Vorbilder - Warum wir nicht ohne sie auskommen können
Leitartikel
Viele meinen, dass wir sie nicht brauchen. Die Vorbilder. Oder dass die Idee überholt sei. Dabei schwingt nicht selten tiefe Enttäuschung über selbstgemachte schlechte Erfahrungen mit. Wer daraus aber ableitet, dass es am besten ist, allein zurecht zu kommen und um nicht mehr enttäuscht zu werden auch zu niemandem mehr aufschauen mag, geht einen gefährlich einsamen Weg.
Da sitze ich, Samstagnachmittags, mit einem frischen Kaffee und lausche, wie Asya Fateyava Bach interpretiert. Im Sessel zurückgelehnt und die Augen geschlossen ziehen mir Bilder von Menschen durch den Sinn, die ich als sehr wesentlich für meine Entwicklung bezeichnen würde. Personen auf der einen Seite, die ich kennengelernt habe und die mich ein Stück meines Weges begleitet haben. Andererseits sehe ich die, die mir nur durch Bücher bekannt sind, oder aus dem Radio und Fernsehen. Auch sie haben einen tiefen Eindruck hinterlassen und sind Teil dessen geworden, was mich heute ausmacht. Und um das gleich vorweg zu nehmen: Wenn wir Menschen über Vorbilder nachdenken, dann denken wir in aller Regel an die Positiven. Nicht, dass es die Negativen nicht geben würde. Vielleicht haben wir sie aber gar nicht unter der Rubrik Vorbild abgespeichert, weil wir mit diesem Begriff intuitiv eher etwas Gutes, Hilfreiches und Richtungsweisendes verbinden. Völlig unsortiert tauchen Namen und Erinnerungen auf, die so wertvoll sind, dass ich froh bin, sie zu haben.
Die ganz persönliche Vorbildergallerie
Erinnerungen an Schwester Ursula Metz zum Beispiel. Die Diakonisse spielte in meinen frühen Momenten als Christ eine große Rolle. Wie übrigens einige ihrer Mitschwestern auch. Schwester Ursula aber ist die von ihnen, die mir als erstes einfällt, mit der ich die meisten Gespräche geführt habe, die mir am häufigsten Rat gab. Sie war mir Beichtmutter und sprach mir Vergebung zu. Sie war meine „Chefin“, als ich ehrenamtlich in der Jungschar meiner Gemeinde gearbeitet habe. Sie hat meine ersten zaghaften Versuche beim Gitarre spielen ertragen. Schon allein dafür verdient sie Respekt. Sie hat es immer geschafft, mir den Blick in die richtige Richtung zu weisen, bei unzähligen Spaziergängen mit dem Hund über den Berg. Vorzugsweise bei Wind und Wetter hat sie mich auch daran erinnert, dass ich für das, was ich tue, Verantwortung trage. Sie war wohl nicht immer mild, aber sie hat sich einen Platz in meiner Vorbildergallerie erworben. Wenn wir heute zusammensitzen und reden, wenn ich dieser in die Jahre gekommenen und im Glauben unerschütterlichen Frau zusehe, dann bin ich zutiefst dankbar. Dafür, dass sie mir geholfen hat, dass mein Glaube Wurzeln schlagen konnte. Wurzeln, die sich mühsam in den Boden graben mussten um mir Halt zu geben. Ihre Gebete und die ihrer Mitschwestern haben sicher einen unschätzbaren Anteil dran, dass ich noch da bin. Ich denke an Jim Elliot, stellvertretend für all die Männer und Frauen, deren Biographien ich gierig verschlungen habe. Weil da Menschen waren, die es sich nicht nehmen ließen, ihr Leben für Gott einzusetzen. Sie gingen in fremde Länder um fremden Menschen unter fremden Bedingungen zu sagen, dass Jesus sie liebhat. Nicht wenige von ihnen kamen dabei um. Elliot schrieb einmal: „Der ist kein Narr, der hingibt, was er nicht behalten kann, auf dass er gewinne, was er nicht verlieren kann.