Alle denken an sich. Nur ich denk‘ an mich!

Psychologie

Drei Wochen habe ich nach Mehl gesucht und der notwendige Toilettenpapiereinkauf erforderte viel Geduld. Meine Vorratshaltung ist in den letzten Jahren immer mehr zurückgegangen. Jetzt erweist sich das als ein klarer Nachteil. Den Egoismus der Mehl- und Toilettenpapier-Hamsterer fand ich richtig ärgerlich. Da stellt sich doch die Frage: Wieviel Egoismus ist gesund?

Alfred Adler, der Gründer der Individualpsychologie, beschreibt gesundes Gemeinschaftsgefühl. Für ihn war es der Gegenspieler zum Machtstreben des Menschen. Er sah das Gemeinschaftsgefühl als zentral an und zeigte dabei folgende Facetten auf: wir alle sind Teil eines größeren Ganzen. Durch das Gemeinschaftsgefühl treten wir mit anderen in Beziehung. Hierin zeigen sich Freundschaft, Wohlwollen, Nächstenliebe und Solidarität. Das Gemeinschaftsgefühl veranlasst uns zur Kooperation. Lebensaufgaben können nur gemeinsam bewältigt werden. Allerdings setzt die Kooperation soziale Gleichwertigkeit voraus. Und: das Gemeinschaftsgefühl ist zum Nutzen aller und führt zu uneigennützigem Handeln oder zum Einsatz für das Gemeinwohl.

Gesunder Egoismus

Zum gesunden Gemeinschaftsgefühl gehört gesunder Egoismus, der mit einer gesunden Selbstaufgabe einhergeht. Menschen mit einem gesunden Egoismus sehen es als ihre Verantwortung, auf sich selbst zu achten und für sich selbst zu sorgen. Sie sind in der Lage, sich dem anderen auch mal zuzumuten, aber überziehen es nicht. Gesunde Selbstaufgabe ist entweder ein Geschenk an andere Menschen oder sie ist schlicht geleitet von der Einsicht in die Notwendigkeit. Gesunde Selbstaufgabe geschieht aber nicht, damit der Geber glücklicher wird, sondern, weil andere Gutes erfahren sollen. Dramatisch erlebt das eine befreundete südafrikanische Familie. Der Mann ist Theologe, die Frau Ärztin und im Krankenhaus auf einer Station mit Corona-Patienten tätig. Die private Folge: Die Ehefrau und Mutter lebt bis auf Weiteres isoliert vom Rest der Familie im eigenen Haus, welches in Familien- und Ärztinnenbereich eingeteilt werden musste. Über Wochen wird es keinen Kontakt geben dürfen. Die Ärztin ist im Sinne ihres Berufsethos unterwegs: sie hilft Menschen. Die Familie muss geschützt werden. Alle müssen ihre Bedürfnisse zurückstellen durch die Trennung von Tisch und Bett.

Die Grenze von Selbstlosigkeit ist allerdings erreicht, wenn im Zuge der Aktion das eigene Leben in Gefahr geraten könnte. Das ist eine wichtige Grundregel der Ersten Hilfe! Aber Achtung: Hier geht es um echte Gefahr für Leib und Leben, was ja im Alltag – Gott sei Dank – nicht ganz so oft vorkommt. Menschen mit gesundem Gemeinschaftsgefühl und gesundem Selbstwert stellen sich mit Blick auf den anderen immer auf einer guten Basis des Selbstwertes die Frage: „Was brauchst du?“ oder „Was tut dir gut?“.

Toxischer Egoismus

Toxischer Egoismus dagegen zerstört das Gemeinschaftsgefühl und fragt zuerst und ausschließlich: „Was brauche ich?“ und „Was tut mir gut?“. Obwohl wir alle Teile eines größeren Ganzen sind, denken manche Menschen vor allem an sich selbst. So wurde zum Beispiel in den letzten Wochen in allen Teilen der Welt gehamstert. Dies ist eine (ohnmächtige) Strategie, (vermeintliche) Sicherheit herzustellen, und zwar auf Kosten der Gemeinschaft. Natürlich haben auch Beziehungen gelitten. Statt Wohlwollen, Nächstenliebe und Solidarität wurde – zumindest auf der großen Bühne der Weltpolitik – immer wieder nach Schuldigen gesucht. Aber auch Fake-News und egoistische Ziele, zum Beispiel Corona-Partys oder der zu frühe Ruf nach Wiederaufnahme gottesdienstlicher Zusammenkünfte, stören die Gemeinschaft. Die Schauspielerin Annette Frier fasst zusammen: „Ohne Nächstenliebe kein Gemeinsinn“. Wenn Menschen zum Nutzen aller Gesichtsmasken tragen, ist das sicherlich lobenswert. Wenn aber Krankenhäuser keine Masken bekommen, weil diese irgendwo gehortet werden oder die Preise in unethische Dimensionen rutschen, dann ist das Gemeinschaftsgefühl und -wohl gestört und das Handeln egoistisch.

„Menschen mit einem gesunden Egoismus sehen es als ihre Verantwortung, auf sich selbst zu achten und für sich selbst zu sorgen.“

Toxische Selbstaufgabe

Toxische Selbstaufgabe geschieht, wenn Menschen deutliche Minderwertigkeitsgefühle haben. Dann fragen sie zwar auch: „Was brauchst du?“ oder „Was tut dir gut?“, aber sie selbst sind der Preis dafür, indem sie sich opfern. Sie machen sich klein und geben anderen sehr viel Raum. Tückisch dabei ist, dass die sich selbst kleinmachende Person oft von anderen unterschwellig einen hohen Einsatz für die Gemeinschaft erwartet. 


Wer sich immerzu an andere meint verschenken zu müssen, kann von unbewussten Forderungen geleitet sein. Möglich ist auch eine augenscheinliche Selbstaufgabe, die aber bei genauem Hinsehen sehr erdrückend ist. Dies ist dann der Fall, wenn jemand Macht durch Ohnmacht hat: Thomas sagt zum Beispiel, er wolle seine Familie glücklich machen, aber alle spüren, dass sie ihm auf jeden Fall sichtbar dankbar sein müssen, damit es nicht zu einer miesen Stimmung kommt.


Beide Varianten der Selbstaufgabe sind deshalb toxisch, weil sie ein wirklich gutes und gesundes Miteinander und Gemeinschaftsgefühl verhindern. Wenn Sie bei sich eine dieser Facetten selbst erkennen, dann reden Sie bitte nach Möglichkeit mit qualifizierten Seelsorger/-innen darüber.

Nicht weniger und nicht mehr

Ziel muss sein, das Gemeinschaftsgefühl in gesundem Egoismus und gesunder Selbstaufgabe reifen zu lassen. Dazu kann das Doppelgebot der Liebe hilfreiche Anregungen geben. Jesus empfahl seinen Jüngern „Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben, von ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit all deinen Gedanken“ und „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“ (Matthäus, 22,37 + 39, NLB). Geh mit dem anderen so um, wie du mit dir selbst verfährst! Nicht weniger, weil das in toxischen Egoismus führt; aber auch nicht mehr, weil das in toxische Selbstaufgabe führt. Das Neue Testament setzt voraus, dass Menschen sich selbst lieben. Gut so! Im Doppelpack mit der Liebe zu Gott wird diese Selbstliebe zu einem tragfähigen Fundament, auf dem das Gemeinschaftsgefühl die Stürme des Lebens aushält.

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