Drei wesentliche Stützen

Ratgeber

Was gibt dem Leben Halt? Die fromme Instant-Antwort lautet: Jesus! Und obwohl das auf eine Art auch stimmt, ist es doch viel komplexer. Dr. Martina Kessler nimmt uns mit in die Praxis und zeigt aus ihrer Erfahrung in der psychologisch-seelsorglichen Beratung, welche Faktoren für stabilen Halt wichtig sind.

Innere Festigkeit

Wir alle werden in ein soziales Gefüge hineingeboren, in dem wir, neben Liebe und Geborgenheit, auch Verletzungen erleben. Die Erfahrungen der ersten sieben Lebensjahre deutet jeder Mensch individuell und kreiert daraus sein persönliches Lebens-, Denk- und Deutungsskript. Dieses Skript enthält, neben gesunden Aspekten, häufig auch Methoden, um Defizite auszugleichen oder zu kompensieren, oft wird auch überkompensiert. 

Olivia ist als älteste von sieben Geschwistern aufgewachsen. Ihre Mutter war gehandicapt durch dicht aufeinanderfolgende Schwangerschaften, der Vater sicherte das Einkommen der Familie. Olivia übernahm deshalb schon früh, so weit wie möglich, Verantwortung im Haushalt und für die jüngeren Geschwister. Dafür wurde sie oft gelobt. Wo immer Olivia heute auftaucht, übernimmt sie Verantwortung. Manchmal sind andere davon genervt. In einem Seelsorgeprozess erkennt sie, wie sehr sie innerlich gedrängt ist, Leistung zu erbringen, und vom Gefühl bestimmt, gebraucht zu werden. Dann fühlt sie sich angenommen. Wenn sie nichts leisten kann, fühlt sie sich nicht angenommen, überflüssig und fehl am Platz. Sie erkennt ihre Lebenslüge, mit der sie sich innerlich Halt geben will. Olivia kommt überhaupt nicht auf die Idee, auch ohne Leistung sichere Beziehungen haben zu können. Konrad ist ein extrovertierter, engagierter und (vermeintlich) starker Mann. Bei genauer psychologisch-seelsorglicher Betrachtung sieht er, dass er damit Minderwertigkeitsgefühle kaschiert. Erst wenn er heldenhaft agiert, empfindet er sich wertvoll. Seine Krücke zum inneren Halt ist sein hohes Engagement, welches alle in möglichst jeder Situation sehen sollen. 

Sowohl Olivia als auch Konrad sind Christen. Beide würden sagen: Jesus ist mein Halt. Und doch haben beide nicht bemerkt, wie stark sie ihre Defizite überkompensieren. Sie lernen beide, aus der Überkompensation auszusteigen. Olivia legt die „Krücke“ nach und nach ab, indem sie lernt, auch ohne Leistung in Beziehungen sicher zu sein. Sie versteht, dass sie auch ohne besonderen Beitrag geschätzt wird. Konrad bearbeitet sein Minderwertigkeitsgefühl und entdeckt dabei Verletzungen aus seiner Kindheit. Heute geht er als erneuerter, nach wie vor engagierter Mensch durchs Leben. Aber er muss es nicht mehr zu jeder Zeit jedem zeigen. Er hat gelernt, auch still zu agieren, ohne einen Wertverlust zu empfinden. Olivia und Konrad leben nun ohne innere „Krücke“, mit mehr Halt in sich selbst. Beide sind zufriedener, ausgeglichener und innerlich ruhiger, was auch andere bemerken.

 

„Wenn sie nichts leisten kann, fühlt sie sich nicht angenommen, überflüssig und fehl am Platz.“

Tragfähige Gemeinschaft

Der Mensch ist sowohl theologisch als auch psychologisch ein Gemeinschaftswesen und kann deshalb nicht ohne Beziehungen leben.

Gott schuf den Menschen als Zweiheit. Und als Adam seine Frau kennenlernt, begrüßt er sie hocherfreut mit „Endlich!“ Zuvor hatte Adam sehr deutlich wahrnehmen müssen, dass es niemanden gab, der ihm entsprach und zu ihm passte (1. Mose 2,18–23). Manche Alttestamentler interpretieren dies als Seelsorge Gottes an Adam. Bevor er seine Frau bekommt, soll er erkennen, wie einsam, wie ergänzungsbedürftig er ist. 

