Und plötzlich ergibt das alles Sinn
Einsicht
Sie haben ohne Zweifel eine besondere Stellung innerhalb der Bibel und genießen auch unter weniger belesenen Zeitgenossen eine bestimmte Bekanntheit und Beliebtheit: die Psalmen. Kaum jemand, der diese Worte nicht kennt: Der Herr ist mein Hirte. In ihrem gemeinsamen Beitrag erkunden Scott Way und Dr. Simone Flad die Vielschichtigkeit und persönliche Bedeutung dieses kostbaren Stückes Weltliteratur und meinen: Einfach mal auswendig lernen!
Fast jeder Christ, der schon einige Jahre an Jesus glaubt, kann von einer Zeit erzählen, in der er Kraft oder Ermutigung in einem Psalm gefunden hat. Mitten in der Verzweiflung oder bei Herausforderungen geht man zu den Psalmen, um genau den Halt zu finden, den man braucht. Natürlich ist es nicht der Psalm an sich, der uns Halt anbietet, auch wenn die Psalmen schöne literarische Kunstwerke sind, sondern die Psalmen führen uns zu Gott. Zu dem Gott, der unser Fels und unsere Festung ist (Psalm 18,3). Er ist es, der uns „aus der grausigen Grube, aus lauter Schmutz und Schlamm“ zog und unsere „Füße auf einen Felsen stellte“, wo wir fest stehen können (Psalm 42,3). Die Psalmen erinnern uns an diese Wahrheit und führen uns auf eine einzigartige Weise zu ihr zurück. Wieso ist das so, warum ausgerechnet die Psalmen? Sie sind als Wort Gottes doch nicht mehr vom Heiligen Geist inspiriert als andere Teile der Heiligen Schrift. Wir finden doch tatsächlich auch in anderen Bibelstellen Halt. Warum also kehren wir immer weder zu den Psalmen zurück, wenn wir innerliche Hilfe brauchen?
Bitte mit Gefühl
Das Wort „innerlich“ im letzten Satz gibt uns einen Hinweis: Die Verfasser der Psalmen schreiben aus ihrer gefühlten Erfahrung. Aus ihrer Emotion heraus. Sie verbinden ihre Emotionen mit Gott. Und wenn wir die Psalmen lesen, identifizieren wir uns gefühlsmäßig mit den Erfahrungen des Schreibers. Die Ermutigung, die der Psalmist erlebte, erleben wir auch. Den Trost, den der Psalmist erlebte, erleben wir auch. Die Zuversicht und Hoffnung, die der Psalmist erlebte, erleben wir auch. Das ist so hilfreich, denn wir haben oft Schwierigkeiten, mit unseren Gefühlen umzugehen. Manche neigen dazu, ihre Emotionen zu verleugnen. Sie sehen sie als eine menschliche Schwäche oder vielleicht als Widerspruch zum Glauben.Die Psalmen zeigen uns, dass wir die Emotionen mit Gott verarbeiten dürfen und sollen, statt sie zu verdrängen. Die Psalmen zeigen uns einen biblischen Weg, wie an Gott glaubende Menschen ihre Emotionen ausdrücken können, in einer Weise, die ihn ehrt. Andere neigen dazu, sich von ihren Emotionen beherrschen zu lassen. Manche von ihnen leiden sogar darunter, denn sie fühlen sich einfach hin- und hergeworfen. Und dann gibt es Menschen, die sehen in ihren Gefühlenden wichtigsten Aspekt ihrer Persönlichkeit überhaupt. Im Gegensatz dazu zeigen uns die Psalmen, wie wir unsere Emotionen auf eine Art und Weise ausdrücken können, die Gott und seine Herrschaft in unserem Leben beachtet. Wir lernen, Gott in allen unseren Lebensumständen und Emotionen anzubeten. Das gibt Halt im Auf und Ab der Gefühle!
