Jedes Land ist meines Vaters Land

Essay

Ein bisschen merkwürdig ist das schon: Es gibt Menschen, die lieben es, an den Strand zu gehen, und finden es fürchterlich ärgerlich, Sand an den Füßen zu haben. Das Eine ist aber ohne das Andere nicht zu haben. Wer Istanbul genießen will, muss dafür in die Türkei reisen. Ohne Wenn und Aber. Und wer Pekingente liebt, kriegt sie sicher nicht nach deutschem Rezept. Uwe Heimowski wirft einen Blick auf die Widersprüchlichkeit unseres Denkens, fragt nach Verantwortung und zitiert Bramwell Booth.

Die Antrittsrede von Bundespräsident Johannes Rau war in meiner Generation durchaus umstritten. Ich bin Jahrgang 1964. Wir hatten es quasi mit der Muttermilch aufgesogen: Wer eine Deutschlandfahne hisst oder gar den Satz „Ich bin stolz, ein Deutscher zu sein.“ in den Mund nimmt, der muss (ein mehr oder weniger verkappter) Nazi sein. Auch wer positiv von Patriotismus sprach, stand unter Generalverdacht. Nun war aber Johannes Rau, „Bruder Johannes“, der fromme SPD-Mann aus Wuppertal-Barmen, wirklich keiner, dem man in dieser Richtung irgendetwas hätte unterstellen können. Und genau deswegen war er der Richtige, um den Finger in diese Wunde meiner Generation zu legen. Wir mussten neu lernen: Nur wer den eigenen Staat bejaht, kann sich konstruktiv kritisch mit ihm auseinandersetzen und selbst Verantwortung übernehmen. 

Wir haben uns verpflichtet

Spätestens 1990 wurde der Zusammenhang zwischen nationalen und internationalen Interessen überdeutlich. Die Wiedervereinigung, geregelt im sogenannten Zwei-plus-Vier-Vertrag zwischen den beiden Deutschen Republiken sowie Frankreich, der Sowjetunion, Großbritannien und den Vereinigten Staaten von Amerika, wurde nur möglich, weil Deutschland bereit war, sich verpflichtend in die Europäische Union zu integrieren. Das vereinte Deutschland gab (und gibt) es nur als ein europäisches Deutschland. Wer das Erbe der Montagsdemonstranten („Wir sind das Volk“), ohne die es keine friedliche Revolution gegeben hätte, ehren und weiterführen will, der grenzt sich nicht gegen andere Länder ab.

„Ich will nie ein Nationalist sein, aber ein Patriot wohl. Ein Patriot ist jemand, der sein Vaterland liebt, ein Nationalist ist jemand, der die Vaterländer der anderen verachtet. Wir aber wollen ein Volk der guten Nachbarn sein, in Europa und in der Welt.“

Wir haben uns verändert

Einen Paradigmenwechsel im Umgang mit den nationalen Symbolen brachte die Fußball-Weltmeisterschaft 2006. Junge Menschen sangen die Nationalhymne – und feierten beim Public-Viewing fröhliche Partys zusammen mit Fremden nach dem Motto dieser WM in Deutschland: „Die Welt zu Gast bei Freunden.“ Schwarz-rot-goldene Banner hingen aus den Fenstern, Fähnchen schmückten die Autos. Bundespräsident Horst Köhler, Johannes Raus Amtsnachfolger, bemerkte augenzwinkernd, er sei froh, dass er nicht mehr als einziger Deutscher mit einer Flagge am Auto fahren müsse. 

