Eine ganz besondere Familie

Familie Neufeld hat zwei Jungen mit Down-Syndrom adoptiert

Alexander ist schon früh wach geworden – ganz so, als müsse er heute in die Schule gehen. Endlich ist es Zeit zum Aufstehen. Er zieht sich Schuhe und Jacke an, nimmt das Haushaltsportemonnaie und macht sich auf den Weg, den er schon so oft mit seinem Vater gegangen ist. Stolz legt er der Bäckersfrau die abgezählten Münzen auf den Tresen. Über den Besuch des Jungen mit dem ansteckenden Lachen freut sie sich immer ganz besonders. Alex kann jetzt schon allein die samstäglichen Semmeln einkaufen gehen. Zuhause bereiten seine Eltern das Frühstück vor. Alexanders Bruder Samuel deckt den Tisch. Am wichtigsten sind gekochte Eier. „Wenn es die Eier nicht gibt, ist das ganz schlimm für die Jungs. Denn Rituale sind noch wichtiger für sie als für andere Kinder“, erklärt Vater David. Seine beiden Söhne haben das Down-Syndrom.

Carolin und David Neufeld sind noch jung, Mitte zwanzig erst, als die Ärzte ihnen mitteilen, dass sie keine eigenen Kinder bekommen werden. Niemals Eltern sein? Mit dieser Endgültigkeit will das Paar sich nicht abfinden und sucht Rat in einer Kinderwunschklinik. Doch bereits nach kurzer Zeit entscheiden sich Carolin und David gegen eine künstliche Befruchtung – vor allem weil sie spüren, dass dieser Weg ihrer tiefsten Überzeugung widerspricht: „Das Leben ist ein Geschenk. Leben lässt sich nicht machen“, erklärt die heute 39-Jährige rückblickend.

Dennoch wollen sie ihren Traum von Familie nicht aufgeben, und so beschließen sie, sich beim Jugendamt als Pflege- und Adoptiveltern zu bewerben. „Das Formular war absurd“, erinnert sich David Neufeld. „Man konnte genaue Vorstellungen angeben. Doch für uns war klar: Bei einem leiblichen Kind kann man sich auch kein Mädchen mit blonden Zöpfen aussuchen. Deshalb haben wir die Frage, ob wir auch ein behindertes oder ein Kind mit Migrationshintergrund aufnehmen würden, positiv beantwortet.“ Ein wenig floss auch der berufliche Hintergrund von Carolin Neufeld in diese Entscheidung mit ein, denn Berührungsängste kannte die Erzieherin an einer Schule für Kinder mit Behinderung nicht. „Wir wollten Gott einfach vertrauen, dass er es richtig macht. Und so haben wir es auch erlebt.“

Mama, Papa und zwei Jungen

Im Winter 2000 wird Neufelds der knapp eineinhalbjährige Onur, ein Junge mit türkisch-tunesischen Wurzeln, als Pflegesohn vermittelt. Eigentlich soll er nur vorübergehend bei ihnen leben, doch aus den geplanten Wochen werden viele Jahre.

Bereits ein knappes Jahr später folgt eine erneute Anfrage vom Jugendamt: Ein Säugling mit Down-Syndrom sei zur Adoption freigegeben und es werde bereits bundesweit nach Adoptiveltern gesucht. Als Familie Neufeld den hübschen Jungen im Krankenhaus besucht, ist es um sie geschehen: „Wir haben uns sofort in ihn verliebt!“ Onur will sich sogar zu ihm ins Bettchen legen. Bereits drei Tage später nehmen sie Alexander mit nach Hause – eine Entscheidung, die von heute auf morgen ihr ganzes Leben umkrempelt.

Den Großeltern fällt es anfangs nicht leicht, den Entschluss ihrer Kinder nachzuvollziehen. Sie machen sich Sorgen: „Wisst ihr, worauf ihr euch da einlasst?“ Doch es dauert nicht lange, bis Alexander ihre Herzen erobert und die Bedenken zerstreut. „Menschen mit Behinderung haben eine ganz unmittelbare Art, Beziehung zu leben, und das ist echt ein Geschenk. In einer Welt, in der so viel Zurückhaltung herrscht, ist das etwas total Entwaffnendes“, sagt David Neufeld.

Entdeckertage und Gottesdienste

2004 bezieht die Familie in Schwarzenfeld nahe Regensburg ein Haus mit großem Garten. David Neufeld beginnt, einen eigenen Verlag aufzubauen, und Carolin wünscht sich bald ein weiteres Kind. Eigentlich denkt sie dabei an ein Mädchen, doch es kommt anders: „Das Jugendamt hat uns immer mal wieder um Hilfe bei der Vermittlung eines ,besonderen Kindes‘ gebeten, weil wir bereits ein gutes Netzwerk aufgebaut hatten“, erzählt das Paar. So auch bei Samuel, der 2006 als ersehntes Wunschkind auf die Welt kam: Model und Schauspieler sollte er einmal werden – doch weil er das Down-Syndrom hat, entscheiden sich seine leiblichen Eltern nach drei Monaten, ihn zur Adoption freizugeben. David und Carolin Neufeld zögern nicht lange und so wird Samuel zu Familienmitglied Nr. 5.