Allen Mut verloren
Mit welchen Gefühlen und Erlebnissen mussten die Verfasser der Psalmen umgehen? Viele Christen haben schon gemerkt, dass die Psalmen uns helfen, wenn wir verängstigt oder verzweifelt sind. Wenn Depression oder Hoffnungslosigkeit uns verfolgen. In Psalm 143 zum Beispiel beschreibt der Psalmist sich mit folgenden Worten: „Ich habe allen Mut verloren, mein Herz ist starr vor Verzweiflung“. Es gibt ungefähr 40 von diesen sogenannten Klageliedern des Einzelnen, dazu gehören unter anderem Psalm 13, 22 oder 69. Jedes Mal wendet sich der Psalmenschreiber an Gott und gießt seinen Schmerz vor ihm aus. Dann denkt er an Gottes Wort, seinen Charakteroder seine Verheißung und findet Halt, auch wenn die schmerzhafte Situation noch nicht vorbei ist. Andere Bibelstellen sagen uns zu, dass Gott immer bei uns ist; die Psalmenzeigen uns, wie wir diese Wahrheit „benutzen“ können, um Halt zu finden. Manche Psalmen helfen uns, mit Schuld und Schuldgefühlen umzugehen. Psalm 32 und 51 sind dafür besonders bekannt, aber auch Psalm 130 bringt unser Sündenbekenntnis zum Ausdruck. Die „Rachepsalmen“ wie Psalm 59 oder 109 zeigen uns, wie wir unsere Sehnsucht nach Gerechtigkeit in der Welt zum Ausdruck bringen können, auch wenn Jesus uns sagt, dass wir unsere Feinde lieben sollen. Wir bringen die Ungerechtigkeit vor Gott, wir dürfen unsere Gefühle aussprechen, und dann lassen wir die Situation in seinen Händen. Die Rachepsalmen mit ihrer gewaltvollen Sprache sind für viele Menschen schwierige Texte. Es hilft, wenn wir verstehen, dass alle Ungerechtigkeit, die wir erleben, letztendlich gegen Gott gerichtet ist. Und wir beten um seinetwillen, dass er eingreift. Wir finden Halt, wenn wir unsere Gefühle zum Ausdruck bringen, aber auch, wenn wir Gott das Handeln überlassen.
Chaos im Kopf
Aber nicht nur wenn wir Schmerz erleben, sondern auch wenn wir glückliche Gefühle haben, sollen wir sie vor Gott äußern. Das hilft uns, in Gott verankert zu bleiben und Halt zu haben. Es geht dann nicht so sehr darum, Ordnung in das Chaos unseres Lebens zu bringen, sondern uns in dem Halt, den wir schon haben, zu festigen. Dadurch neigen wir unsere Herzen immer mehr zu Gott. Wenn wir zum Beispiel voller Freude sind, jubeln wir zusammen mit dem Autor von Psalm 33, 67 oder 150. Wenn wir einfach dankbar sind für die guten Gaben und Versorgung des Herrn, sagen wir es ihm anhand von Psalm 103, 104, 117 – dem kürzesten Psalm – oder 136. Wenn die Hoffnung schon stark ist, aber weiter gestärkt werden soll, beten wir mit Psalm 27. Ein Leben mit Halt ist ein Leben vor und mit Gott. Die Psalmen bieten übrigens trotz unserer Schuld viel Halt, aber das nicht losgelöst von der Hingabe an Gott. Nicht nur in den Psalmen, sondern in der ganzen Weisheitsliteratur der Bibel (Hiob, Sprüche, Prediger) steht der Mensch fest, der gerecht ist. So lehren uns auch die Psalmen, demütig zu sein und ein heiliges Leben zu führen. In diesem Bezug schafft Psalm 15 Klarheit, und wir verstehen, was mit den Hochmütigen passieren wird, wenn wir Psalm 2 und 37 lesen. Vor allem aber bleibt eine Betonung konstant durch alle Psalmen hindurch, und das ist die, die der hebräische Name des Psalters widerspiegelt: Preislied. Loblied. Wenn wir wie die Psalmbeter alles, was uns bewegt, vor Gott bringen, dann loben und preisen wir Gott in jeder Lebenssituation. Dadurch werden wir in Gott und an Gott festgemacht. Das ist Halt!