Um ehrlich zu sein: Ich habe eine Weile gefremdelt mit dieser neuen Selbstverständlichkeit, mit der junge Menschen sich die Hand auf die Brust legen und die Nationalhymne singen. Doch der Begriff des Patrioten, wie Johannes Rau ihn gebraucht hatte, hat mir geholfen: Ein Patriot liebt sein Vaterland und ist gleichzeitig ein guter Nachbar in Europa und der Welt. In diesem Sinne kann ich stolz sein, dass Deutschland aus seiner Geschichte gelernt hat und internationale Verantwortung übernimmt. Mir kamen die Worte „Ich bin stolz, ein Deutscher zu sein“ das erste Mal 2015 über die Lippen, als Deutschland – in Person von Kanzlerin Angela Merkel – seine Grenzen gegenüber den Menschen in Not nicht verschlossen hat. Vor fünf Jahren war das. Ein schmales halbes Jahrzehnt ist vergangen, ein Windhauch der Geschichte. Doch die Welt hat sich seitdem in einer rasenden Geschwindigkeit verändert. Die AfD hat die politische Landschaft in Deutschland durcheinandergewirbelt. Weltweit sehen wir die Rückkehr zu eigensinnig nationalen Interessen: von Putins Alleingängen über Trumps „America first“ bis zu Erdogans Träumen von einer türkischen Großmacht. Wir sehen am Flüchtlingselend auf Lesbos, dass die Europäische Union als Solidargemeinschaft versagt.

„Keine Nation hat das Recht, sich über eine andere zu erheben, und keine darf die andere allein lassen.“

Wir haben eine große Chance

Dabei wird gerade jetzt, in den ersten Monaten des Jahres 2020, brutal deutlich, wie wichtig es ist, nationale und globale Interessen zu verbinden: Das Corona-Virus hat vor den einzelnen Staatsgrenzen nicht Halt gemacht. Wir spüren neu und intensiv, wie sehr wir international vernetzt sind. Wir werden uns der wirtschaftlichen Abhängigkeiten bewusst, etwa wenn Lieferketten zusammenbrechen und ganze Wirtschaftszweige stillstehen. Aber wir erleben auch die grenzüberschreitende Zusammenarbeit von Forschern auf der Suche nach Heilmitteln und Impfstoffen. Wenn die Corona-Krise eine Chance bietet, dann die, neu zu entdecken, dass die Weltgemeinschaft gemeinsam auf ein und demselben Globus lebt.

Globale und nationale Interessen sind kein „Entweder-oder“, sondern ein „Sowohl-als-auch“. Das wird in vielen Politikfeldern deutlich: Wenn wir den ökologischen Fußabdruck in der westlichen Welt nicht verringern, dann wird sich der Klimawandel weiter beschleunigen und Dürren oder Flutkatastrophen, die in den vergangenen Jahren überproportional angestiegen sind, werden sich noch weiter ausbreiten. Die Folge sind weitere Flüchtlingswellen. Wenn wir weiter zu Dumpingpreisen konsumieren wollen, kann das nur auf Kosten der Ärmsten geschehen: Kinderarbeit und Sklaverei haben weltweite Höchststände erreicht. Doch geschichtlich hat sich gezeigt: Ausbeutung führt zu Aufständen und Bürgerkriegen. Wer Frieden langfristig sichern will, der muss für Gerechtigkeit sorgen.

Wir haben eine große Verantwortung

Als Christen können wir einen wichtigen Beitrag leisten, wenn es darum geht, die nationale Identität und die globale Verantwortung zu verbinden. Als Bürger unseres Landes sind wir aufgefordert, für unsere „Obrigkeit“ zu beten (Röm 13) und aktiv das Beste für unsere Stadt (und unser Land) zu suchen (Jer 29). Als Christen in Deutschland können wir stolz sein auf unser geistliches Erbe als Land der Reformation und der friedlichen Revolution. Und gerade als Christen in Deutschland müssen wir uns beugen unter die Schuld des Nationalismus und weltweite Verantwortung übernehmen. Da wir uns als Kinder Gottes verstehen, muss für uns klar sein: „Jedes Land ist meines Vaters Land“ (Bramwell Booth, zweiter General der Heilsarmee). Keine Nation hat das Recht, sich über eine andere zu erheben, und keine darf die andere allein lassen.

Denken wir an Gottes Verheißung an Abraham: „In dir sollen gesegnet sein alle Völker“ (1. Mose 12, 2) und an den Auftrag von Jesus: „Gehet hin in alle Welt und machet zu Jüngern alle Völker (engl.: nations)“ (Matthäus 28, 19). Glaube baut Brücken zwischen Menschen – und Patrioten – aus allen Nationen.

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