Die Maskerade des Bösen

Dokumentation

Wie notvoll es sein kann, Entscheidungen zu treffen, wenn man im Grunde nur zwischen Pest und Cholera wählen kann, beschreibt Dr. Simone Flad am Beispiel Dietrich Bonhoeffers. Ein Mann, der sich jederzeit bewusst war, dass er allein die Verantwortung trägt für das, was er tut. Und auch für das, was er nicht tut.

Dietrich Bonhoeffer (1906 – 1945) ist bekannt als Theologe, Mitglied der Bekennenden Kirche und Widerstandskämpfer, der seine Entscheidung, an der Verschwörung gegen Hitler mitzumachen, mit seinem Leben bezahlte. Wie kam er zu dieser Entscheidung, selbst das äußerste Mittel eines Tyrannenmordes nicht nur gutzuheißen, sondern letztlich aktiv daran mitzuarbeiten? 

Ich kam zum ersten Mal zur Bibel

Ein Studienjahr in New York im Jahr 1932 prägte den jungen Theologen Bonhoeffer nachhaltig. Im Rückblick sagte er über diese Zeit: „Ich kam zum ersten Mal zur Bibel … Ich hatte schon oft gepredigt, ich hatte schon viel von der Kirche gesehen, darüber geredet und geschrieben – und ich war noch kein Christ geworden.“ Das Denken, Reden und Schreiben über Gott, über die Bibel und seine Kirche war für Bonhoeffer persönlich geworden. Diese Verbindung von intensivem Nachdenken über die bzw. Forschen in der Bibel mit der gelebten Praxis des Christseins prägte Bonhoeffers weiteres Leben und alle schwierigen Entscheidungen, die auf ihn zukommen sollten. 
Mit der Machtergreifung Hitlers am 30. Januar 1933 nahm nicht nur Bonhoeffers Leben eine andere Richtung ein. Weitsichtig wie kaum ein anderer, warnte er schon direkt danach in einer Radioansprache davor, dass aus dem Führer ein Verführer werden könnte. In seiner evangelischen Kirche sprach sich Bonhoeffer früh und sehr bestimmt gegen jede Ausgrenzung von Juden aus. Er betonte, dass die Aufgabe der Kirche dem Staat gegenüber nicht nur die Unterordnung sei (Römer 12). Auch die Mahnung an den Staat, seine Aufgaben richtig wahrzunehmen sowie sich um Opfer staatlichen Handelns zu kümmern, sei die Pflicht der Kirche. In diesem Zusammenhang fiel sein inzwischen berühmter Satz, dass im Extremfall „nicht nur die Opfer unter dem Rad zu verbinden seien, sondern dem Rad selber in die Speichen zu fallen sei.“

Ein verlockendes Angebot

Bonhoeffer war Pazifist und fest entschlossen, in der Armee Hitlers nicht aktiv zu dienen. Dies führte dazu, dass er 1939 vor die schwierigste Entscheidung seines Lebens gestellt wurde. Freunde hatten es ihm ermöglicht, in die USA auszureisen und dort zu arbeiten. Angesichts des drohenden Krieges und des bald zu erwartenden Einzugs seines Jahrgangs zum Militär war dies ein verlockendes Angebot. Kriegsdienstverweigerern drohte in Nazi-Deutschland die Todesstrafe. Aber Bonhoeffer dachte nicht nur an mögliche persönliche Folgen einer Kriegsdienstverweigerung. Als inzwischen relativ bekannte Persönlichkeit der Bekennenden Kirche wollte er mit einer öffentlichen Kriegsdienstverweigerung die Bekennende Kirche nicht noch mehr in Bedrängnis bringen – zumal seine für damalige Verhältnisse exotische Position auch hier kaum irgendwelche Unterstützung gefunden hätte. Dieses hohe Maß an Verantwortungsgefühl, das alle möglichen Folgen seines Handelns beachtet, war Bonhoeffer zeitlebens sehr wichtig. Auf Anraten vieler Freunde nahm Bonhoeffer das Angebot schließlich an. Allerdings kamen ihm schon auf dem Schiff nach New York wieder Zweifel, ob dies richtig gewesen war. Es folgten unruhige Wochen, in denen ihn die Frage, ob sein Platz nicht doch in Deutschland sei, nicht losließ. Seine Tagebuchnotizen zeigen sein Ringen – auch mit seiner eigenen Motivation. Schließlich fällte er die Entscheidung, so bald wie möglich nach Deutschland zurückzukehren. Er wollte sich nicht herausziehen aus dem Schicksal, das die Deutschen erwartete und das Bonhoeffer damals schon ahnte. Zwei Wochen später war er auf dem Rückweg nach Deutschland. Nicht einmal zwei Monate später brach der Zweite Weltkrieg aus. Die Entscheidung zur Rückkehr traf er nicht nur in vollem Bewusstsein der Gefahren und seiner Verantwortung, sondern auch ganz bewusst vor Gott. Am Abend des Tages, an dem die Entscheidung in den USA gefallen war, notierte er sich: „Am Ende des Tages kann ich nur bitten, dass Gott ein gnadenvolles Gericht üben möge über diesen Tag und alle Entscheidungen. Es ist nun in seiner Hand.“ Dieser hartumkämpfte Entschluss im Sommer 1939 gab die Richtung vor für alle späteren Schritte in den aktiven Widerstand gegen Hitler. Bonhoeffer hat später öfters betont, dass er genau gewusst habe, was er tat und dass er die Entscheidung zurückzukommen nie bereut habe.

