Willkommen im Nie-wieder-Land
Gottes Gnade statt guter Taten: Warum wir uns den Himmel nicht verdienen können
Von Max Lucado
Sie sind erschöpft. Sie sind müde. Wir sind alle müde. Wir sind eine müde Generation, eine müde Gesellschaft. Wir hasten, wir eilen. Wir schleppen uns durch lange Arbeitstage und lange Listen von Dingen, die zu erledigen sind, warten in langen Schlangen und machen lange Gesichter wegen all der Kleinigkeiten, die wir kaufen, und Menschen, denen wir es recht machen wollen. Der Teppich, die Kinder, der Kanarienvogel – um alles müssen wir uns kümmern.
Die Regierung will höhere Steuern. Der Chef will längere Arbeitszeiten. Der Ehepartner mehr Aufmerksamkeit. Und die Kirchengemeinde – hatte ich die Gemeinde schon erwähnt? Arbeite mehr mit! Bete mehr! Sei öfter da! Lade mehr Leute ein! Lies mehr in der Bibel! Und was kann man schon dagegen sagen? Die Gemeinde spricht ja für Gott. Jedes Mal, wenn wir ein wenig verschnauft haben, kommt wieder jemand und will irgendetwas. Der Vorarbeiter will den nächsten Ziegelstein für die neue Pyramide.
Neue-alte Sklaventreiber
„Rühr den Lehm an, du Hebräer!“ Ja, da ist er: Unser Gegenstück aus grauer Vorzeit. Dieser gebückt gehende hebräische Sklave in Ägypten, der im Lendenschurz und mit nacktem Oberkörper Ziegel schleppt. Die hatten Grund, müde zu sein! Die Sklaventreiber knallten mit den Peitschen und gaben brüllend Kommandos. Warum? Damit der Pharao mit seinem überdimensionierten Ego wieder mit einer weiteren Pyramide angeben konnte.
Aber dann griff Gott ein. „Ich bin der Herr! Ich will euch von eurer schweren Arbeit erlösen und euch von der Unterdrückung durch die Ägypter befreien. Mit starker Hand werde ich die Ägypter strafen und mein Urteil an ihnen vollstrecken. Euch aber werde ich retten“ (2. Mose 6,6). Und das hat er! Er teilte das Rote Meer vor den Israeliten wie einen Vorhang und ließ es dann über den Ägyptern wie das Maul eines Haifischs zuschnappen. Pharaos Armee wurde zu Fischfutter und die Israeliten zu Ehrenbürgern von „Nie-wieder-Land“: nie wieder Ziegel schleppen, Lehm rühren, Stroh sammeln. Es war, als riefe der ganze Himmel: „Ihr könnt jetzt zur Ruhe kommen!“
Und das taten sie. Millionen Lungen atmeten erleichtert auf. Sie ruhten. Etwa einen Zentimeter lang. So weit liegen zumindest in meiner Bibel die Kapitel 15 und 16 im 2. Buch Mose auseinander. Die Zeitspanne zwischen diesen beiden Kapiteln beträgt etwa einen Monat. Irgendwo auf diesem einen Zentimeter und in diesem einen Monat beschlossen die Israeliten, dass sie zurückwollten in die Sklaverei. Sie erinnerten sich an die leckeren Sachen in Ägypten. Wahrscheinlich handelte es sich dabei in Wirklichkeit nur um dünne Knochenbrühe, aber die Nostalgie nimmt es mit den Details nicht so genau. Also erklärten sie Mose, sie wollten zurück ins Land der Zwangsarbeit, des Schweißes und der zerschundenen Rücken. Und Moses Antwort? „Oh Mann, ihr verpeilten Galater! Wer hat es geschafft, euch so zu verwirren?“ (Galater 3,1).
Hoppla! Mein Fehler. Das war nicht Mose, sondern Paulus, etwas salopp zitiert. Diese Worte waren an Christen gerichtet, nicht an die Hebräer. Neues Testament, nicht Altes. 1. Jahrhundert nach Christus, nicht 13. Jahrhundert vor. Aber der Irrtum ist verständlich, denn die Christen zur Zeit von Paulus verhielten sich genauso wie die Hebräer zur Zeit von Mose. Beide waren befreit worden und beide wandten ihrer neuen Freiheit wieder den Rücken zu. Jene zweite Befreiung übertraf die erste noch. Diesmal schickte Gott nicht Mose, sondern Jesus. Und er schlug nicht den Pharao, sondern Satan. Und nicht mit zehn Plagen, sondern mit einem einzigen Kreuz. Und Jesus führt jeden, der ihm folgen will, ins „Nie-wieder-Land“: nie wieder peinlichst genau irgendwelche frommen Regeln einhalten müssen. Nie wieder um Gottes Anerkennung ringen müssen. „Ihr dürft zur Ruhe kommen“, sagte er ihnen. Und das taten sie auch. Etwa vierzehn Seiten lang. So viele liegen in meiner Bibel zwischen Petrus’ Pfingstpredigt in Apostelgeschichte 2 und dem Jerusalemer Konzil in Apostelgeschichte 15.