Paulus benutzt die Metapher des Leibes, um den Menschen zu zeigen, wie sehr sie einander brauchen (1. Korinther 12,12–31). Wenn der Körper nur aus Augen bestünde, was wäre mit den Ohren? Und wenn er ausschließlich aus Füßen bestünde, was wäre mit den Händen? Wichtig sind auch die Aufforderungen, dass sich niemand für wichtiger halten soll als die anderen, und es soll sich niemand geringer achten als andere. Jeder Einzelne gehört als ein Teil dazu (V. 27)!

Weil der Mensch mit einem Zärtlichkeitsbedürfnis zur Welt kommt, braucht er von Anbeginn andere, die dieses Bedürfnis stillen. Kinder, die in liebender Geborgenheit reifen, können später eher gut zu sich selbst sein, ihre Bedürfnisse wahrnehmen, sie stillen und dies an andere weitergeben. Sie agieren als ermutigte Menschen in zwischenmenschlicher Gemeinschaft. Dabei geben sie sich der Gemeinschaft hin und sind gleichzeitig fähig, etwas aus der Gemeinschaft zu empfangen. Ein gutes Gemeinschaftsgefühl zeigt sich darin, gut geben und nehmen zu können sowie ein hohes Bedürfnis nach Gleichwertigkeit zu haben. Anderen gegenüber sucht man wederÜberlegenheit noch Unterlegenheit.

Das Gegenüber brauchen wir auch, um uns selbst besser zu verstehen. Nach Martin Buber erkennen wir durch die Andersartigkeit der Anderen uns selbst, weil sie für uns wie ein Spiegel sind. Dabei ist es individuell unterschiedlich, wie viele Menschen oder Freunde einer Person guttun. Der eine mag viele Menschen um sich, die andere nur wenige – das darf wertfrei nebeneinanderstehen.

Vertrauensvolle Gottesbeziehung

Die dritte Stütze besteht in einer vertrauensvollen Gottesbeziehung. Wie hoch uns das Wasser auch immer steht, knöchelhoch, bis zur Hüfte oder auch, wenn wir schwimmen müssen (nach Hesekiel 47,3–5): Im Vertrauen auf Gott können wir mit den Wassermassen umgehen lernen. 

Nelly ist gerade 50 Jahre alt geworden und hat eine schlimme Krebsdiagnose bekommen. Alle medizinischen Maßnahmen sind ohne Erfolg, und bald gilt Nelly als austherapiert. Sie ist am Boden zerstört. Gerne wäre sie weiter bei ihrem Mann geblieben, hätte liebend ihre Kinder begleitet, und sie träumte auch von Enkelkindern. Ihr steht das Wasser bis zum Hals, und sie lernt – im Bild gesprochen – schwimmen! Sie setzt sich voller Vertrauen auf Gott mit ihrem Leben auseinander. Was war gut? Was war schwierig? Was ist noch offen? Ihr werden einige alte Verletzungen neu bewusst. Sie bearbeitet diese nun, vergibt und lässt los, wo es nötig ist, und heilt so innerlich. Im Vertrauen auf Gott kann sie sich immer mehr mit ihrem nahenden Tod auseinandersetzen. Dabei sind ihre Leitfragen: Was muss ich jetzt für meinen Mann und meine Kinder tun, damit sie gut weiterleben können? 

Um echten Halt im Leben zu haben, bedarf es eines Zusammenspiels von persönlicher, innerer Festigkeit, tragfähiger Gemeinschaft und Freundschaft sowie vertrauensvoller Gottes- oder Christusbeziehung.

Dr. Martina Kessler ist verheiratet, hat vier erwachsene Kinder mit wachsender Enkelschar, ist in der Leitung der Akademie für christliche Führungskräfte und Studienleiterin der Stiftung Therapeutische Seelsorge, liebt es, Oma zu sein, in andere Kulturen einzutauchen und zu stricken. Sie lebt in Gummersbach.

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