Auf dem Weg zu sich selbst

Grundsatz

Vielleicht löst das neue Wort „Selbstoptimierung“ irgendwann das alte „Selbstverwirklichung“ ab. So oder so: Wir müssen uns bewusst machen, welches Selbst da eigentlich verwirklicht oder optimiert werden soll. Damit fragen wir nach dem Kern unserer Existenz, nach dem Sinn des Menschseins überhaupt – nach unserer Bestimmung. Von Dr. Hans-Arved Willberg.

Wenn ich nach meiner Bestimmung frage, dann will ich wissen, wozu ich da bin. Damit frage ich nach dem Sinn und nach der Ethik. Selbstverwirklichung bedeutet, mit dieser Zielrichtung seine Bestimmung zu erfüllen, und Selbstoptimierung heißt demnach, dies auf optimale Weise zu tun. Dafür stehen uns drei Modelle zur Wahl: Unsere Bestimmung liegt darin, uns selbst auf egoistische Weise zu verwirklichen; unsere Bestimmung liegt darin, uns selbst auf verantwortliche Weise zu verwirklichen oder unsere Bestimmung liegt darin, andere darüber entscheiden zu lassen, was aus uns wird. Die ersten beiden Modelle lassen sich unter den Begriff „Selbstbestimmung“ fassen, den dritten nennen wir „Fremdbestimmung“.

Jeder ist sich selbst der Nächste

In den aufblühenden USA der Nachkriegszeit machte sich eine weltanschauliche Bewegung breit, die sehr großen Einfluss auf das Selbstverständnis vieler Unternehmer und Politiker gewann: der sogenannte „Objektivismus“, initiiert durch die philosophische Schriftstellerin Ayn Rand, deren Veröffentlichungen ungeheuer großen Absatz fanden. Die „Objektivisten“ vertraten die uneingeschränkte Entfaltung kapitalistischer Interessen mit dem Zweck der persönlichen Bereicherung nach dem Motto „Jeder ist sich selbst der Nächste“. Speziell auf Nordamerikaner wirkte diese Sichtweise besonders verlockend, weil sie versprach, den „American Dream“ grenzenloser Freiheit zu erfüllen. Es entstand ein regelrechter Kult mit geradezu religiösen Zügen. Dem Rest der Welt fiel das kaum auf, dafür aber irritieren ihn die langfristigen Wirkungen dieser Bewegung heute umso mehr: sie bahnte an, was in der „America First“-Politik des Donald Trump heute ungezügelt zum Ausbruch gekommen ist. 

Der Egoismus als Ideologie der Bereicherung ist die treibende Kraft im modernen Kapitalismus überhaupt. Er hat sich in den vergangenen Jahrzehnten mehr denn je internationalisiert und besonders auch das weltanschauliche Vakuum der ehemaligen kommunistischen Territorien gefüllt. Diese Dynamik treibt den Globus von Tag zu Tag mehr auf den Abgrund zu. Selbstoptimierung in diesem Sinne ist zu definieren als Luxusverfeinerung und Machtausweitung der Reichen und Perfektionierung der Konsumenten, von deren Hingabe sie leben und die auch gern so reich und angesehen wären wie sie. Mit zunehmender wissenschaftlicher Objektivität zeigt sich mehr und mehr, dass diese Form der Selbstverwirklichung die Welt zerstört. 

Das Glück gelingender Beziehungen

Zeitgleich mit dem Ego-Kult des „Objektivismus“ entstand ebenfalls in den USA eine ebenfalls große Bewegung mit ebenfalls großer und nachhaltiger Wirkung, aber ganz anderer Weltanschauung und Zielrichtung: die sogenannte „Humanistische Psychologie“. Sie schloss sich der geistesgeschichtlichen Überlieferung des Humanismus an. Demnach ist der Mensch dazu berufen wie auch fähig, in freier Selbstbestimmung verantwortlich für die Welt, in der er lebt, die Mitmenschen und sich selbst zu sorgen, jeder so, so wie es seinen individuellen Gaben und Grenzen entspricht. Das gelingt, wenn er ehrlich zu sich selbst ist, seine wahren Bedürfnisse erkennt und ernst nimmt und eine realistische bejahende Haltung zum Leben einnimmt. Von Beginn an hat die Humanistische Psychologie ausdrücklich betont, dass unser größtes Bedürfnis darin besteht, das Glück gelingender Beziehungen zu erfahren, was beinhaltet, dass wir uns nirgends befriedigender selbst verwirklichen als darin, für andere da zu sein. Die Humanistische Psychologie floss geographisch, zeitlich und inhaltlich mit der Mental Health Bewegung zusammen, die eine umfassende Reform des Umgangs mit seelisch kranken Menschen und die systematische Erforschung der wissenschaftlich feststellbaren Kennzeichen normalen seelisch gesunden Lebens hervorbrachte. Die modernen Konzeptionen von Seelsorge sind – wie auch andere Formen der Beratung und Pädagogik – in hohem Maß durch die Humanistische Psychologie geprägt. 