„Wir sollen die Psalmen kennenlernen, damit wir wissen, in welchem wir in unserer besonderen Situation Halt finden können.“
Geistliche Übung
Angesichts dieses Halts, den wir durch die Psalmen bei Gott finden, ist eins klar: Wir sollen die Psalmen lesen. Oft! Und zwar das Original, nicht nur einen Artikel darüber! Wir sollen die Psalmen kennenlernen, damit wir wissen, in welchem von ihnen wir in unserer besonderen Situation Halt finden können. Es ist übrigens gut, sie nicht nur zu lesen, sondern ruhig auch den ein oder anderen davon auswendig zu lernen. Eine tolle geistliche Übung wäre, das ganze Buch der „Psalmen“ zu lesen und eine Liste zu erstellen mit all den Emotionen, die in dem Buch zu finden sind. Welche Emotionen sind da beschrieben? Wer erlebt sie? Wie werden sie behandelt? Welche Beschreibung von Gott und seinem Charakter würde dazu passen? Außerdem ist es gut, zu bedenken, dass wir Leser, aber nicht Autoren der Psalmen sind. Obwohl wir uns mit der Reaktion der Psalmisten oft identifizieren können, gibt es doch keine Eins-zu-eins-Übertragung. Das Erlebte und Beschriebene gehört zu deren Biografien, aber wir können darauf achten, wie sie Emotionen ausdrücken, und davon lernen. Wir dürfen es nachahmen! Und letztlich, wie oft praktiziert in der Kirchengeschichte, können wir die Psalmenbeten. Wir bringen Gottes Worte in den Psalmen als Gebet zu ihm zurück.
Die Psalmen sind Gebete und Lieder, die David und andere geschrieben haben, um sich persönlich oder als Gemeinde an Gott zu wenden. Sie sind Teil von Gottes Wort an uns. Aber es können auch gleichzeitig unsere Worte werden, wie Jesus es uns vorgemacht hat, zum Beispiel in seiner höchsten Not am Kreuz. Ein Merkmal von schwierigen Zeiten ist, dass im Kopf nur Chaos herrscht, ein Auf und Ab der Gefühle, rasende Gedanken, was ein bestimmtes Ereignis wohl für die Zukunft bedeuten wird, hektische Suche nach Auswegen und Lösungsmöglichkeiten – oder auch das Gegenteil: gähnende Leere, man kann keinen klaren Gedanken fassen, ist wie benebelt, auch abgeschottet von Menschen um sich herum, fühlt sich ganz allein. Gerade in solchen schwierigen Situationen können die Psalmen ganz lebendig werden und wunderbar Rückhalt geben.