“ Elliot und Menschen wie er haben mich infiziert mit dem Wunsch, Gott zu dienen, mich für etwas Größeres einzusetzen. Wie wenig es mir auch gelungen und wie lau ich auch immer geworden sein mag. Ich habe mir Mühe gegeben. Angespornt auch durch Hudson Taylor, dem Briten, der in China lebte um den Menschen dort zu dienen. Eine seiner Erkenntnisse traf mich eines Nachmittags wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Ich war während meines Theologiestudiums dabei mich auf ein Praktikum in Westafrika vorzubereiten, das ich selbst finanzieren musste. Nach Abzug aller Kosten blieben monatlich rund 50 deutsche Mark übrig und mir war klar, dass ich damit nie mein Ziel erreichen würde. Dennoch war ich sparsam, ja eher wohl geizig geworden und unempfindlich für die Bedürfnisse anderer. Als ich einen Film über sein Leben sah und es an die Stelle kam, wo er einer Familie sein letztes Geld für die Medizin des Kindes gab, das sonst sterben würde, war mir das wie ein Fausthieb in die Magengrube. Taylor beschrieb seine innere Zerrissenheit und hörte Gott sagen: „Du brauchst das Geld doch erst morgen, dieses Kind braucht es heute.“ Er gab, was er hatte und erlebte, wie Gott ihn mit allem Nötigen versorgte. An diesem Tag lernte ich eine Lektion, die ich nie wieder vergessen sollte. Oder nehmen wir Corie ten Boom, die im dritten Reich in Holland Juden vor den Nazis versteckte, im Konzentrationslager einen Großteil ihrer Familie verlor und dennoch nicht aufhörte, Gott zu lieben. Neben ihr steht Dietrich Bonhoeffer, der sich entschloss, ein Attentat auf Hitler zu unterstützen. Dabei kam er zu dem Schluss, dass er vor Gott schuldig würde, wenn er das täte. Er kam aber auch zu dem Ergebnis, dass er schuldig sei, wenn er nichts unternahm. Dieser Mann war in seinem Handeln nicht auf sich selbst fokussiert, sondern auf das Wohl der Gesellschaft. Und er war sich seiner Verantwortung bewusst. Er wusste, dass etwas getan werden musste und dass er sich nicht damit herausreden konnte, dass es ja auch jemand anders tun könne. Ähnlich war es mit Martin Luther King. Gefeiert und gleichermaßen gehasst setzte er sich für den gewaltfreien Widerstand der Schwarzen ein. Er hatte den Traum, dass die Rassendiskriminierung eines Tages ein Ende finden würde. Und Rosa Parks. Diese mutige schwarze Frau weigerte sich 1955 in einem öffentlichen Bus in Montgomery, Alabama, von einem Platz aufzustehen, der nur für Weiße vorgesehen war. Sie wurde verhaftet. Und sie wurde zu einer Ikone des friedlichen Protestes gegen Rassenhass.
Keine Heiligen ohne Fehl und Tadel
Ich könnte diese Liste fortsetzen, stundenlang. Seiten lang. Ganze Magazine füllen mit Gedanken zu Menschen, die mir zum Vorbild wurden und es bis heute werden. Nehmen wir Frau Merkel. Ohne damit eine politische Aussage machen zu wollen: Ihre Entscheidung, Flüchtlinge aufzunehmen und damit auch unserem christlichen Auftrag nachzukommen, verdient meine Hochachtung. Dass die Handhabung dieser nötigen Idee administrativ so umstritten umgesetzt wurde, schmälert ihren richtigen und überzeugenden Einsatz aber nicht. Oder Herr Höneß. Er betrügt den deutschen Staat, und damit uns alle, um Millionen von Steuern. Finanziell hätte er das sicher gar nicht nötig gehabt. Er tat es dennoch, kam zur Einsicht, als er fürchtete, dass sein Name in einer Datensammlung auftauchen würde, die den deutschen Steuerbehörden zugänglich wurde. Er entschuldigte sich, wurde bestraft, verbüßte seine Strafe. Und verdient Respekt dafür. Ob er sich auch dann selbst angezeigt hätte, wenn er nicht ohnehin durch die Steuerdaten aufgeflogen wäre, soll entscheiden, wer will. Das gleiche gilt für Frau Käßmann. Mit Alkohol am Steuer erwischt und von der Presse ins Visier genommen trat sie als Bischöfin zurück. Aber sie trat nicht ab. Sie übernahm die Verantwortung für ihren Fehler und steht hoch geachtet da. Was die wesentliche Erkenntnis stützt: Vorbilder sind keine Heiligen ohne Fehl und Tadel. Vielmehr sind es Menschen, die Licht und Schatten des Lebens kennen. Vorbildlich werden sie dabei vor allem durch ihren Umgang mit den Schattenseiten.
