Immer gut festhalten

Theologie

Was viele als Ansage aus wilden Fahrattraktionen in Freizeitparks oder auf der Kirmes kennen, nimmt Jonathan Richter als Einstieg in einen theologischen Ausflug ins Thema Gesetze und Regeln. Achtung: Was fürchterlich trocken und beklemmend klingen könnte, blüht in seinem Text wunderbar auf und entfaltet eine Schönheit, die direkt in den Thronsaal Gottes führt.

Gesetze können spalten! Vor einiger Zeit machte die Meldung die Runde, dass ein neues Tierarzneimittelgesetz zu Hause gehaltene Goldfische in Gefahr bringen könne: Wichtige, antimikrobiell wirksame Arzneimittel müssen jetzt verschrieben werden. Für Halter ein Problem, wenn der nächste „Fischfacharzt“ nicht gleich um die Ecke ist; Kritiker befürchten einen verstärkten Ausbruch der Weißpünktchenkrankheit. Apropos medizinische Verschreibungspflicht: In die Liste der kuriosesten Gesetze hat es auch eine Verordnung geschafft, die vorsieht, dass Kaugummis in Singapur – eines der saubersten Länder der Welt – nur auf ärztliche Anordnung abgegeben werden dürfen. 

Spurensuche

Es gibt Gesetze, die stoßen auf Akzeptanz, andere bringen zum Schmunzeln. Was sich nicht vermeiden lässt: Sie spalten! Sie scheiden, denn das ist ihr „Job“. Was in den Augen des Gesetzgebers „richtig“ und „falsch“ ist, was geboten ist, zu tun oder zu lassen, wird markiert – ob einen das freut oder nicht. In jeder Kultur finden sich Gesetze, und man muss nicht lange überlegen, dass dahinter der große Wunsch der Menschen nach Gerechtigkeit steckt. Wer sich auf Spurensuche begibt und die Wurzeln des christlichen Glaubens ergründen möchte, der kommt nicht vorbei an dem Gesetz – so die bei uns gängige Übersetzung von Thora, der Glaubensgrundlage nicht nur unserer jüdischen Freunde. Doch welche Bedeutung haben das Gesetz und die darin zu findenden – deutlich mehr als zehn – Gebote? Neulich beim Kaffee nach unserem Gottesdienst schnappte ich das hier auf: Simone und Tanja unterhielten sich über den neuen Prediger und seine Eigenarten. „Ich fand ihn ziemlichgesetzlich“, so die eine, und ich würde der anderen am liebsten meine Stimme leihen, die erwiderte: „Was meinst du denn damit?“ Gesetzlich sein – ist das ein Lob? Wahrscheinlich nicht. Die Warnung vor der Gesetzlichkeit begegnet einem nicht selten, wenn es darum geht, ein vermeintlichengführendes Verhalten der Freiheit des Evangeliums gegenüberzustellen. Und tatsächlich: Ich liebe es auch, in der Freiheit der Kinder Gottes unterwegs zu sein. Ich spüre, dass der Heilige Geist viel größer ist als meine Vorstellungen von richtig und falsch, und ich glaube, dass mein Urteilsvermögensich in allererster Linie in seiner Gegenwart schärft, ja geradezu ausbildet. 

„Ich spüre, dass der Heilige Geist viel größer ist als meine Vorstellungen von richtig und falsch, und ich glaube, dass mein Urteilsvermögen sich in allererster Linie in seiner Gegenwart schärft, ja geradezu ausbildet.“

Drinbleiben

Doch stimmt die Gleichung wirklich: Gesetz = gesetzlich? Woher kommt die Negativfolie? Um ehrlich zu sein: „Du sollst nicht töten“ finde ich immer noch gut, und die Macher des Grundgesetzes waren der gleichen Meinung. 

Personen in der nunmehr über zweitausend Jahre währenden Geschichte christlich-gläubiger Menschen sind nicht nur einmal in die Falle der sogenannten Ersatztheologie getappt. Da war es salonfähig, zu behaupten, dass das, was Gott mit seinem Volk Israel begonnen hat, nun überholt sei – und damit auch das Gesetz. Einfacher gesagt: Mit der wachsenden Kraft der heidenchristlichen Gemeinden, die Menschen aller Nationen zum Glauben an Jesus riefen, war – und das ist tragisch – immer weniger Raum für einen jüdischen Glauben an Jeschua, so sein hebräischer Name. Doch hatte der nicht gesagt, dass kein einziger Strich des Gesetzes vergehen würde? 

In besonderer Weise hat die Aufarbeitung des Holocaust Kirchen und Freikirchen dazu gebracht, das Verhältnis der Kirche zu Israel neu zu bestimmen. In den unterschiedlichstentheologischen Lagern war man nun bemüht, die bleibende Erwählung Israels – und damit natürlich auch die Bedeutung der Thora – neu zu bestimmen. Die sicherlich streitbare neue Paulusperspektive betonte dann: Das Gesetz war – anders als viele Theologen Paulus interpretierten – auch für den Hauptstrom des Judentums von seinem Wesen her nicht Mittelzum Heil („getting in“), sondern vielmehr Ausweis für das Im-Bund-Bleiben („staying in“), so der Ansatz des amerikanischen Theologen Ed Parish Sanders. 

