Safina.
Die Seele wird gesund
Sonntag, früher Nachmittag, die Sonne steht hoch und brennt vom Himmel. Dreißig Grad im Schatten. In die Sonne geht eigentlich keiner um zu messen. Warum auch. Ich habe mich an meinen Lieblingsplatz zurückgezogen und sitze auf der Brüstung des Vordachs. Eigentlich will ich lesen, als ein kleiner Mensch um die Ecke linst. Bevor ich was sagen kann, ist er auch schon wieder weg. Ich muss schmunzeln. Keine drei Minuten später sitzt er auf dem Stuhl neben mir und redet freudestrahlend auf mich ein. Dass ich davon kein Wort verstehe, scheint den Zwerg nicht sonderlich zu stören. Jedenfalls schwatzt er fröhlich weiter, zeigt mir in einem alten zerfledderten Schulheft, das er aus irgendeiner Ecke hervorzieht, dass er schon bis zehn zählen kann. Was ich nur deshalb verstehe, weil Zeichensprache universal ist. Als ich mit dem Zeigefinger auf meine Brust tippe und sauber artikuliert meinen Namen sage, strahlt der kleine Mensch mich an und macht es mir nach. So erfahre ich also, dass er Rafi heißt.
Safina bedeutet Arche
Rafi ist etwa vier Jahre alt, so genau weiß man das eben nicht bei Kindern, die man auf der Straße findet. Da muss man dann schätzen und sich an der Entwicklung des einzelnen Kindes orientieren. Körperlich und geistig. Was sich in manchem Fall als extrem schwierig erweist, wie ich mir später anhand der Geschichte von Aaron erzählen lasse. Aaron war von der Polizei aufgegriffen worden, als er etwa fünf war. Und weil niemand wusste, wo der Bursche herkam oder wo man mit ihm hinsollte, blieb er mal erst in einer Arrestzelle auf der Wache. Allerdings entwickelte sich das zu einem stattlichen zweijährigen Aufenthalt. Niemand hatte sich gemeldet, dass ihm ein Kind abhandengekommen sei. Also blieb er, wo er war, bis er nach Safina kam. In die Arche, dahin, wo er aufgehoben war, bewahrt und behütet. Wo er ein Zuhause fand. Eins, von dem er kaum ahnte, dass es das überhaupt gibt. Leider kam er nicht ganz unbeschadet. Irgendwann hatte seine Mutter ihm irgendeine Paste zu vermutlich irgendeinem Schutz in die krausen Haare geschmiert. Dort blieb sie auf ewig und verkrustete derart, dass beim Versuch der Reinigung nicht nur die Haare mit ausgingen, sondern sich auch die Kopfhaut ablöste. Zeitlebens wird er die äußeren Narben für alle deutlich sichtbar tragen. Was an seiner kleinen Seele kaputt gegangen ist, sieht man nicht gleich, aber man ahnt es, wenn er einem auf den Schoß klettert, ganz still dasitzt, sich ankuschelt und den Augenblick in sich aufsaugt.
Jungs, die keiner wollte
Es gibt hier leider viele Jungs wie Aaron und Rafi. Jungs, die keiner wollte, die abgeschoben wurden und auf der Straße sich selbst überlassen waren. Da lebten sie nach dem Gesetz des Stärkeren, lernten, sich zu nehmen, was sie wollten und zu laufen, wenn sie mussten. Manche von ihnen sind gerade mal zwei Jahre alt. Den Schutz der Größeren genießen sie kaum. Das Gegenteil ist wohl eher der Fall. Wer clever ist und ausreichend viel klaut, kann sich was zum Schnüffeln besorgen. Das lösungsmittelhaltige Zeug ist in der Regel in einer gebrauchten Plastikflasche zu haben und berauscht die Jungs genug, um ihrer Welt für eine Zeitlang zu entkommen. Über gesundheitliche Schäden macht sich keiner von ihnen Gedanken. Warum auch.
Es gibt übrigens einen Grund, warum auf der Straße fast nur Jungs zu finden sind. Mädchen nämlich können von den Eltern als Dienstmägde oder Prostituierte verkauft werden und sichern damit ein gewisses Einkommen. Familie als wirtschaftlicher Faktor in einer armen Welt. Wer darüber richtet, ist noch nicht da gewesen. Hat die existenzielle Not der Menschen nicht kennengelernt, nie mit ihnen gesessen, geredet, geweint.
