So eine nette Tante hatte ich noch nie!
Falten im Gehirn
Die ersten Anzeichen von Vergesslichkeit und Verwirrtheit tauchten bei meiner Mutter schon vor über zehn Jahren auf: Begriffe wurden verwechselt oder waren nicht mehr zugänglich, Sachen wurden verlegt, Termine vergessen, Namen waren nicht mehr parat. Ein Test brachte einige Jahre später ans Licht, was meine Schwester und ich schon länger vermutet hatten: Unsere Mutter litt an vaskulärer Demenz! „Medikamentös ist hier leider nichts zu machen“, meinte der behandelnde Arzt. Zusätzliche Tabletten hätten zu viele Nebenwirkungen in Anbetracht bereits verordneter Medikamente. Eine Neurologin bestätigte die Diagnose und meinte, wir als Angehörige müssten uns mit der Krankheit „anfreunden“. Unsere Mutter war zu dem Zeitpunkt 77 Jahre alt
Im Laufe der Zeit nahm die Verwirrtheit deutlich zu und das Urteilsvermögen wurde stärker eingeschränkt. So behauptete sie zum Beispiel steif und fest, einen wichtigen Termin im Krankenhaus zu haben oder von anonymen Anrufern belästigt zu werden. Außerdem verlegte sie Gegenstände und verdächtigte andere, sie gestohlen zu haben. Beim Autofahren konnte sie Gefahren nicht mehr realistisch einschätzen und sich der Verkehrslage entsprechend verhalten. Wir mussten ihr nahelegen, das Autofahren aufzugeben – um nicht sich selbst und andere zu gefährden. Für unsere Mutter war das überhaupt nicht einsichtig. Zum Glück unterstützte uns der Hausarzt und sagte unmissverständlich, sie dürfe nicht mehr Auto fahren. Es war hilfreich, dass dieses „Verbot“ von einer offiziellen Stelle kam.
Das Auto abmelden. Das war der erste massive Einschnitt! Für uns als Angehörige – und erst recht für unsere Mutter, die ja auf diese Weise ihre Autonomie verlor. Sie hat mehrere Tage bitterlich geweint! Es hat uns schier das Herz gebrochen.
In zunehmendem Maß hatte sie in Gesprächen große Mühe, bestimmte Wörter zu finden. Ich erklärte ihr, sie hätte doch bereits einige Falten im Gesicht. „Stimmt“, meinte sie. „Siehst du, genauso hast du auch Falten im Gehirn. Und dazwischen verstecken sich die Wörter.“ Da musste sie lachen und fragte verschmitzt: „Meinste wirklich?“
Das Zauberwort „vorübergehend“
Das eigene Versorgen ließ in den kommenden Monaten deutlich nach. Obwohl „Mutti“ stets behauptete, sie würde doch noch alles selbständig im Haushalt erledigen, hörte sie auf zu kochen und aß nur noch Brot. Sie putzte nicht mehr und wusch sich nur noch selten. Ich muss gestehen, dass dieser Einbruch für mich schockierend und sehr schmerzlich war. Früher war unsere Mutter Vorführköchin gewesen; außerdem hatte sie einen perfekt geführten Haushalt und erfreute jeden durch ihren guten Geschmack, gerade auch was Wohnungseinrichtung und Kleidung betraf. In all diesen Bereichen baute sie merklich ab!
„Doch Mutter wollte nichts davon wissen; schließlich könne sie perfekt kochen.“
Für meine Schwester und mich war es nicht möglich, unser berufliches Umfeld so zu gestalten, dass wir unsere Mutter hätten voll versorgen können. Eine Pflegekraft zu suchen, wäre die beste Option gewesen; dem hatte unsere Mutter ja auch theoretisch zugestimmt. Doch in der aktuellen Situation wollte sie nichts mehr von der Abmachung wissen und meinte, sie hätte alles noch voll im Griff.
Die Wirklichkeit sah anders aus: Meine Schwester und ich übernahmen Putz- und Einkaufsdienste, achteten auf Mutters Körperpflege, wuschen die Wäsche und stellten sicher, dass sie regelmäßig aß. Wir kamen dabei total an unsere Grenzen! Vor allem, weil wir uns nicht darauf verlassen konnten, dass sie wirklich essen würde. Manchmal aß sie gar nichts, an einem anderen Tag aß sie den gesamten Wochenproviant auf. Schlussendlich kamen wir nicht an der Entscheidung vorbei, „Essen auf Rädern“ zu bestellen. Doch Mutter wollte nichts davon wissen; schließlich könne sie perfekt kochen. Da ich für einige Wochen beruflich ins Ausland reisen musste, konnte ich sie schlussendlich überreden – mir zuliebe – und vorübergehend (!) diesen Service anzunehmen.
„Vorübergehend?“, meinte sie. Ich bejahte. Dem stimmte sie fröhlich zu. Und ich merkte, wie entspannend dieses Zauberwort war. Es hatte in den folgenden Monaten genau die gleiche Wirkung. „Vorübergehend“ hatten wir eine Putzkraft; „vorübergehend“ wurde besondere Hilfe in Anspruch genommen; „vorübergehend“ musste sie zu einem Eingriff ins Krankenhaus; „vorübergehend“ kam eine Vollzeitpflegekraft ins Haus… In wechselnder Besetzung wird unsere Mutter nun schon seit vier Jahren voll betreut. Natürlich nur vorübergehend ...