Richtig und falsch

Auch in evangelikalen Gemeinden wuchs, ganz gewiss auch durch die wachsende Bedeutung messianischer Gemeinden, die Einsicht, dass Gnade und Gesetz keine Gegensätze, sondern vielmehr aufeinander bezogen sind. Mehr und mehr wird es Konsens unter Gläubigen verschiedenster Prägung, dass die jüdischen Verfasser des Neuen Testaments nicht das Gesetz „in die Ecke stellen“, sondern, wenn überhaupt, vor einem falschen Gebrauch warnen. Kurz: Juden wie Christen wissen seit jeher darum, dass es die Gnade Gottes ist, die ein wirklich freies und gutes Leben ermöglicht, die uns rettet, wiederherstellt und erhält.

Bleibt noch immer die Frage: Was ist der rechte Gebrauch des Gesetzes? Interessanterweise hat Martin Luther – dessen Verhältnis zu den Juden nicht gerade als unproblematisch gilt – eine immer noch hilfreiche Unterscheidung der Bedeutung des Gesetzes geliefert. Seit seiner Kirchenpostille von 1522 unterscheidet er einen ersten Gebrauch des Gesetzes von einem zweiten. Der erste ist der gesellschaftliche Gebrauch („usus elenchticus“): Das Gesetz dient der Aufrechterhaltung gesellschaftlicher Ordnung. Hätten wir es nicht, dann würden wir – so der Reformator – ziemlich bald wie gefräßige Tiere übereinander herfallen. Das Gesetz und damit die Gebote ermöglichen ein friedliches Zusammenleben, sie sind sozusagen ein wertvolles Tool (Werkzeug) in der Hand der staatlichen Verantwortungsträger. Der zweite Gebrauch ist der sogenannte „usus elenchticus“. Hier geht es darum, dass einem das Gesetz und die darin enthaltenen Gebote eigentlich immer wieder so etwas wie einen Spiegel vorhalten. Indem der fragende Mensch sie betrachtet, erkennt er seine Sünde und wird überführt. Ja, das Gesetz offenbart mir die tiefsten, allzu verschrobenen Motivationen meines Herzens. Andere Vertreter der Reformation – zum Beispiel Calvin – fügten einen dritten Gebrauch hinzu, wenn sie von der heiligenden, erzieherischen Kraft des Gesetzes sprachen. 

„Wer Gottes Weisung studiert – so die wörtliche Übersetzung von Thora –, der wird ihre Wunder entdecken und den Wunderbaren dahinter. “

Halt finden

Ja, es scheidet, das ist sein „Job“ – und genau dazu brauchen wir das Gesetz auch noch heute. Es trennt im Herzen, schält das Heilige heraus, legt offen, was mich zu Gott führt oder nicht, gibt meinem Leben und einer Gesellschaft Orientierung und Halt, schärft das Gewissen einer Nation. 

Gesetze lassen nach dem Gesetzgeber fragen und damit natürlich auch nach ihrer Legitimität. Wo die Integrität des Verfasserkreises zur Debatte steht, da gewiss auch das Gesetz. Je mehr ich die Thora studiere, desto mehr lerne ich die Autorität dahinter kennen. Und vielleicht ist genau das das Schöne, das es je und je neu zu entdecken gilt – den wunderbaren Gott dahinter, den verlässlichen Gesetzgeber, den Kämpfer für das Leben, die Gerechtigkeit für die Welt. An ihm muss Maß nehmen, was Gesetz heißen will, hier ist auch Kritik erlaubt an dem, was nur allzu oft willkürlich erscheint. 

Ich glaube es fest: Wer Gottes Weisung studiert – so die wörtliche Übersetzung von Thora –, der wird ihre Wunder entdecken und den Wunderbaren dahinter. Ihre Klarheit. Seine Schönheit. Eine gute Möglichkeit dazu wäre das Lesen der wöchentlichen Parascha, einem jüdischen zyklischen Leseabschnitt, der je einem Schabbat zugeordnet ist (de.chabad.org). Schließlich: Es ist der liebende Gebrauch des Gesetzes, der das Denken Israels geprägt hat und uns bis heute eingeschrieben ist, wenn wir mit Psalm 119,98 beten: „Wie lieb ist mir deine Weisung, ich sinne über sie nach den ganzen Tag“.

Jonathan Richter, verheiratet mit Hannah, Vater von drei Kindern im Alter von zwei bis neun Jahren, ist Pfarrer in Waldbrunn im Odenwald. Er liebt Spontanität, im Sommer die Abkühlung im Badesee und im Winter die warmen Füße nach dem Barfußlauf durch den Schnee.

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