Neben den beiden Kleinen gibt’s noch mehr von deren Größe. Alle versammelt auf einem großen Areal, etwa 15 Autominuten entfernt von der Stadtgrenze, umzäunt und inmitten verhältnismäßiger Trockenheit. In zwei Wohnhäusern, die jeweils von einer Familie geführt werden, finden insgesamt gut fünfzig Kinder Platz.
„Hier werden so viele Geschichten geschrieben, hier werden so viele Seelen verarztet, so viele Biographien aus Leid und Traurigkeit in helles Glück verwandelt.“
Kinder, die sonst auf der Straße leben würden. Kinder, die eigentlich nichts mehr zu verlieren hatten, aber gleichzeitig etwas aufgeben mussten, um überhaupt an diesen Ort kommen zu können. Sie mussten ihre Cliquen zurücklassen, die Drogen, das wilde Leben, in dem kein Platz war für Ordnung und geregelte Abläufe. Sie mussten sich entschließen lernen zu wollen, zur Schule zu gehen und dabei zu bleiben. Und das ist für die meisten nicht leicht. Auch wenn sie dafür ein Zuhause bekommen. Die Straße ist ihnen vertraut und Vertrautes verleiht Sicherheit. Das Leben in einer Familie haben sie meistens nur in schlechter Erinnerung, fürchten, wieder rausgeworfen oder misshandelt zu werden, können nicht wirklich wissen, was da auf sie zukommt. Und so sehr sie sich nach Liebe sehnen, so sehr fürchten sie auch, damit nicht zurechtzukommen. Aber sie sind hier. Rafi, dessen Mutter illegalen Schnaps brennt und den Jungen immer wieder aus dem Haus warf, bevor er nach Safina kam. Aaron, dessen Kopfwunden ihn zeichnen und der doch so fröhlich und hilfsbereit in den Tag lebt. Vermutlich hat das, was seine Mutter mit ihm tat, auch auf das Innere seines Kopfes gewirkt. Ihm jedenfalls ist deutlich anzumerken, dass er trotz großer Mühe enorme Probleme hat, sich Dinge einzuprägen. Das Lernen fällt ihm sehr schwer. Aber er wird seinen Weg machen. Mit Gottes Hilfe.
Rafiki heißt Freundschaft
Ihren Weg machen auch die älteren Jungs, fast schon sind sie junge Männer. Obwohl man sich von Alter und Körperbau nicht täuschen lassen darf. Immerhin hatten sie kaum eine Kindheit, kamen erst spät zu Safina und sind irgendwo immer noch Kinder. Gut so. Hier dürfen sie das sein und nachholen, was sie verpasst haben. Zum einen ist da Salim, heute neunzehn Jahre alt. Der kann schon reden, singen, tanzen und andere unterhalten, wenn er gerade erst die Augen aufgemacht hat. Was für die Menschen um ihn herum nicht unanstrengend ist. Auch für mich nicht. Bis ich seine Geschichte höre. Er ist einer von den Jungen, die zwar nachts bei den Eltern waren, den ganzen Tag über aber auf der Straße hingen. Da verdiente er ein wenig Geld, indem er anderen Leuten die Einkäufe nach Hause trug. Er entschied sich, sein Leben nicht da fristen zu wollen, wo er jetzt war. Er sparte, kaufte sich eine Uniform, ging zur Schule. Da war er gerade etwas älter als zehn. Einem anderen Jungen, der ebenfalls auf der Straße lebte, bot er an, sich mit ihm zusammenzutun und er übernahm Verantwortung für den noch kleineren. Ich beginne ihn mit anderen Augen zu sehen.
