Ohne geh ich unter

Hommage

Wer meint, über Familie könne nur jemand schreiben, der selber eine hat, übersieht dabei schon mal den wesentlichen Punkt, dass wir nämlich alle eine haben. In welcher Intensität ein erwachsener Single die Gemeinschaft mit seiner Herkunftsfamilie und deren Erweiterung leben und lieben kann, beschreibt Evi Rodemann. Sie hat Höhen und Tiefen gründlich erlebt und meint: Es geht nicht ohne!

Sie ist oft laut, etwas chaotisch, bei Familienfesten öfter überfordernd, total verrückt nach Süßigkeiten und dennoch einfach großartig! Ich liebe meine Familie. Und weil Familie mir so wichtig ist, hat sich Gott bestimmt gedacht: Dem Mädel schenken wir gleich mal richtig viel davon! Als Zwillingsschwester Nummer zwei wuchs ich mit sechs jüngeren Geschwistern auf. Insgesamt sieben Schwestern und ein Bruder. Es war also nie ausgewogen, aber wir haben uns redlich bemüht, es unserem Bruder leicht zu machen. Am Ende hat er dann über die Jahre wundervolle, interessante Schwäger bekommen, die ihn schon früh unterstützten, und die Pfadfinder taten zu seiner Entwicklung das ihre. 

Wir sind laut

Wenn sich heute unsere Kernfamilie trifft, sind wir zweiunddreißig Menschen und vier Hunde. Ich bin mit fünfzehn wundervollen Nichten und Neffen beschenkt worden, alle zwischen achtzehn und gerade geboren. Und nein, für unsere Treffen buchen wir keine Räume an, sondern quetschen uns in die jeweiligen Wohnzimmer. Immer abwechselnd öffnet jemand seine Türen. Manchmal wird gefühlt in Etappen gegessen und alles irgendwie übereinandergestapelt, aber das geschieht immer in fröhlicher, ausgelassener Atmosphäre. Und hatte ich schon gesagt, dass wir laut sind?

Es gab Momente, da dachte ich, es wäre nicht schlecht, den ein oder anderen einzutauschen. Schließlich kann man sich seine Eltern und Geschwister nicht aussuchen, und einige rangierten zeitweise weit oben auf meiner „Trading-List“. Die Pfarrersfamilie nebenan hatte sieben Söhne und eine Tochter, da gab es also echtes Austauschpotential, aber weder meine noch diese Familie stimmte meinen Vorschlägen zu. Heute bin ich sehr dankbar dafür, und meine Geschwister sind längst auch meine Freunde. Und dann waren da noch die sehr gottesfürchtigen Verwandten, die meinten, nach vier Kindern wäre es genug. Sie schickten meinen Eltern per Post eine Aufklärungsbroschüre über Verhütungsmöglichkeiten. Verrückt, was es alles gibt, oder? Gut, dass meine Eltern das ignoriert haben und über jedes Kind sagen: Wir haben dich gewollt und lieben dich sehr!

 

„Die Pfarrersfamilie nebenan hatte sieben Söhne und eine Tochter, da gab es also echtes Austauschpotential, aber weder meine noch diese Familie stimmte meinen Vorschlägen zu.“

Wir tragen gemeinsam

Wir sind eine Familie, in der die Eltern Jesus liebhaben und bei uns Kindern schon ganz früh für diese Liebe geworben haben. Die meisten von uns sind der Einladung Jesu gefolgt und im gemeindlichen Kontext sehr engagiert. Aber natürlich ist das kein Garant für hundertprozentige Freude. Auch uns als Familie hat das Leben schon oft Leid und Krisen beschert. Sei es in einem schwierigen Jobwechsel, in Arbeitslosigkeit, Beziehungskrisen (auch untereinander), im Verlust eines Babys, durch Krankheiten, Flugzeugabsturz, Scheidung, Verkehrsunfälle oder in gründlichen Lebens- und Leitungskrisen.

Immer wieder keimte die Hoffnung auf, dass sich das Lebensfahrwasser beruhigen würde, aber immer wieder geschah genau das nicht und es tauchte eine neue Situation auf, mit der niemand gerechnet hatte und auf die wir als Familie reagieren mussten. Das war wirklich oft nicht leicht, beileibe nicht, und das ist bis heute so. Wir erleben, dass wir miteinander nicht nur viel Freude teilen, sondern auch durch tiefe Täler gehen, zum Glück aber nicht allein und nicht einsam. Gott ist uns in allem ein fester Anker, und wir spornen uns immer wieder gegenseitig an und richten uns auf. Ich habe so manche Krise erlebt und es als besonders wertvoll empfunden, Geschwister zu haben, die zu mir stehen, mich verteidigen, mir gut zureden, mich bekochen, ablenken und selbst unter Tränen zum Lachen bringen können. Jedes Mal gehe ich beschwingter und leichter von ihnen nach Hause, als ich gekommen bin. In ihrer Gemeinschaft wird das Leid einfach geteilt und damit leichter. Und wenn es mal ganz eng wird, haben wir noch unseren Vater, der uns gerne täglich Sprachnachrichten mit seinen Gebeten schickt – und diese sind unter zehn Minuten meistens nicht zu haben. Danke, Papa! 