Der Humanistischen Psychologie entstammen die Begriffe „Selbstverwirklichung“ und „Selbstaktualisierung“. Selbstverwirklichung ist Selbstaktualisierung, indem eine Person das reale Potenzial auf konstruktive Weise aktiviert, das in ihr schlummert, in verantwortlicher Ausgewogenheit zwischen fremden und eigenen Interessen. Darin findet sie sich selbst und überwindet den inneren Konflikt der Selbstentfremdung. Selbstoptimierung ist bei dieser Voraussetzung dadurch definiert, dass man das Allerbeste aus seinen Gaben macht, indem man sie auf sinnvolle Weise in den Dienst stellt. In der Selbstentfremdung lebt hingegen, wer sein Heil in der egoistischen Selbstbestimmung sucht, denn er bindet seine Identität an Äußerlichkeiten und opfert die echten eigenen Bedürfnisse wie die seiner Umwelt dem Streben nach Besitz, Ansehen und Macht.

Gott traut uns was zu

Dem Humanismus wird oft vorgeworfen, er überschätze die Fähigkeit des Menschen zur verantwortlichen Selbstbestimmung. In der Tat: Humanismus funktioniert nicht ohne ein optimistisches Menschenbild. Je nach Weltanschauung und Religion kann man aber die optimistische Sicht vom Menschen auf verschiedene Weise begründen. Ein optimistisches Menschenbild aus christlicher Perspektive geht davon aus, dass Gott der ganzen Menschheit definitiv und unverbrüchlich sein hoffnungsvolles Jawort gegeben hat. Humanistisch gedacht kann man daraus folgern: Gott traut der Menschheit trotz ihrer wahnsinnigen Unmenschlichkeiten über die Jahrtausende hinweg unverbrüchlich zu, dass sie sein Ziel mit ihr, endlich einmal menschlich zu werden, erreichen wird. Die Religionen waren allerdings bislang eher wenig von diesem Zutrauen beseelt. Überwiegend vertraten sie ein recht pessimistisches Bild vom Menschen.

„Demnach ist der Mensch dazu berufen wie auch fähig, in freier Selbstbestimmung verantwortlich für die Welt, in der er lebt, die Mitmenschen und sich selbst zu sorgen, jeder so, so wie es seinen individuellen Gaben und Grenzen entspricht.“

Damit begründeten sie ihre Lehren, die Gläubigen sollten nicht nur möglichst schlecht von sich selbst denken und statt sich selbst zu bestimmen brav den Diktaten der Gottheiten gehorchen, sondern das Gelingen ihres Lebens sei auch davon abhängig, dass sie sich wie dumme Schafe dem Hirtendienst der religiösen Führerschaft überließen. Dadurch wurden sie zu riesigen Machtapparaten in Konkurrenz zur weltlichen Macht oder – zu kaiserlichen Zeiten – in Personalunion damit. Oder umgekehrt: in atheistischen Systemen ersetzte die weltliche Macht die religiöse Diktatur. Selbstoptimierung unter solchen Voraussetzungen ist die Perfektionierung der Untertanen. 

„Brot und Spiele“ hieß der Slogan im alten Rom, um zu garantieren, dass die Untertanen gefügig blieben. Die Perfektionierung der Konsumenten deckt sich mit der Perfektionierung der Untertanen. Die scheinbar grenzenlose Freiheit der Egoisten, sich selbst zu optimieren, ist Selbstbetrug. Es gibt fast immer noch mindestens einen mächtigeren Egoisten über ihnen, dem sie zu dienen haben, und ganz, ganz oben ist die Luft sehr dünn, sehr kalt und die Einsamkeit groß. Schlimmer noch: Es ist sinnlos, sich hinaufzukämpfen, weil die Selbstentfremdung zunimmt, und zunehmende Selbstentfremdung bedeutet zwangsweise, sich selbst zu verlieren. Darum ist der grenzenlose Egoist ein armer Sklave und ein Narr. Das hat schon Jesus gesagt: „Was hat der Mensch davon, wenn er die ganze Welt gewinnt, und doch Schaden an seiner Seele nimmt?“ 

Wirkt das jetzt ein bisschen altmodisch? Nun gut. Damit kann ich leben.

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