Oder Dorhan. Eines Nachts brannte in seinem Zimmer noch Licht, vermutlich hatte er vergessen, es auszumachen. Stimmte aber nicht. Er saß da, mit den Füßen in einer Schüssel kaltem Wasser, über seine Bücher gebeugt und lernte für den nächsten Tag. Dorhan ist Anfang zwanzig und will mal Medizin studieren. Keiner hier hat Zweifel daran, dass er das schaffen könnte. Wenn er nur genug Geld auftreiben kann, um die Uni zu bezahlen. Mit eben dieser Frage beschäftigt sich auch Luke, dreiundzwanzig, und einer der umsichtigsten, fleißigsten und ernsthaftesten Jungen Männer, die mir hier begegnet sind. Er will Elektriker werden und muss die Schule selber zahlen. Rund zweihundert Euro pro Jahr, dazu die Uniform und Material. Für einen Jungen aber, der kurz nach meinem Besuch an Malaria erkrankt, weil das Moskitonetz über seinem Bett aus lauter großen Löchern besteht, aus eigener Kraft nicht zu schaffen. Er hat ja nicht mal die umgerechnet sechs Euro für ein neues Netz. Von ihm lerne ich dann auch, dass Rafiki „Freundschaft“ heißt. Freundschaft ist hier ein hohes Gut und wird tagtäglich gelebt. In alle Richtungen. Ich bin tief bewegt.
Sie kümmern sich mit Leidenschaft
Das Team, das sich so aufopferungsvoll um die Kinder, Jugendlichen und jungen Erwachsenen kümmert, ist nicht wirklich groß. Da ist die afrikanische Familie mit den eigenen zwei Kindern verantwortlich für ein Wohnhaus. Früh morgens beginnt der Tag nach dem Frühstück mit der Fahrt zur Schule und zu Erledigungen in der Stadt. Das kann schon mal den ganzen Vormittag oder länger in Anspruch nehmen. Schnell geht hier tatsächlich kaum etwas. Mit ihnen lebt die Schwester des Hausvaters, sie wird von allen „Tante“ genannt und kümmert sich hingebungsvoll um Wäsche und Küche. Diese Tante ist es, die in aller Frühe in dem kleinen abgelegenen Küchenhaus Feuer macht und Tee kocht. Sie erkrankt noch an Malaria, während ich im Haus bin, nur wenige Tage nach ihrem Bruder. Auf die Karte eines Gesundheitsfonds, in dem sie alle zusammengefasst sind, bekommen sie im Krankenhaus die Medikamente gegen eine geringe Gebühr. Die Milch, mit der sie die Tabletten bis zu vier Mal täglich einnehmen sollten, können sie sich nicht leisten. Also muss Wasser es auch tun. Die weiße Missionarin, die ich hier besuche, erklärt mir, dass Malaria bei ihnen etwa so etwas ist wie bei uns in Deutschland eine schlimme Grippe. Keine zwei Tage später liegt sie selber flach und fiebert. Es ist ein Elend. Aber eins, bei dem die Freude, das Glück und die Zufriedenheit nicht auf der Strecke bleiben. Hier werden so viele Geschichten geschrieben, hier werden so viele Seelen verarztet, so viele Biographien aus Leid und Traurigkeit in helles Glück verwandelt. Wer will sich da schon gedanklich mit einer vorübergehenden Malaria aufhalten. Im Namen Gottes sind sie am Werk und in ihm wissen sie sich geborgen. Umstände hin oder her.
Ich hab dich doch lieb
Eins noch. Damit kein falsches Bild entsteht. Die leiblichen Eltern der Kinder, die in Safina leben, sind ebenso wertvoll wie die Kinder selbst. Dass sie – aus welchem Grund auch immer – nicht in der Lage sind, ihren Kindern eine blühende Zukunft zu schenken, ist eine große Tragik. Aber keine, die wir im Westen auch nur annähernd verstehen oder beurteilen könnten. Auch wenn wir es oft versucht haben. Die afrikanische Kultur bietet so vieles, das sich uns entzieht. Das ist nicht schlimm. Das ist nur einfach so.
Dazu gehört auch, dass man unter normalen Umständen immer füreinander da ist, sich aber selten bis nie sagt, dass man sich lieb hat. Manchmal glaub ich, dass das im harten und anstrengenden Alltag schlicht untergeht. Ohne bösen Willen oder so. Da ist es nicht erstaunlich zu sehen, wie diese Kinder reagieren, wenn sie dann doch in den Arm genommen werden, wenn sie gesagt bekommen, dass sie etwas Besonderes sind, dass sie wertvoll sind, eine Bedeutung haben, dass sie geliebt sind. Und genau das geschieht in Safina.
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