„Meine fünfzehn Nichten und Neffen sind mir sehr, sehr wichtig und ich versuche selbstverständlich immer wieder, die beste Tante der Welt zu sein und die anderen Tanten zu übertrumpfen.“

Wir gehören zusammen

Als Kind Nummer zwei der großen Familie bin ich die Einzige, die keinen Partner oder eine eigene Familie hat. Es gibt Kreise, da fühle ich mich manchmal als fünftes Rad am Wagen, aber niemals bei meinen Leuten. Meine fünfzehn Nichten und Neffen sind mir sehr, sehr wichtig und ich versuche selbstverständlich immer wieder, die beste Tante der Welt zu sein und die anderen Tanten (ich habe wirklich viel Konkurrenz im Haus) zu übertrumpfen. Außerdem darf ich ich mit bei meiner Zwillingsschwester und ihrer Familie wohnen. Als Alleinstehende habe ich dadurch direkten Familienanschluss und gehöre natürlich in allem dazu. So war es nicht ungewöhnlich, dass ich mit der jüngeren Nichte in der Pandemie Hausaufgaben machte oder monatelang mit ihr ein großes Bett teilte, weil sie plötzlich nicht mehr allein schlafen konnte.

Nachdem diese Verbundenheit von manchen unserer Geschwister zunächst eher skeptisch beäugt wurde, öffneten andere ebenso ihre Türen und teilen ihr Leben ganz selbstverständlich mit mir. Das ist für Außenstehende manchmal etwas gewöhnungsbedürftig, für mich aber eine der wertvollsten Erfahrungen überhaupt. Wächst aus dieser gastfreien Haltung doch auch, an Weihnachten und anderen Tagen die Häuser zu öffnen und Menschen, die gerade nirgendwo dazugehören, eine Heimat zu geben.

Wir sind schon echt eine wilde Bande. Mein Singlestatus zum Beispiel hat meine Geschwister immer wieder beschäftigt. Die „Sorge“, dass ich Diakonisse werden könnte, war zwar nicht berechtigt, aber ich habe ihnen das einmal sehr ernsthaft „angedroht“, weil sie unaufgefordert online Kontaktanzeigen für mich geschaltet hatten. Ich zog meine Drohung rasch zurück und sie zum Glück die Anzeigen auch.

Wir halten den Spiegel

Familie ist mein wunderbares Lernfeld. Ich kann hier weder meine Stärken noch meine Schwächen verstecken, und das ist gut so. Brauch ich auch nicht, denn ich werde ohne Bedingungen und Leistungen geliebt. Und wem das jetzt zu rosarot klingt, der soll wissen, dass manches durchaus auch erkämpft werden musste. Auch Eltern haben ihre Biografie und ringen bisweilen damit. Aber sie haben es so gut gemeistert! Einmal zum Beispiel, das tut mir heute sehr leid, als wir Zwillinge im Grundschulalter öfter die Schwachen und einen behinderten Jungen gehänselt haben. Das war auch für unsere Eltern peinlich, und sie waren entschlossen, darauf zu reagieren und etwas dagegen zu unternehmen. An unseren Geburtstagen durften wir Freunde aus der Klasse einladen. Zu einem dieser Geburtstage kam dann aber ihre Reaktion, eine Bedingung. Wir durften nur mit unseren Freunden feiern, wenn wir auch den behinderten Jungen einladen. Den, den wir immer ärgerten. Das war ein Mind Changer für uns. Wir merkten, wie cool er war, und von diesem Tag an wurden wir Freunde. Eine etwas seltsame Strafe vielleicht, aber ausgesprochen wirksam und nachhaltig.

Wir feiern das Leben

Unsere Eltern haben es uns, obwohl bei acht Kindern das Geld immer knapp war, schon sehr früh ermöglicht, an Kinder und Jugendfreizeiten teilzunehmen. Wir liebten es, und später waren einige von uns daran beteiligt, diese als Mitarbeitende selbst zu organisieren. Wir lebten das Wort aus Psalm 133,1: „Siehe, wie fein und lieblich ist es, wenn Geschwister (eigentlich werden hier nur die Brüder genannt, aber naja, wir sind halt so viele Mädels …) in Eintracht beieinander sind“. Es gab so viele Momente, in denen wir den Alltag zelebrierten und gemeinsam mit unseren Fahrrädern über die Heide flitzten, Streiche und Spiele spielten, miteinander Gemeindefreizeiten oder Familienurlaube auf der Schwäbischen Alb verbrachten. Nicht fehlen durfte dabei natürlich auch eine Gemeindefreizeit bei NEUES LEBEN. 

