Wo Worte schwer zu finden sind, da redet die Musik

Musiktherapie: was ist das und wer braucht sie? Eine häufig gestellte Frage – dabei gibt es diese anerkannte eigenständige Therapieform in Europa bereits seit den 50er Jahren des vergangenen Jahrhunderts. Die therapeutische Wirkung von Musik an sich kennt schon die Bibel: als in 1. Samuel 14 ein „böser Geist vom HERRN“ über König Saul kommt, ist es Davids Harfenspiel, das den König erquickt und den Geist vertreibt. Welche Kräfte wirken hier, und wie werden sie in der Musiktherapie eingesetzt?

Musik, egal ob wir sie hören oder selbst spielen, löst im menschlichen Körper eine Vielzahl physiologischer Reaktionen aus. Haut- und Muskeltonus verändern sich, unser Puls passt sich dem Tempo der Musik an, Gehirn und Kreislauf werden angeregt. Es gibt Musiktherapieformen, die allein mit diesen Effekten arbeiten. In der Neurorehabilitation wird Musik eingesetzt, um beim Wiedereinüben rhythmischer Tätigkeiten wie Atmen und Gehen Hilfe zu leisten. Darüber hinaus kann Musik ein Kommunikationsmittel sein – ein Kanal, über den Emotionen und Empfindungen Ausdruck finden und aufgenommen werden.

Es gibt zwei grundlegende Therapievarianten: aktive und rezeptive Musiktherapie. In den sechziger Jahren erreichten die Musiktherapeuten Paul Nordoff und Clive Robbins Bekanntheit damit, dass sie mit autistischen Kindern arbeiteten, denen es schwerfiel, stabile Sozialbeziehungen zu führen. Während es oft schwer war, verbalen Kontakt mit den Patienten aufzunehmen, zeigten viele unmittelbar positive Reaktionen auf Musik. Es ließ sich Beziehung bauen; ein persönliches Begrüßungslied, das der Therapeut zu Beginn jeder Stunde sang, löste nicht nur sichtbare Freude (Lächeln, Körperbewegung zur Musik, Blickkontakt) aus, sondern bot Interaktionsmöglichkeiten. Musikalische Frage-Antwort-Spiele wurden entwickelt: machte der Therapeut eine Pause an einer bestimmten Stelle seines Liedes, war es Aufgabe des Patienten, diese mit Tönen seines Instruments zu füllen. Tat er dies erfolgreich, so veränderte sich das Lied und bot weitere Gelegenheiten, sich musikalisch „Bälle zuzuwerfen“. In vielen kleinen Schritten wurde eine musikalische Beziehung entwickelt, die beiden Seiten Gelegenheit gab, aktiv zu kommunizieren. Der Ritualcharakter des Stundenablaufs – zum Beispiel gleiche Lieder bei Begrüßung und Abschied, vertraute Instrumente – gab Patienten Stabilität. Kam dann das Singen hinzu, war der Weg zur erfolgreichen Verbalkommunikation fast beschritten. Nordoff und Robbins dokumentierten ihr Arbeiten ausführlich und begründeten so eine der wichtigsten Strömungen der Musiktherapie, deren Methoden bis heute verwendet werden. Schwerpunktklientel sind Menschen mit Entwicklungsverzögerungen sowie verschiedenen Autismus-Ausprägungen.

Musik transportiert unmissverständlich Gefühle; niemand würde behaupten, Mozarts „Kleine Nachtmusik“ drücke Verzweiflung und tiefe Trauer aus. Ebenso erkennen wir Stimmungen und Empfindungen in Musik aller Stilrichtungen und Epochen wieder. Hiermit arbeitet die rezeptive Musiktherapie. In psychiatrischen Therapien bietet das Hören von Musik, die spezifische Stimmungen ausdrückt, den Ausgangspunkt für Gespräch und eigenen musikalischen Ausdruck. In der geriatrischen Arbeit löst das Musikhören Erinnerungen aus und aktiviert. Schmerzpatienten nehmen in der Musik Gefühle neu wahr, die sonst von ihrem Leiden „übertönt“ werden. Dialysepatienten finden im Hören Entspannung und innere Einkehr, bevor sie sich der Behandlung unterziehen. Da, wo Worte schwer zu finden sind, schlägt die Musik Brücken und heilt.