In der Pfingstpredigt wurde die Gute Nachricht von der Gnade verkündet. Beim Konzil wurde sie wieder infrage gestellt. Nicht, dass die Menschen nicht daran geglaubt hätten, dass Gott ihnen gnädig war. Das taten sie. Sie glaubten sogar sehr an seine Gnade. Sie glaubten nur nicht ausschließlich an die Gnade. Sie wollten dem, was Jesus getan hatte, noch etwas hinzufügen.
„Viele meinen: Jesus hat das Erlösungswerk beinahe vollendet. Aber hin und wieder braucht er unsere Unterstützung. “
Viele Christen glauben an die Gnade. Sehr oft. Jesus hat das Erlösungswerk vollendet, scheinen sie zu argumentieren. Hin und wieder braucht er unsere Unterstützung. Also helfen wir ihm. Wir sammeln gute Werke, so wie die Pfadfinder Abzeichen sammeln. Ich hatte meine im Schrank aufbewahrt – nicht, um sie zu verstecken, sondern damit ich sie mir anschauen konnte. Wenn Sie je bei den Pfadfindern waren, werden Sie das nachvollziehen können. Jedes Abzeichen war der Lohn für meine harte Arbeit. Gibt es irgendetwas Zufriedenstellenderes, als sich Abzeichen zu verdienen? Ja, sie zu zeigen! Und das tat ich jeden Donnerstag, wenn die Pfadfinder in der Schule ihre Kluft trugen. Ich schritt dann wie Graf Koks über das Schulgelände. Verdienstabzeichen bringen Ordnung ins Leben. Leistung wird belohnt. Errungenschaften verdienen Applaus.
Ich kam etwa zur gleichen Zeit zum Glauben, als ich auch zu den Pfadfindern kam, und schloss daraus, dass es bei Gott auch Abzeichen für besondere Verdienste gab. Gute Pfadfinder bekommen einen höheren Rang. Gute Menschen kommen in den Himmel. Also nahm ich mir vor, jede Menge „frommer Auszeichnungen“ zu sammeln. Ich hatte eine bestickte Bibel, aber ich las nicht darin. Ich faltete die Hände, aber so richtig mit Gott sprechen tat ich nicht. Und ich ging zwar regelmäßig in den Gottesdienst, aber ich schaltete meinen Verstand ab, sobald ich auf der Kirchenbank saß. Dennoch sah ich in meiner Fantasie Engel, die fleißig Abzeichen für mich stickten. Sie konnten mit meinen Leistungen kaum mithalten und fragten sich, wo sie die Abzeichen noch hinnähen sollten („Beim Lucado tun mir schon richtig die Finger weh!“). Ich arbeitete auf jenen großen Tag hin, an dem Gott mir alle meine Abzeichen anstecken und mich in sein ewiges Reich einladen würde, wo ich sie dann demütig eine ganze Ewigkeit lang vorzeigen konnte.
Wie gut ist gut genug?
Aber dann kamen einige knifflige Fragen auf: Wenn Gott die Guten rettet, wie gut muss man dann sein? Gott erwartet, dass wir aufrichtig sind, aber wie aufrichtig? Was ist, wenn man 80 Punkte braucht und ich nur 79 habe? Also suchte ich den Rat eines Pastors. Er konnte mir auf meine Frage, wie gut man sein musste, sicher eine Antwort geben. Und das tat er dann auch – und zwar mit nur einem Wort: „Tu.“ „Tu Gutes, dann ist alles in Ordnung.“ – „Tu mehr, dann wirst du gerettet.“ – „Tu das Richtige, dann wirst du gerecht.“
Tu.
Sei.
Tu. Sei. Tu.
Tusei, tusei, tusei.
Kommt Ihnen das irgendwie bekannt vor? Vielleicht. Die meisten Menschen halten an dem Glauben fest, Gott rette die Guten. Also seien Sie gut! Seien Sie moralisch korrekt! Seien Sie ehrlich! Seien Sie anständig! Beten Sie den Rosenkranz! Halten Sie den Sabbat! Halten Sie Ihre Versprechen! Halten Sie sich vom Alkohol fern! Zahlen Sie Ihre Steuern! Verdienen Sie sich Abzeichen!