„Und trotzdem passierte das, was das Besondere der Psalmen ausmacht: In meiner inneren Not wurden mir die Worte von David bedeutungsvoll. Ich konnte sie zu meinen Worten machen – oder vielleicht besser gesagt – sie wurden mir zu meinen eigenen Worten.“
Auf einmal sehr bedeutungsvoll
Vor einigen Jahren war ich, Simone Flad, in solch einer Situation. Alles stand infrage, meine Zukunftspläne waren plötzlich unrealistisch, Sicherheit und Liebgewordenes brachen weg. Obwohl die Situation schon länger anhielt, brachte eine Nachricht an diesem Tag das Fass zum Überlaufen. Plötzlich überrollte es mich geradezu. Ich wusste nicht, wohin mit mir. Ich verließ das Haus und wollte einen Spaziergang machen, wollte mit Gott reden – aber in mir war nur Chaos. Ich fand keine Worte, wusste nicht, was ich sagen sollte, was ich überhaupt genau von Gott wollte. Ich wurde eher noch unruhiger, als ich vorher schon war. Schließlich setzte ich mich auf eine Bank. Ich war so fertig. Gott sei Dank hatte ich meine kleine Bibel mitgenommen. Die schlug ich nun relativ willkürlich bei den Psalmenauf und begann zu lesen. Der erste Psalm, den ich las, sagte mir irgendwie gar nichts. Also ging ich zu einem anderen weiter. Es war Psalm 31. David spricht darin von Feinden, die sein Leben bedrohen. Auf den ersten Blick hatte meine Situation mit der von David überhaupt nichts zu tun. Und trotzdem passierte das, was das Besondere der Psalmen ausmacht: In meiner inneren Not wurden mir die Worte von David bedeutungsvoll. Ich konnte sie zu meinen Worten machen – oder vielleicht besser gesagt: Sie wurden mir zu meinen eigenen Worten. Seine innere Not und seine Hinwendung an Gott in dieser schrecklichen Situation fanden in meinem Herzen einen Widerhall. Ich merkte, wie ich die Worte des Psalms wahrnehmen und irgendwie auch aufnehmen konnte. Wie ich sie mitsprechen konnte. Wie ich begann, ruhiger zu werden. Wie sich mein Herz in Richtung Gott ausstreckte und dadurch das Chaos in mir weniger wurde. Die äußere schwierige Situation war immer noch dieselbe wie ein paar Minuten zuvor. Aber mein innerer Sturm begann sich abzuschwächen, war auf dem Weg, stiller zu werden.
Weiter Raum für mich
Und dann fiel mein Blick auf den zweiten Teil von Vers 9, „du stellst meine Füße auf weiten Raum“. Dieser Satz leuchtete vor mir auf, als wenn er extra für mich für diese Situation in die Bibel hineingeschrieben worden wäre. Diese Worte drückten so genau aus, was ich mir erhoffte, was meine Sehnsucht in dieser Situation war – obwohl ich es nicht in Worte hätte fassen können. Die Sehnsucht danach, nicht von den Umständen erdrückt zu werden. Die Sehnsucht nach Weite, dass meine Füße, mein Leben, Raum haben, Raum finden – auch in und mit dieser schwierigen Situation, in der ich steckte. So wurde mir dieser Satz zu meinem ganz persönlichen Gebet. Ich hatte Worte gefunden, die genau das ausdrückten, was in mir war. Sie wurden mir dadurch auch zu einer Zusage Gottes – wie David es in seiner Situation erlebt hatte, würde Gott auch mir Raum zum Atmen, Raum für meine Füße, Raum zum Leben schenken, auch mitten in meiner Not.
Klar: Die Psalmen sind Gottes Wort an uns, an mich persönlich – genauso wie der Rest der Bibel auch. Aber sie sind noch mehr. Sie können mir Halt geben, wenn ich ihn so nötig habe. Sie können mir helfen, mich an Gott zu wenden, indem ich diese Worte zu meinen eigenen mache. Psalmen können zu Gebeten werden, wo ich keine Worte habe, wo ich überhaupt Mühe haben, mich an Gott zu wenden. Und manchmal schenkt Gott auch so einen ganz besonderen Moment, wo mich ein Satz direkt ins Herz trifft und mir das Gefühl gibt, er sei nur für meine heutige Situation geschrieben worden. In seiner Gnade schenkt Gott mir und uns allen dadurch Hilfe, Hoffnung und Halt.
Scott Way ist in den USA (Ohio und Texas) aufgewachsen und hat in Dallas, Texas, Theologie studiert. Er ist Dozent für Systematische Theologie am Theologischen Seminar Rheinland und wohnt mit seiner Frau im Westerwald, wo sie gern wandern. Sie haben drei erwachsene Kinder und eine dicke Katze.
Dr. Simone Flad ist Theologin und Dozentin am Theologischen Seminar Rheinland, kommt aus dem Schwabenland und lebte von 2004 bis 2015 in Sofia, Bulgarien. Ihre große Leidenschaft ist die (Kirchen-)Geschichte.
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