„Wenn wir uns niemanden zum Vorbild nehmen, haben wir weder unsere Werte, noch unseren Wert erkannt.“
Sie sind ein Spiegel unser Selbst
Jeder entscheidet übrigens für sich selbst, wer für ihn ein Vorbild ist. Und das nach einem interessanten Hintergrundverhalten, das den meisten dabei vermutlich gar nicht bewusst ist: Vorbilder sind ein Spiegel unserer selbst und unserer Einstellung. Wenn wir auf sie schauen, beginnen wir uns selbst zu verstehen, uns auszudrücken, zu hinterfragen. Denn jedes gewählte Vorbild verkörpert doch immer einen Wert, den wir selbst attraktiv und anziehend finden. Etwas, das man begehrenswert findet, weil man es selbst nicht hat. Zum Beispiel Selbstvertrauen und Stärke. Es tut uns gut, der Frage für uns ganz persönlich nachzuspüren. Weil sie es nötig macht, zunächst über uns selbst nachzudenken und dann Stellung zu beziehen. Das, was uns wertvoll ist, wird immer auch in den Persönlichkeiten zu finden sein, die wir als Vorbild anerkennen. Im Umkehrschluss müssen wir wohl sagen: Wenn wir uns niemanden zum Vorbild nehmen, haben wir weder unsere Werte, noch unseren Wert erkannt. Kommen wir allein zurecht? Ohne Vorbilder? Brauchen wir keine? Hat der Individualismus so viel von uns ergriffen? Oder ist der Diskurs schlicht zu anstrengend?
Ohne persönlichen Gewinn zu ziehen
Wenn ich mich heute umschaue, drängen sich in der Tat rasch Menschen in mein Blickfeld, die ich als schlechtes Beispiel betrachte. Ich verstehe, wenn man mir sagt: „Schau dich doch um, da draußen. Wen soll man sich denn da noch zum Vorbild nehmen? Nene, ich komme ganz gut allein zurecht…!“ Doch auch, wenn ich diese Haltung verstehe, so kann ich sie doch nicht für gut und richtig befinden. Weil sie dem Egoismus Tür und Tor öffnet und die gesellschaftliche Verantwortung stirbt. Allem Für und Wider zum Trotz, wir brauchen sie unbedingt, unsere Vorbilder!
Was macht jemanden zu einem guten Vorbild? Ich meine dies: Das Bewusstsein eigener Stärken und Schwächen, die Erkenntnis des persönlichen Auftrags und der Bedeutung für die Gesellschaft, die Entschlossenheit, das Ziel unbeirrt und in Demut zu verfolgen. Die Aufrichtigkeit vor sich selbst und den Anderen, das Übernehmen von Verantwortung, das mutige Tragen von Konsequenzen, das Nichtwegschauen und das sich für andere einsetzen, ohne persönlichen Gewinn daraus zu ziehen. Ein gutes Vorbild baut immer auf und macht nicht mutwillig kaputt. Es schätzt immer den anderen höher als sich selbst. Und es verliert nie den Anstand, die Achtung und den Respekt. Schauen Sie sich um und finden Sie heraus, wer für Sie zum Vorbild wird.
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