Gott hat einen besseren Vorschlag: „Denn nur durch seine unverdiente Güte seid ihr vom Tod errettet worden. Ihr habt sie erfahren, weil ihr an Jesus Christus glaubt. Dies alles ist ein Geschenk Gottes und nicht euer eigenes Werk“ (Epheser 2,8). Wir haben nichts beizusteuern. Absolut nichts. Im Gegensatz zu den Abzeichen der Pfadfinder kann man sich die Errettung nicht verdienen. Ein Geschenk. Mit unseren Verdiensten können wir uns nichts verdienen. Nur durch Gottes Wirken verdienen wir alles.
Das war Paulus’ Botschaft an diejenigen, die meinten, Gnade sei schön und gut, reiche aber nicht aus. „Von diesem Fluch des Gesetzes hat uns Christus erlöst. Als er am Kreuz starb, hat er diesen Fluch auf sich genommen“ (Galater 3,13). Mit anderen Worten: „Sagt nein zu den Pyramiden und den Ziegelsteinen. Sagt nein zu den Regeln und den Listen! Sagt nein zu Sklaverei und Leistung. Sagt nein zu Ägypten. Jesus hat euch befreit. Wisst ihr, was das bedeutet?“ Sie wussten es offensichtlich nicht. Wissen Sie es? Wenn nicht, dann wissen Sie, warum Sie so müde sind.
„Es gibt kein Kleingedrucktes. Das dicke Ende wird nicht kommen. Gottes Versprechen haben keine Haken.“
Vertrauen Sie doch auf Gottes Gnade! Folgen Sie dem Beispiel der chilenischen Minenarbeiter. Als sie unter siebenhundert Metern Felsen gefangen waren, waren die 33 Männer am Verzweifeln. Als einer der Hauptstollen eingestürzt war, wurde ihr Ausweg versperrt, und sie mussten ums Überleben kämpfen. Zwei Monate lang beteten sie, dass jemand kommen und sie retten würde. An der Oberfläche arbeiteten die chilenischen Rettungsmannschaften rund um die Uhr, berieten sich mit der NASA und trafen sich mit Experten. Sie bauten eine vier Meter hohe Kapsel und bohrten zuerst einen schmalen Kommunikationsschacht und dann einen breiteren Rettungstunnel. Es gab keine Garantie, dass das funktionieren würde. Noch nie war jemand so lange Zeit unter Tage eingesperrt gewesen und hatte es überlebt. Jetzt schon. Am 13. Oktober 2010 kamen die Männer heraus und führten Freudentänze auf. Jeder hatte eine andere Geschichte zu erzählen, aber alle hatten die gleiche Entscheidung getroffen. Sie vertrauten darauf, dass andere sie retten würden. Keiner von ihnen wies das Angebot, gerettet zu werden, mit den Worten ab: „Ich komme schon allein hier raus. Gebt mir nur einen neuen Bohrer.“ Sie hatten ihr steinernes Grab lange genug angestarrt, um einstimmig zum Schluss zu gelangen: „Wir brauchen Hilfe. Wir brauchen jemanden, der zu uns hier unten durchbricht und uns herauszieht.“ Und als die Rettungskapsel kam, kletterten sie hinein.
Warum fällt es uns so schwer, es genauso zu machen? Es fällt uns leichter, an das Wunder der Auferstehung zu glauben als an das Wunder der Gnade. Wir haben solche Angst zu versagen, dass wir uns nach außen den Anschein geben, wir seien perfekt und hätten alles im Griff. Doch das tun wir nur, damit der Himmel nicht noch enttäuschter von uns ist, als wir es selbst schon sind. Und das Ergebnis? Wir sind unglaublich müde. Der Versuch, sich selbst zu retten, führt nur zur Erschöpfung. Wir hetzen und eilen, versuchen, Gott zu gefallen, sammeln Abzeichen und Bonuspunkte und ärgern uns über jeden, der unsere Verdienste infrage stellt. Wir sind die Gemeinde der Langgesichter und Hängeschultern. Schluss damit! Es ist endgültig genug mit diesem Wahnsinn.
„Es ist das Größte, wenn jemand seine ganze Hoffnung auf Gottes Gnade setzt und sich durch nichts davon abbringen lässt“ (Hebräer 13,9). Jesus sagt nicht: „Kommt alle her zu mir, die ihr vollkommen und sündlos seid.“ Ganz im Gegenteil. „Kommt alle her zu mir, die ihr euch abmüht und unter eurer Last leidet! Ich werde euch Ruhe geben“ (Matthäus 11,28). Da gibt es kein Kleingedrucktes. Das dicke Ende wird nicht kommen. Gottes Versprechen haben keine Haken. Um Himmels willen: Lassen Sie die Gnade Einzug halten!
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