„Menschen mit Behinderung haben eine ganz unmittelbare Art, Beziehung zu leben. Das ist ein Geschenk!“

Jedes Jahr wird neben den Geburtstagen auch der jeweilige „Entdeckertag“ der Jungs – der Tag, an dem sie zum Familienmitglied wurden – festlich begangen. „Bisher sind Alexander und Samuel der Frage, warum sie nicht in Mamas Bauch waren und wo sie stattdessen herkommen, noch nicht näher auf den Grund gegangen“, erzählt David Neufeld. „Und ich weiß nicht, ob sie sich gedanklich je auf diesen Pfad begeben werden. Wenn sie aber eines Tages fragen sollten, erklären wir ihnen natürlich alles.“

Sonntags steht bei Neufelds Gottesdienst auf dem Programm. Und wenn Papa David die Musik leitet, steht Alexander neben ihm auf der Bühne und singt voller Inbrunst mit: „Alex ist die totale Rampensau“, lacht der 43-Jährige, „wir müssen im Gottesdienst immer ziemlich aufpassen, dass er nicht ständig vorne mitmacht.“ Samuel hingegen sei ein eher ruhiger Junge. Manchmal versinke er beim Spielen ganz in seiner Welt: „Man kann sich einfach hinsetzen und ihm zuschauen, wie er spielt. Das macht total Spaß.“ Vor allem den großen Garten der Familie liebe der Siebenjährige und so könne man ihn sogar im Winter fast täglich versonnen im Sandkasten buddeln sehen.

Überhaupt seien die Jungs für ihre Gemeinde eine große Bereicherung: „Unsere Gebrochenheit als Menschen ist im Evangelium ja ein zentraler Aspekt“, weiß David Neufeld. „Menschen mit Behinderung verkörpern etwas davon. Das ist wichtig in einer Welt, in der man sich oft vormacht, wir wären alle fit und hätten alles im Griff.“

Augenblick-Genießer

Darum ärgert es den Familienvater maßlos, wenn in den Medien davon die Rede ist, dass jemand am Down-Syndrom „leide“. „Sie leiden nicht, ganz im Gegenteil.“ Vielmehr richteten seine beiden Söhne auch sein Augenmerk immer wieder auf das, was im Leben wirklich zähle: „Wenn Alexander morgens in den Schulbus steigt – für ihn so eine Art Partybus – dann geht es zack, Musik an, und los geht’s!“ Natürlich habe auch er mal einen schlechten Tag, „aber dieses Den-Augenblick-Genießen, völlig in der Musik aufgehen, irgendwas machen und darin versinken – das ist total stark, das ist Lebensglück. Und es ist ein Riesengeschenk, das miterleben zu dürfen!“

Dass Menschen mit Behinderungen unglaublich bereichernd für das Leben und die Gesellschaft sind – für dieses Thema macht sich David Neufeld auch mit seinem Verlag stark: „Menschen mit Behinderung sind für uns ein ganz starker Programmstrang geworden. Zum Beispiel bringen wir jedes Jahr mit der Fotografin Conny Wenk einen Kalender mit Fotos von Kindern und Jugendlichen mit Down-Syndrom raus. Meine Frau sagt manchmal: ,Der Alexander leitet den Verlag schon viel länger, als dir bewusst ist!‘“ Was den Verleger besonders freut: Durch den Kalender haben sich etliche Paare damit auseinandergesetzt, selbst ein Kind mit Behinderung bei sich aufzunehmen. Darüber hinaus gibt es einen Down-Syndrom-Newsletter, der mittlerweile an mehrere tausend Empfänger geht, und auch Conny Wenks Buch „Außergewöhnlich“ zieht weite Kreise. Neufeld: „Es gibt kein Produkt im Verlag, das so viel bewegt, wie dieses Buch. Da schreiben Mütter: ,Liebe Conny, mein Kind ist auf der Welt, weil die Ärztin im Pränatal-Diagnostik-Zentrum mir dein Buch gegeben hat.‘“

Loslassen ins Leben

Dennoch ist nicht alles eitel Sonnenschein bei Familie Neufeld. Seit einiger Zeit lebt der mittlerweile 14-jährige Onur nicht mehr bei ihnen. Die schwierige Geschichte seiner Herkunft sowie die Tatsache, dass sein leiblicher Vater ihn nicht richtig loslassen konnte, zerrissen den Jungen und sorgten für endlose Konflikte mit Pflegeeltern und -brüdern. „Er ist ein liebenswerter Kerl, aber er ging dauernd über die Grenzen hinweg. Irgendwann waren wir einfach total überfordert“, sagt David Neufeld traurig. Und so treffen er und seine Frau nach vielen vergeblichen Versuchen, die Situation mithilfe von Familienberatung zu verbessern, die bisher schwerste Entscheidung ihres Lebens: Sie geben Onur in eine andere Pflegefamilie, mittlerweile wohnt er in einem Heim. „Trotzdem sind wir immer noch seine Familie. Alle vier Wochen und auch in den Ferien ist er bei uns.“

Was die Zukunft von Alexander und Samuel angeht, sind die Eltern zuversichtlich: „Wir sind uns sicher, dass wir die Jungs an den Ort begleiten können, der gut für sie ist, und den sie auch selber wollen.“ Das müsse keine Werkstatt für Menschen mit Behinderung sein, betont Neufeld und erklärt, dass es mittlerweile immer mehr Menschen mit Behinderung schafften, eine Stelle auf dem ersten Arbeitsmarkt zu bekommen. „Natürlich tauchen auch Ängste auf, wie sie ihren Weg gehen werden. Und sicherlich fällt es uns etwas schwerer, sie loszulassen, als dass in anderen Familien der Fall ist.“ Dennoch ist der 43-Jährige sich sicher, dass Alexander und Samuel einmal selbstständig leben werden – vielleicht sogar heiraten. „Warum auch nicht?“, sagt er. „Die Glücklichen, die sie einmal bekommen!“