Das Leben war mal leicht und schön
Ratgeber
Wo sind sie hin, die Tage, in denen alles einfacher war? Dieser Frage begegnet Dr. Michael Winterhoff und stellt ihr eine provokante These gegenüber: Ist die Welt tatsächlich härter oder sind die Menschen bloß schwächer geworden? Und dann sagt er: Wir müssen wieder Verantwortung für uns übernehmen und klare Entscheidungen treffen.
Ich war’s nicht!
Es ist noch gar nicht so lange her, dass Geld Mangelware war. Die Finanzkrise hatte gerade Fahrt aufgenommen, und niemand wusste, welche Bank es als nächste erwischen würde. Die Geldinstitute trauten sich nicht mehr, sich gegenseitig Kredit zu gewähren. Die Banken mussten also schauen, wie sie an liquide Mittel kamen. Eine Möglichkeit waren die Privatanleger. Mit hohen Zinsen warben die Banken um deren Ersparnisse. Die höchsten Tagesgeldzinsen bot im April 2008 die isländische Kaupthing Bank an: 5,65 % bei einer Anlagesumme von 5.000 Euro – der Leitzins der Europäischen Zentralbank lag zu dieser Zeit bei 4,0 %. Über 30.000 Deutsche überwiesen der isländischen Bank insgesamt 330 Millionen Euro. Niemand hatte diese Menschen dazu gezwungen, ihr Geld ins Ausland zu schicken; wohlüberlegt und gezielt haben sie im Internet den Anbieter mit dem höchsten Zinsversprechen herausgesucht. Sie schickten ihr Geld in ein Land, das – für alle eigentlich auch nachlesbar – schon seit Längerem für die Schwäche seines Bankensystems bekannt war. Die Inflationsrate im Land betrug 7 %, und schon in den ersten Monaten des Jahres 2008 hatte die isländische Krone ein Viertel ihres Wertes gegenüber dem Euro verloren. Im Oktober desselben Jahres wuchsen der Kaupthing Bank ihre Spekulationsgeschäfte endgültig über den Kopf. Weil sie zahlungsunfähig war, wurde sie verstaatlicht und alle Konten wurden gesperrt. Es war unklar, ob die Kontoinhaber ihr Geld jemals wiedersehen würden. Das Geschrei unter den privaten Anlegern war groß: Wer gibt uns unser Geld zurück? Wir sind getäuscht worden! Betrug! Als klar wurde, dass die nun im Besitz Islands befindliche Bank die Einlagen zurückzahlen würde, dass also die isländischen Bürger für die ausländischen Einlagen aufkommen mussten, sagte eine Anlegerin aus Deutschland im Februar 2009 dem Nachrichtenmagazin »stern«: »Wer soll denn sonst für Fehler, die in Island gemacht wurden, geradestehen?«
Wie unter einem Brennglas wird hier ein Verhalten offenbar, das sich wie ein roter Faden durch die Gesellschaft zieht: Man handelt, will aber nicht für die Folgen dieses Handelns verantwortlich sein. Entscheidungen werden getroffen, ohne dass man sich mit den aus ihnen resultierenden Konsequenzen auseinandersetzen und sie tragen will. Wer sich mit seinen Geldgeschäften verzockt, schadet wenigstens nur sich selbst. Meistens aber haben unsere Handlungen, für die wir nicht geradestehen wollen, gravierende Auswirkungen auf unsere Mitmenschen – oder auf andere Mitgeschöpfe. Wer ein Schnitzel für 59 Cent pro 100 Gramm einkauft, weiß genau, dass es nicht von einem glücklichen Schwein kommen kann. Aber dieser Zusammenhang wird verdrängt. Da kann einer mit der Großmarkt-Currywurst auf dem Pappteller bei einer Demo gegen Massentierhaltung mitlaufen, ohne dass er einen Widerspruch in seinem Tun sieht. Die Absurdität dieses Verhaltensmusters kennt keine Grenzen. »Ein Skandal, unter welchen Umständen die Näherinnen in Bangladesch arbeiten müssen«, sagt derjenige, der 19-Euro-Schuhe an den Füßen trägt.
