Ein bisschen wie auf der Baustelle leben - aber schön!
Standpunkt
Wer, wenn er an Gemeinde denkt, einen verklärten Blick bekommt, geht vermutlich nicht so oft hin. Oder hat sich entschlossen, nur einen Teilaspekt der ganzen Realität zu betrachten. Was schade wäre. Denn die Ehrlichkeit und Echtheit des Christenlebens im Kollektiv ist ein wesentliches Merkmal von Gesundheit. Susanne Komorowski geht mit offenen Augen an die Frage heran, ob Gemeinden ein Vorbild im Alltag sein können. Und kommt zu einem erfrischenden Ergebnis.
Es ist verzwickt: Sollen wir uns über ihn freuen oder traurig sein – über den jährlichen Briefumschlag, der zu Weihnachten in den Gemeindebriefkasten flattert? Vier 50-Euro-Scheine enthält er, ohne Worte. Außen auf dem Kuvert nachlässig und gerade noch zu entziffern ein Name und eine Straße mit Hausnummer unweit der Kirche. Schnell haben wir herausgefunden: Er ist nicht mehr Mitglied unserer Kirche. Ausgetreten.
Die vier Fünfziger
Solche Erfahrungen machen viele Gemeinden: „Mit der Kirche kann ich nichts anfangen. Ich bin auch nicht gläubig. Oder doch nicht so, wie es die Kirche vorschreibt …“ Und dann kommt Kritik, manchmal etwas wirr von den Hexenverbrennungen in der frühen Neuzeit bis zum Bischof von Limburg, aber auch bittere persönliche Erfahrungen: Die Zwillingsmutter, die nach einer Nacht mit wenig Schlaf mit ihren Kindern in den Gottesdienst gekommen ist, um ein ermutigendes Wort zu hören und mit Gottes Segen die nächste Woche tapfer meistern zu können … und böse Blicke erntet von denen, die sich in ihrer Andacht gestört fühlen. Der Pfarrkollege, der eine Konfirmandin zu sich zitiert, ihr ihre Fehlzeiten im Unterricht vorrechnet und ihr eröffnet, sie dürfe deshalb nicht zur Konfirmation. Dabei weiß er gut, dass es vor kurzem einen schweren Unglücksfall in der Familie gegeben hat und alles Kopf steht. Noch ganz andere Verletzungen gibt es, manche wirken traumatisierend für das ganze Leben. Jedenfalls: Die vier Fünfziger kommen jedes Jahr pünktlich zur Jahreswende. Woran liegt’s? Da findet einer, der nicht dazu gehört, unsere Gemeinde gut. Und will das durch seine Spende unterstützen. Hat er am Ende den Eindruck, die da drüben auf der anderen Straßenseite, deren Gebimmel ihm sonntagmorgens immer den Schlaf raubt, sind irgendwie doch vorbildlich in ihrem Tun? Trotz der ganzen berechtigten Kritik an der Kirche? Vielleicht liegt es daran, dass die Gemeinde vor Ort greifbar ist, überschaubar in ihrer Größe, anders als „die Kirche“. Man kann sich ein eigenes Urteil bilden. Die machen einen guten Job.
„Ein bisschen wie der Himmel auf Erden, wenn mir jemand nach dem Essen ein Stück selbstgebackenen Kuchen serviert und sich Zeit nimmt und mich ansieht. Sonst schauen immer alle weg.“
Hier weiß ich mein Geld gut angelegt. Übrigens, das nur am Rande: Er merkt gar nicht, dass er durch seine Anteilnahme und seine Spenden nun doch schon wieder ein bisschen dazugehört … ein Grund mehr also zur Freude. Wie war das noch mal: Gemeinde soll Vorbild sein? Trotz all der menschlichen Schwächen, von denen uns schon die Bibel erzählt seit den Flüchtlingen aus Ägypten, die dem Gott Moses vertrauen und dann doch ein goldenes Kalb anbeten? Oder die, die sich dann geeint im Glauben an den Vater Jesu Christi als Gemeinschaft zusammenfinden? Ein Leib aus vielen Gliedern – so sieht das Idealbild aus, das Paulus im Korintherbrief zeichnet. Aber Anspruch und Wirklichkeit klaffen ganz schön auseinander.
