Wenn die Menschheit eine Tanne wäre
Ich sitze im Büro und schaue aus dem Fenster in den Wald, während ich darüber nachdenke, was ich diesmal über Menschenrechte schreiben werde. Da sagt René, mein Bürogenosse, lächelnd: „Wenn Menschenrechte eine Tanne wären … das ist deine Headline.“ Spaßig, der Gute. Aber leicht umformuliert, führt der Gedanke auf eine gute Spur. Wenn nämlich die Menschheit eine Tanne wäre, dann wären die Menschen die Tannennadeln. Und obwohl sie sich alle voneinander unterscheiden würden, wären sie alle ein gleichwertiger Teil der Tanne.
Und von diesem Gedanken gehen die Menschenrechte ja aus: alle Menschen sind gleichwertige Teile der Weltgemeinschaft, auch wenn sich jeder Mensch mal mehr, mal weniger vom anderen unterscheidet. Aber haben auch alle Menschen die gleichen Rechte? Gelten die Menschenrechte für den Konzernchef genauso wie für den Hilfsarbeiter? Für den Dalai Lama genauso wie für den indischen Reisbauern? Für den australischen Gewichtheber genauso wie für die schwedische Frauenrechtlerin? Für den Kriegstreiber genauso wie für den Pazifisten?
Was sie festlegen
Die Antwort ist einfach: Ja. Um die Rechte und Freiheiten der „Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte“ für sich in Anspruch zu nehmen, gibt es nur ein Kriterium: nämlich das des Menschseins. Ist man ein Mensch, hat man automatisch bestimmte Ansprüche, wie zum Beispiel das Recht auf Leben, Unversehrtheit der Person, Gleichbehandlung. Darauf hat sich die Weltgemeinschaft nach dem Zweiten Weltkrieg geeinigt. Denn dieser war so grausam, dass man nach Regeln gesucht hat, die solche Ereignisse in Zukunft verhindern würden. So entstanden die Menschenrechte, wie wir sie heute kennen.
Was sie so schwierig macht
Dass es aber keine Garantie auf die Umsetzung dieser Rechte gibt, zeigt leider der Alltag in vielen Ländern. So werden zum Beispiel in Indien Kinder, die von Schuldsklaven geboren werden, einfach mitversklavt. Sie haben keine Chance auf ein selbstbestimmtes Leben. Aber auch in Deutschland werden Menschenrechte gebrochen. So stellt die geduldete Tötung von Ungeborenen durch Abtreibungskliniken eine Missachtung des Rechtes auf Leben dar, die trotz der hochentwickelten Demokratie unseres Landes nicht geahndet wird. Begründet wird das mit dem Recht der Frau auf Selbstbestimmung. Ein schwieriger Konflikt: Scheinbar können hier nicht zwei Menschenrechte gleichzeitig gewährt werden.
Tatsächlich ist es vielfach nicht leicht, die Menschenrechte umzusetzen. Deswegen ist die ursprüngliche Erklärung von 1948 auch schon um ein paar Rechte erweitert worden, wie etwa das Recht auf Arbeit, auf soziale Sicherheit oder Versorgung im Alter. Seit einiger Zeit bemühen sich auch einige Gruppen, Sonderrechte für sich selbst zu etablieren. So versucht beispielsweise die Frauenbewegung immer wieder, sogenannte „Frauenrechte“ einzuführen. Aber wie können Frauenrechte, also Rechte, die offenbar nur Frauen in Anspruch nehmen können, als Menschenrechte, also Rechte, die für alle Menschen gelten sollen, betrachtet werden?
Was wir nicht aufgeben dürfen
Fragen solcher Art werden unsere immer individualistischere Weltgemeinschaft mehr und mehr beschäftigen und das Konzept der Menschenrechte auf eine harte Probe stellen. Denn je nach Weltanschauung und Wertesystem werden sie anders bewertet und interpretiert. Doch wir brauchen sie unbedingt. Nicht nur als geschriebenes Recht, sondern auch als umgesetzte Wahrheit. Denn es bleibt die Tatsache, dass wir alle Nadeln an derselben Tanne sind. Und einen Weg finden müssen, miteinander zu leben.
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