»Warum müssen alle Leute freitags um vier unterwegs sein?«, ärgert sich der Autofahrer, der im 20-Kilometer-Stau steht. »Da muss doch der Staat endlich mal was machen!«, fordert der Amazon-Prime-Kunde, wenn der letzte Buchladen seines Städtchens dichtmacht. Selbst wenn es nicht nur um Schnäppchen geht, sondern darum, für das eigene Leben einzustehen, deutet unser Zeigefinger von uns weg. Geht es mit der Karriere nicht so recht voran, müssen als Ursache wahlweise die unfähigen Vorgesetzten, die neidischen Kollegen, die unqualifizierten Mitarbeiter, die nervigen Kinder, der verständnislose Ehepartner, der weite Anfahrtsweg oder was auch immer herhalten.
Wir agieren unvernünftig, selbstsüchtig und nach dem Lustprinzip und rufen, wenn es schiefgeht, lauthals nach einer Instanz, die den angerichteten Schaden beheben oder zumindest die Verantwortung dafür übernehmen soll. Nur einer taucht niemals auf der Liste der Verantwortlichen auf: man selbst. Schuld sind immer die anderen.
„Wer mit gewissenhafter Überlegung und aus einer verantwortlichen Haltung heraus seine Entscheidungen trifft, hat keine Probleme damit, die tatsächlichen Gründe dafür zu nennen, warum er etwas getan oder nicht getan hat.“
Fleischsalat vom Nebenmann
Die Konsequenzen des eigenen Handelns zu leugnen, ist ein sehr egoistisches Anliegen. Solange ich nicht verantwortlich zeichnen muss, kann ich fröhlich weiter das tun, was mir gerade durch den Kopf geht. Der langjährige Gießener Professor für Philosophie und Präsident der Allgemeinen Gesellschaft für Philosophie in Deutschland, Odo Marquard, hat dieses Verhalten einmal als die »Kunst, es nicht gewesen zu sein« bezeichnet. Und er hat recht – es braucht schon eine gewisse Raffinesse, um sich immer und überall aus der Affäre zu ziehen. Worin besteht diese Kunst genau? Das wird deutlich, wenn wir uns das Gegenteil anschauen: die Kunst, für sich selbst einzustehen. Wer mit gewissenhafter Überlegung und aus einer verantwortlichen Haltung heraus seine Entscheidungen trifft, hat keine Probleme damit, die tatsächlichen Gründe dafür zu nennen, warum er etwas getan oder nicht getan hat. Dies lässt ihn gelassen reagieren, wenn seine Entscheidung sich als unglücklich herausstellen sollte. Er darf gewiss sein: Ich habe mein Bestes gegeben, und die Konsequenzen meiner Entscheidung werden mich – wenn auch nicht auf direktem Weg, so doch überhaupt – auf meinem Lebensweg voranbringen.