Tarnung und Täuschung

Dietrich Bonhoeffer war vor allem durch seinen Schwager Hans von Dohnanyi schon lange gut informiert, was die allgemeine Situation in Deutschland wie auch die Gräueltaten der Nazis betraf. Spätestens seit 1938 wusste er durch Dohnanyi über militärische Umsturzpläne gegen das Nazi-Regime. Zu dieser Zeit war sich Bonhoeffer noch nicht im Klaren darüber, wie der nötige Widerstand außerhalb der Kirche für ihn persönlich als Theologe und Pfarrer aussehen könnte und sollte. Nach seiner Rückkehr aus den USA hatte sich für ihn diese Frage offensichtlich geklärt – er war bereit, die Verschwörer nicht nur seelsorgerlich zu begleiten (besonders für Dohnanyi aber auch andere Verschwörer war seine Meinung als Theologe immer wieder gefragt), sondern auch aktiv mit- zuarbeiten. Darüber, wann Bonhoeffer diese Entscheidung wie und warum genau getroffen hat, gibt es naturgemäß keine Aufzeichnungen. Wenn sie in falsche Hände gelangt wären, hätten sie alles gefährden können. Von möglichen Augen- und Ohrenzeugen hat kaum jemand das Dritte Reich überlebt. Auch engste Freunde wurden nicht eingeweiht. Aber die Auswirkungen dieser Entscheidung waren weithin sichtbar.

„Bonhoeffer sprach davon, dass ‚alle im Bereich des Möglichen liegenden Alternativen der Gegenwart gleich unerträglich, lebenswidrig, sinnlos erscheinen.“

Der offene Widerstand, den Bonhoeffer vor allem auch im Rahmen der Bekennenden Kirche durch öffentliches Eintreten für die Wahrheit geleistet hatte, wurde nun durch ein Verschwörer-Dasein abgelöst. Für Bonhoeffer war dies nur durch die extreme Situation („Grenzfall“), in der alle anderen Möglichkeiten ausgeschöpft waren, begründet. Es galt nun, möglichst wenig aufzufallen, sich äußerlich anzupassen und möglichst wenig Mitwisser zu haben, um auf einen wirklichen Umsturz hinarbeiten zu können. Dieses neue Verhalten brachte Bonhoeffer viel Unverständnis von alten Weggefährten ein – das er aber um der Sache willen gerne ertrug. Tarnung und damit Täuschung wurden für ihn in dieser Ausnahmesituation zur moralischen Pflicht: „Schlimmer ist es, wenn ein Lügner die Wahrheit sagt, als wenn ein Liebhaber der Wahrheit lügt“. Nach der Meinung Bonhoeffers weigert sich ein Gewissen, das sich nur an einem festen Prinzip (z. B. „du sollst nicht lügen“) orientiert, wirkliche Nächstenliebe zu praktizieren und damit Verantwortung zu übernehmen.
Man darf nun nicht denken, dass Bonhoeffer Gottes Gebote nicht ernst genommen oder sie willkürlich an seine Situation angepasst hätte. Das Gegenteil ist der Fall. In all dem, was Bonhoeffer zu diesem Thema geschrieben hat, betont er immer wieder die Verantwortung vor Gott, ja den Gehorsam ihm gegenüber, in denen solche schwierigen Entscheidungen getroffen werden müssen.