Mit den Jahren wurde dann aber die gemeinsame Zeit immer kostbarer, da die neu gegründeten Familien ja ebenfalls viel Aufmerksamkeit brauchten und es schwer wurde, immer alle und alles unter einen Hut zu bekommen. So fuhren nur wir Geschwister im September 2022 das erste Mal nach über zwanzig Jahren gemeinsam weg und verbrachten ein Wochenende in Berlin. Wie schön war es, in das Leben der anderen einzutauchen und über Gott und die Welt zu sprechen. Mal miteinander zu weinen, aber auch viel und laut zu lachen. Die Kommunikation läuft von Herz zu Herz, und im wahrsten Sinne des Wortes können wir uns voreinander nackig machen. Einen Makel gab es aber doch: Mir wurde nämlich angekreidet, dass ich zwei Vierbettzimmer und nicht ein Achtbettzimmer gebucht habe. Beim nächsten Mal dann! 

Diese Gemeinschaftserlebnisse prägen uns und helfen uns gleichzeitig, gemeinsam unsere Vergangenheit zu verarbeiten. Denn wir alle haben auch unsere eigenen Baustellen und wissen doch, dass wir alle zusammen für das Wohlergehen unserer Familienbeziehung verantwortlich sind. Manchmal bedeutet das, auch Opfer füreinander zu bringen.

„Durch Umzüge bedingt wuchsen wir erst als Baptisten, dann als Lutheraner und schließlich auch als Anskarianer auf. All diese Gemeindezugehörigkeiten haben uns sehr geprägt und Spuren hinterlassen.“

Wir wachsen im Geist

In der Bibel wird immer wieder von dem Segen der Generationen gesprochen. Besonders dankbar bin ich für die Segenslinie durch meinen Vater, seine Eltern und deren Eltern. Neben ein paar Goldschürfern gibt es viele Missionare, Pastoren und Vollzeitliche, die sich im Reich Gottes engagiert haben und es da, wo sie noch leben, bis heute tun. In dieser Segenslinie stehen wir als Kinder auch. Immer wieder staune ich, was Gott uns durch dieses reiche Erbe geschenkt hat. Durch Umzüge bedingt wuchsen wir erst als Baptisten, dann als Lutheraner und schließlich auch als Anskarianer (Achtung, Wortschöpfung der Anskar-Kirche) auf. All diese Gemeindezugehörigkeiten haben uns sehr geprägt und Spuren hinterlassen. Heute sind wir alle in sehr unterschiedlichen Gemeinden unterwegs, und doch verbindet uns Jesus-Freunde der gemeinsame Glaube und eine geistliche Weite. 

Aufgrund der frommen Eltern war es für uns Kinder manchmal nicht leicht, dass wir stigmatisiert wurden. Wir erlebten zehn Jahre in einer sehr erwecklichen Kirchengemeinde, wozu auch unsere Eltern viel beigetragen hatten. Das hatte zur Folge, dass uns Menschen im Dorf deutlich ihre Abneigung gegen Kirche im Allgemeinen und gegen uns im Speziellen spiegelten. Öfter wurden die Reifen unserer Familienkutsche, unseres geliebten roten Kleinbusses, aufgeschlitzt oder auch Steine mit Drohbotschaften in den Garten geschmissen. Da wir aber einen Halt in der Familie und in der Gemeinschaft der Kirche hatten, konnten wir relativ gut mit diesen Herausforderungen umgehen und uns gegenseitig stützen. Viele Jahre gab es aufgrund der Herausforderungen morgendliche Gebetstreffen, und als Teenager bin ich öfter mit unserem Vater zum Sechs-Uhr-Gebet zur Kirche im Dorf gepilgert. Es war nicht immer schön, aber sehr spannend.

Wir tragen Verantwortung

Eins der schönsten Dinge im Leben ist, wenn man als Familie und mit Geschwistern gemeinsam das Reich Gottes bauen kann. Wir haben schon früh Verantwortung in der Kinder- und Jugendarbeit übernommen, und wir sieben Mädchen hörten in unserer Kirche nie, dass wir nicht in gewisse Positionen dürfen. Uns wurde geholfen, Berufung und Potential zu entdecken, uns wurde vertraut, und wir durften viel probieren und lernen. Bis heute kommt es immer wieder vor, dass wir uns bei Projekten der anderen mit einbringen und sie unterstützen, wo es möglich ist. Sei es bei der Unterbringung von ukrainischen Flüchtlingen oder der Durchführung von Events. Selbst wenn manche Dinge dabei schieflaufen, wissen wir doch, dass jeder für die Familie die Extrameile gehen würde, denn ohne einander würden wir untergehen!

Evi Rodemann lebt im Großraum Hamburg und arbeitet als Theologin und Eventmanagerin. Sie engagiert sich in der internationalen Arbeit der Lausanner Bewegung und der Weltweiten Evangelischen Allianz (WEA) sowie in ihrem neu gegründeten Verein „LeadNow“. evirodemann.com

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