Fehlen aber diese guten Gründe, dann ist es schmerzhaft, sich rechtfertigen zu müssen. Niemand macht sich gerne bewusst, dass er aus Faulheit den Bericht nicht zum vereinbarten Termin fertig hat. Oder dass er aus Geldgier bei einer Bad Bank investierte. Aus Bequemlichkeit das Stellenangebot ausschlug, das seine Talente besser zur Geltung gebracht hätte. Aus Dummheit mit zu viel Alkohol im Blut Auto fuhr. Was soll einer groß sagen, der seinem Bürokollegen den Fleischsalat aus dem Gemeinschafts-Kühlschrank weggefuttert hat? Ich hatte eben Lust darauf? Das wäre beschämend. Also behauptet er: Ich musste das essen. Ich war unterzuckert; wenn ich den Salat nicht gegessen hätte, wäre ich umgekippt. Oder: Ich dachte, das wäre meiner! Ich hab’ ja schon immer gesagt, dass die Kühlschrankaufteilung völlig unübersichtlich ist! Wenn »die anderen« oder »die Überforderung« oder »das System« schuld sind, entfällt die schmerzende Einsicht, selbst einen Fehler gemacht zu haben. Die Kunst, es nicht gewesen zu sein, besteht also darin, im Nachhinein Ausreden zu erfinden, statt sich im Vorfeld zu überlegen, was das eigene Tun für Konsequenzen haben könnte, und die Verantwortung dafür zu tragen. Erkennbar wird diese Verschiebung an dem Wort »sich rechtfertigen«. Die ursprüngliche Bedeutung »die wahren Gründe für sein Handeln darlegen« ist in Richtung »die Schuld von sich schieben« gerutscht. Wer sich rechtfertigt, nennt nicht mehr seine Gründe, er überlegt sie sich. Jederzeit eine gute
Ausrede zur Hand zu haben, ist eine sehr wirksame Verweigerungsstrategie. Die Weigerung, Verantwortung zu übernehmen, umfasst auch die Weigerung, sich zu entwickeln. Statt Verantwortung für sein Tun zu übernehmen, muss man nur die Geschichte ein wenig anders erzählen. Schon ist man vor sich und anderen aus dem Schneider. Aber der Lerneffekt fällt weg – und damit auch die Möglichkeit, beim nächsten Mal besser zu entscheiden ...
„Denn genau dies ist das Geheimnis verantwortlichen Handelns – nicht zu sagen: Ich musste so handeln. Sondern: Ich wollte es so.“
Die Fehlerkultur der mangelnden Fehlerkultur
Eine gute Fehlerkultur ist etwas Feines. Schließlich sind Fehler ein wichtiger Wettbewerbsfaktor – denn aus ihnen lernt man. Ich bin allerdings nicht der Meinung, dass es eine verbesserte Fehlerkultur braucht, damit Menschen endlich wieder für ihre Entscheidungen geradestehen. Warum? Weil mit diesem Ruf nach einem offeneren Umgang mit Fehlern wieder genau das alte Muster bedient wird: nach Ausreden suchen, Verantwortung wegschieben. »Ich würde meinem Chef ja gerne sagen, dass ich gerade unseren wichtigsten Kunden brüskiert habe. Dann könnten wir gemeinsam nach einer Lösung suchen. Aber ich kann nicht. Die Fehlerkultur in meiner Firma gestattet das nicht.« – Kein Zweifel! Das ist nichts anderes als eine Ausrede: Jemand hat einen Fehler gemacht und will dafür nicht geradestehen. Der Popanz »mangelnde Fehlerkultur« hilft ihm nur, sich zu verstecken. Genau anders herum wird ein Schuh daraus: Wenn Menschen endlich wieder eigenverantwortlich handeln, entsteht automatisch auch wieder eine Fehlerkultur, die Menschen, die eine falsche Entscheidung getroffen haben, nicht stigmatisiert, sondern sich ihrer Erfahrungen bedient. Doch es ist wie bei einem alten Kinderspiel: Wer zuerst zuckt, hat verloren. Niemand soll glauben, es wäre immer einfach, für sich selbst einzustehen. Eigenverantwortlichkeit ist nicht umsonst zu haben – man muss immer einen Preis bezahlen. Wer einen wichtigen Auftrag in den Sand gesetzt hat, verliert seinen Bonus. Wer es mit seinem Chef nicht aushält, muss sich eine andere Stelle suchen. Wer 20 Kilo zu viel auf den Rippen hat, lässt die Finger von der Sachertorte. Diesen Preis zu bezahlen, den Schmerz auszuhalten, ist der einzige Weg, dass es uns wieder gut geht. So gesehen ist dieser Schmerz ein Wachstumsschmerz, der uns zu einem größeren Ich führt. Zu uns als Persönlichkeit, die nicht reagiert, sondern aus ihrem Willen heraus frei agiert. Denn genau dies ist das Geheimnis verantwortlichen Handelns – nicht zu sagen: Ich musste so handeln. Sondern: Ich wollte es so.
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