„Ich glaube, dass Gott aus allem, auch aus dem Bösesten, Gutes entstehen lassen kann und will. Dafür braucht er Menschen, die sich alle Dinge zum Besten dienen lassen.“

Wer das Schwert nimmt …

Die militärischen Umsturzpläne der Verschwörer waren mit der Übernahme des Oberbefehls des Heeres durch Hitler im Dezember 1941 praktisch unmöglich geworden. Als einziger Ausweg blieb nun ein Attentat auf Hitler. Das konnten jedoch nicht alle Verschwörer mittragen. Bonhoeffer sprach davon, dass „alle im Bereich des Möglichen liegenden Alternativen der Gegenwart gleich unerträglich, lebenswidrig, sinnlos erscheinen.“ Trotzdem befürwortete er weiter, dem Rad in die Speichen zu fallen, um Schlimmeres zu verhindern. Dies tat er im vollen Bewusstsein möglicher persönlicher Konsequenzen. Auf Dohnanyis Frage hin hatte Bonhoeffer schon ein paar Jahre vorher darauf hingewiesen, dass das Wort Jesu „wer das Schwert nimmt, wird auch durchs Schwert umkommen“ (Matthäus 26, 52) auch in ihrem Fall gelten würde. Ende 1942, als sich die Schlinge um die Verschwörer schon bedrohlich zuzog, schrieb Bonhoeffer an  ein paar ausgewählte Freunde und Mitwisser eine kleine Schrift „Nach zehn Jahren“. Sie gibt uns Einblick in das Fragen und Ringen, das Bonhoeffer in all den Jahren bewegt hat. Er schreibt davon, dass man im Angesicht „dieser Maskerade des Bösen“ weder durch das Folgen der Vernunft noch das Befolgen von Prinzipien, weder durch die Frage nach einem reinen Gewissen noch nach der eigenen Tugend Stand halten kann. Kein Mensch und keine Gebote können einem in so einer Grenzsituation die persönliche Entscheidung vor Gott abnehmen. Nur wenn jemand „dies alles zu opfern bereit ist, wenn er im Glauben und in der alleinigen Bindung an Gott“ entscheidet, handelt er aus Bonhoeffers Sicht letztlich verantwortlich. Dass man in so einer schwierigen Entscheidung auch schuldig werden kann, war Bonhoeffer sehr klar. Sie beruht für Bonhoeffer immer „auf einem Gott, der das freie Glaubenswagnis verantwortlicher Tat fordert und der dem, der darüber zum Sünder wird, Vergebung und Trost zuspricht.“ 

Ein Glaubensbekenntnis

In diesem Schriftstück findet sich auch eine Art Glaubensbekenntnis, das die Grundlagen für seine Entscheidungen zusammenfasst: „Ich glaube, dass Gott aus allem, auch aus dem Bösesten, Gutes entstehen lassen kann und will. Dafür braucht er Menschen, die sich alle Dinge zum Besten dienen lassen. Ich glaube, dass Gott uns in jeder Notlage so viel Widerstandskraft schenken will, wie wir brauchen. Aber er schenkt sie uns nicht im Voraus, damit wir uns nicht auf uns selbst, sondern allein auf ihn verlassen. In solchem Glauben müsste alle Angst vor der Zukunft überwunden sein. Ich glaube, dass auch unsere Fehler und Irrtümer nicht vergeblich sein und dass es Gott nicht schwerer ist mit ihnen fertig zu werden als mit unseren vermeintlichen Guttaten. Ich glaube, dass Gott kein zeitloses Faktum ist, sondern dass er auf aufrichtige Gebete und verantwortliche Taten wartet und antwortet.“

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