Immer sind es die Menschen
Weil es auf die Einzelnen ankommt, deshalb menschelt es in unseren Gemeinden und deshalb könnte das mit der Vorbildfunktion schwierig werden. Denn, um mit der Dichterin Rose Ausländer zu sprechen: „Immer sind es die Menschen …“ Auch Jesus ist ganz Realist, wenn er unser Zusammenleben in der Gemeinde mit einem Acker vergleicht, auf dem Unkraut und Weizen nebeneinander wachsen (Mt.13). Es sind immer die Menschen, deren Haltungen und Tun vorbildlich wirken – oder eben nicht. Andererseits: Gut, dass die Bibel kein Geschäftsbericht ist! Realismus ist ja zwar ganz schön, und uns und die eigenen Fähigkeiten klein zu machen, kommt in evangelischen Kreisen immer gut. Aber natürlich sollen Gemeinden Vorbild sein! Für das Zusammenleben in der Gesellschaft. Und auch für Wirtschaftsbetriebe und für Patchworkfamilien, für jede Art von Gemeinschaft. Von der UN-Charta bis zum Umgang einer Erzieherin mit den ihr anvertrauten Kindern in der Kita. Gemeinden sollen Vorbild sein. Jesus mutet es uns zu, und in seiner Zumutung steckt übrigens das Wort Mut: „Ihr seid das Salz der Erde! Ihr seid das Licht der Welt!“ (Mt.5,13f.) Ihr sollt Vorbilder sein! Interessanterweise steht da nicht: Du bist das Salz der Erde. Hier könnte sich nahtlos eine weitere Standardkommunikation mit Ausgetretenen anschließen: „Weißt du, ich glaube an Jesus Christus und bete auch. Aber ich brauche dazu die Kirche nicht. Ich kann mein Christsein alleine leben“. Ich gebe zu, dass mich eine solche Äußerung jedes Mal zum Widerspruch reizt: „Nein, kannst du nicht! So ist der christliche Glaube nicht. Die Nachfolge, in die Jesus uns gerufen hat, funktioniert anders.“
Gemeinde. Ein Vorbild?
Und damit wären wir bei einer ersten Antwort auf die Frage: Wofür kann Gemeinde Vorbild sein?
Für die Einsicht, dass wir nicht allein auf der Welt sind. Nicht, wenn wir vor der Entscheidung stehen, ein berechtigtes persönliches Interesse über das eines anderen zu stellen. Nicht, wenn wir uns für Stofftasche statt Plastik entscheiden. Menschsein realisiert sich in Beziehung. Und das hat Konsequenzen. Christlich gesprochen: „Nehmet einander an, so wie Christus euch angenommen hat“ (Römer 15,7). Wofür noch? Für das Recht und die Hoffnung auf ein anderes Leben. Bei euch soll es anders sein als in der Welt, wo die Mächtigen ihre Völker niederhalten, sagt Jesus (Mt.20,25ff.). Und immer wieder passiert das auch: Das Reich Gottes leuchtet hier und da auf im Handeln der Gemeinde. In unseren Vesperkirchen landauf landab leben derzeit Menschen aus unterschiedlichen sozialen Welten miteinander im Winter über Wochen hinweg ein Stück Gemeinschaft, die ihresgleichen sucht. „Ein bisschen wie der Himmel auf Erden, wenn mir jemand nach dem Essen ein Stück selbstgebackenen Kuchen serviert und sich Zeit nimmt und mich ansieht. Sonst schauen immer alle weg.“ Gemeinde ist also Vorbild als Wertegemeinschaft, als Gemeinschaft der Hoffenden – in aller Vorläufigkeit, mit allen Schwächen. Eine dritte und letzte Vorbildfunktion liegt mir noch am Herzen – ohne jeglichen Anspruch auf Vollständigkeit: Gemeinde als Vorbild im Zeitnehmen und Raumgeben. Für das, was nottut. Dazu gehört die Einteilung der gottgeschenkten Zeit in Alltag und Sonntag. Die Gottesdienste, die unser Herumwuseln heilsam unterbrechen und uns neu ausrichten. Feiern, Singen, Zuhören, Beten – Auszeiten für Gott. An einem Krankenbett sitzen, ohne auf die Uhr zu schielen. Kindern eine Heimat geben und Alten eine Anlaufstelle.
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Und Geflüchtete aufnehmen und mit den Traurigen weinen. Meister Eckart, ein mittelalterlicher christlicher Mystiker, sagt es so: „Die wichtigste Stunde ist immer die Gegenwart, der bedeutendste Mensch ist immer der, der dir gerade gegenübersteht, das notwendigste Werk ist stets die Liebe.“ Darin Vorbild sein als Gemeinde und wie ein Sauerteig die Welt durchwirken. Und dankbar aus den Quellen schöpfen, die wir kennen: die 2000-jährige Geschichte der Institution Kirche mit ihren katastrophalen Fehlentwicklungen und wunderbaren Aufbrüchen bis heute. Die unvergleichlich kostbare Botschaft, die wir weitererzählen dürfen, und all die Menschen, die mit Herz und Hand Gemeinde formen und gestalten. Und schließlich Vorbild zu sein als Befreite und Unbekümmerte, die zwar auf einer Baustelle leben, was aber ihrem Glück keinen Abbruch tut.
Magazin Frühling 2017
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