zeit auf sozialen Netzwerken verbracht habe. Also habe ich letztes Jahr dort kurzerhand alle Social Media Apps bis auf WhatsApp gelöscht. Meine Accounts sind weiterhin aktiv, aber ich nutze sie über den Laptop. So hat sich die Verweildauer deutlich reduziert.
„Menschen tendieren dazu, deutlich unglücklicher zu werden, je häufiger sie Social-Media-Plattformen nutzen.“
Seien wir ehrlich: Die Social Media haben zahlreiche Vorteile. Vieles lässt sich über sie schnell und einfach organisieren, man bleibt auf dem Laufenden wie es Freunden am anderen Ende der Welt geht, gesunder Meinungsaustausch ist bereichernd, viele Geschäfte finden neue Kunden. Ich bin dankbar für Soziale Netzwerke. Ich wäre sicherlich mit weniger Freunden noch in Kontakt ohne diese neuen Medien. Sie sind Teil unserer Gesellschaft, und verstärkt vernetzt zu sein, ist Fortschritt. Wir wollen nicht ins Brieftaubenzeitalter zurück. Aber wir müssen lernen, reif und sinnvoll mit den neuen Instrumenten umzugehen, um sie so nutzen zu können, dass sie uns zum Vorteil dienen.
Jeder muss für sich selbst herausfinden, was ihn zufrieden oder aber unausgeglichen macht. Dann liegt es an uns, eigenverantwortlich Entscheidungen zu treffen und umzusetzen. Es bringt ja nichts, über Social Media zu schimpfen. Die Erfinder dieser Seiten haben auf Gewinnmaximierung orientierte Algorithmen entwickelt. Sie stellen Dienstleistungen zu Verfügung, die wir mit Aufmerksamkeit bezahlen. Die Frage ist, ob wir bereit sind, unsere Zeit und Aufmerksamkeit zu «überweisen». In dieser Entscheidung sind wir im Grunde genommen frei. Was uns bremst, wenn es darum geht, gut zu entscheiden, ist höchstens unsere Lust auf schnelles Dopamin-Glück und unser auf Bequemlichkeit programmiertes Hirn.
Wie lange lebt eine Schneeflocke?
Interessanterweise habe ich noch von niemandem gehört, der sich als Neujahrsvorsatz vorgenommen hat, mehr Zeit auf Instagram oder Facebook zu verbringen. Wohl aber Dinge wie vermehrt Bücher lesen, Freunde treffen oder Sport treiben.
„Ich bin überzeugt, dass analog geteiltes Glück länger hält als digital geteiltes.“
Ich glaube, viele spüren, dass es im Leben kurzfristiges und langfristiges Glück gibt. Ein Like ist wie eine Schneeflocke. Ich freue mich über sie, aber leider schmilzt sie schnell. Manchmal schneit es stark, dann kann ich daraus zwar einen Schneeball, einen Schneehaufen und vielleicht (wenn der Post super kreativ war) auch ein Iglu bauen. Aber in kurzer Zeit ist alles geschmolzen. Wir dürfen uns über Likes genauso wie über Schneeflocken freuen. Gefährlich wird es nur, wenn wir versuchen sie festzuhalten und unser Lebensglück darauf zu bauen. Dann ist Enttäuschung vorprogrammiert. Beziehungen dagegen, die man mit Zeit, Zuneigung, Zuhören, Lachen, Weinen und sich spüren aufgebaut hat, die sind beständiger. Das ist langfristiges Glück, weil wir dadurch andauernde Erinnerungen geschaffen haben; genauso wie durch das Erleben eines Sonnenaufgangs in den Bergen oder das Konzert unserer Lieblingsband.
Das ist, glaube ich, auch der beste Ausweg für Menschen, die in digitalen Parallelwelten gefangen scheinen. Sie müssen erleben, wie sich das langfristige Glück in der analogen Welt anfühlt, was es bedeutet, Freundschaften aufzubauen, Händedruck zu spüren, Natur zu erleben. Christopher McCandless Satz über Glück hat heute noch Gültigkeit. Aber ich bin überzeugt, dass analog geteiltes Glück länger hält als digital geteiltes. Übrigens formulierte Christopher seinen Satz nicht mit Social Media im Blick, denn er schrieb ihn 1992; Jahre vor den ersten digitalen sozialen Netzwerken.
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