Dann hatte Mutter zum ersten Mal eine Art Wahnvorstellung. Hier mein Tagebucheintrag vom 1.1.2010: „Mutti war völlig aufgelöst. Sie wurde angeblich am Vorabend aus dem Gottesdienst weggeholt, weil bei ihr im Haus Besuch sei. Zwei Männer waren eingebrochen, hatten aber nichts mitgenommen. Vermutlich hatten sie einen Universalschlüssel. Einer lag in der Küche, der andere saß auf der Treppe. Entweder waren sie betrunken oder hatten Hasch geraucht. Sie wusste nicht, wie sie reingekommen waren. Als sie in den Keller ging, waren sie plötzlich verschwunden …“
Ich lernte in dieser Zeit, dass solche Halluzinationen einen Realitätsbezug haben1. Wenn die an Demenz erkrankte Person von „Einbrüchen“ spricht, dann stimmt das auch. Sie erlebt einen „Einbruch“ in ihrem Leben. Wenn Gegenstände gestohlen werden oder ihr verlorengehen, dann stimmt auch das. Sie hat ja etwas verloren – neben der Selbständigkeit vor allem ihr Gedächtnis!
Vor dem musst du dich in Acht nehmen …
Das Gedächtnis ließ sie auch im Stich, wenn es darum ging, mit Geld umzugehen. So legte sie beim Frisörbesuch strahlend fünf Euro hin und wartete auf das Wechselgeld. Ob nun fünf oder fünfzig Euro, sie hatte keinen Bezug mehr zum Geldwert. Geschriebene Texte ergaben keinen Sinn mehr; so konnte sie schriftliche Notizen nicht verstehen und die eigene Unterschrift wurde immer rudimentärer. Es ging an die Nerven mitzuerleben, wie sie immer mehr abbaute. Und manchmal fehlte auch die Geduld, hundertmal das Gleiche zu erklären. Das Verständnis von Jahreszahlen ging verloren, ebenso das Einordnen von Jahreszeiten. Schwierig gestalteten sich auch die verwandtschaftlichen Bezeichnungen. Ich war des Öfteren ihre Schwester, und einmal meinte sie sogar: „So eine nette Tante wie dich hatte ich noch nie.“ „Hauptsache, wir sind verwandt“, war meine Reaktion. Sie lächelte und meinte: „Ich glaube, du hast mich ganz schön gern!“ Absolut!
Meine Schwester und ich sind jetzt an einem Punkt angelangt, dass wir die Zeiten mit ihr genießen können. Dabei hilft es uns, so manches mit Humor zu nehmen. Neulich schaute sie auf ihr Hochzeitsfoto, deutete auf meinen Vater und warnte mich: „Vor dem musst du dich in Acht nehmen. Der will immer was von einem!“ „Mutti, der war doch mal dein Mann!“ Daraufhin schaute sie mich ganz verschwörerisch ertappt an: „Echt?“
Andere an Demenz Erkrankte erleben eine starke Persönlichkeitsänderung. Schlimm ist es, wenn die Betroffenen aggressiv und verbal ausfällig werden. Zum Glück trifft dies bei unserer Mutter überhaupt nicht zu. Im Gegenteil, sie wird immer sanfter und „glückseliger“. Sie war schon immer eine dankbare Person und konnte sich an vielem freuen. In den „gesunden“ Zeiten, war sie aber auch perfektionistisch, wollte es jedem recht machen und auch gerne Recht behalten. Das alles hat sich neuerdings in Luft aufgelöst. Geblieben sind eine ausgeprägte Dankbarkeit und eine umfassende Zufriedenheit. Geblieben sind auch das schöne Lächeln und das Besorgtsein um andere. Vor einigen Wochen sollte unsere Mutter ein neues Gebiss bekommen. Ich fuhr sie zum Zahnarzt. Unterwegs meinte sie mit zahnlosem Lächeln, es sei ja alles so schön draußen und wohin die Reise denn gehen würde. „Du bekommst heute ein neues Gebiss, Mutti“, erklärte ich ihr. Sie schaute mich fragend an: „Und du?“ Da musste ich so lachen! Typisch Mutti, es müssen immer auch die anderen vorkommen. Keine Tasse Kaffee, kein Keks, kein Glas Wasser ohne ihr „Nimm dir auch was!“
Am schönsten sind für mich die Zeiten, wenn wir gemeinsam singen. Vor einem Jahr konnte sie noch selbst ein Lied auf der Gitarre spielen. Das geht jetzt leider nicht mehr. Aber dann spiele ich – und wir beide singen. Am liebsten die alten Lieder über Gott und die Welt. Ich staune über ihre klare Stimme und dass sie alle Lieder noch auswendig kann. „Im Wiesental ein Häuschen steht“, „Lasst die Herzen immer fröhlich“, „Gott ist die Liebe“ und „Solang mein Jesus lebt“ sind die absoluten Favoriten. Da kann es schon vorkommen, dass wir sie mehrmals hintereinander singen, von Mutti jedes Mal mit frischer Begeisterung und „gerade neu entdeckt“. In solchen Momenten fühle ich mich meiner Mutter sehr nahe… und ich spüre, ihr Herz wird nicht dement. Sie liebt mich und kann es (noch) zeigen durch ihr Lächeln und eine feste Umarmung. Dann danke ich Gott von Herzen, dass es sie gibt. Auch mit Falten im Gehirn.
1 Siehe Udo Baer/Gabi Schotte. 2009. Das Herz wird nicht dement. Affenkönig Verlag Neukirchen-Vluyn.
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