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Es ist die Scham die Schuld anzeigt

Ethnologie

Bemerkenswert. Dinge und Situationen verändern ihre Bedeutung, wenn man sie aus unterschiedlichen Blickwinkeln betrachtet, ohne sich dabei zu verändern. Was wir manchmal lapidar die zwei Seiten eine Medaille nennen und hier kapital fehlinterpretieren würden, geht in der kultur-anthropologischen Betrachtung deutlich tiefer. Von Jürgen Schulz.

Am 3. November 2014 sorgte eine ethische Leitlinie in England für Aufsehen. Die dortige Ärztekammer veröffentlichte an diesem Tag Richtlinien, die Mediziner und Pflegepersonal aufforderten, ehrlich zu sein und sich bei den Patientinnen und Patienten im Falle eines Fehlers zu entschuldigen. Aber wieso ist es auf einmal notwendig, dass eine ethische Anweisung Ehrlichkeit und Aufrichtigkeit definiert? Für eine Erklärung verweist Rabbi Jonathan Sack, langjähriger Großrabbiner in England, auf einen tiefgreifenden Wandel innerhalb der englischen Gesellschaft. Im Laufe des letzten Jahrhunderts erlebte die gesamte westliche Welt eine entscheidende kulturelle Veränderung. Die Beschreibung dieser Veränderung ist eng mit der Anthropologin Ruth Benedict verbunden. Anfang des 20. Jahrhundert zeigte sie auf, dass Kulturen sich grundsätzlich voneinander unterscheiden. Basierend auf ihren ethnologischen Forschungen (sie untersuchte die Kultur Japans) schuf sie die bis heute wirksame Aufteilung der Kulturen in Scham- und Schuldkulturen. Schamkulturen finden wir demnach vor allem im asiatischen Raum, aber auch im antiken Griechenland und Alten Orient. Schuldkulturen hingegen sind das Judentum und Christentum und die – von ihnen wesentlich geprägte – westliche Welt.

Bestrafung oder Selbstverleugnung?

Im 21. Jahrhundert wird die europäische Gesellschaft zunehmend multikultureller. Unternehmen sind global aufgestellt. Unsere Kirchengemeinden werden vielfältiger. Inzwischen sind etwa 13 Prozent aller Ehen in Deutschland binational. Und sie haben ein 64 Prozent höheres Scheidungsrisiko. Die Scham- und Schuldklassifizierung hilft, den Grund dafür zu verstehen. Schuldkulturen werden, dem Missiologen und Anthropologen Paul Hiebert zufolge, von einem verinnerlichten Kompass von „falsch“ und „richtig“, sündigem und gutem Verhalten gesteuert. Schamkulturen hingegen achten auf äußerliche Sanktionen. „Schuldkulturen betonen Bestrafung und Vergebung als Mittel zur Wiederherstellung der moralischen Ordnung; Schamkulturen betonen Selbstverleugnung und Demut als Mittel zur Wiederherstellung der gesellschaftlichen Ordnung.“

Unsere moralischen Vorstellungen

Während ein Patient aus einer Schuldkultur im Krankenhaus auf eine klare Entschuldigung wartet, wird ein Arzt aus einer Schamkultur bemüht sein, die Gunst des Patienten tendenziell eher zum Beispiel durch ein besonders demütiges Verhalten zurückzugewinnen. Dass die zwischenmenschlichen Spannungen in solch einer, natürlich sehr skizzenhaft dargestellten Situation, unweigerlich zunehmen, erklärt sich von selbst. Patient und Arzt werden einander schlicht nicht verstehen. Diese grundsätzlichen Unterschiede von Scham- und Schuldkulturen werden auch im moralischen Verständnis deutlich. Da moralische Vorstellungen nicht allgemeingültig sind, so schlussfolgerte Ruth Benedict, sind sie in höchstem Grade kulturell bedingt. Warum, wann und wie sich Ärzte also entschuldigen, kann nur vorausgesetzt werden, wenn alle einen gemeinsamen kulturellen und moralischen Kontext teilen. Doch das ist in einer multikulturellen und pluralistischen Gesellschaft nicht mehr gegeben.

„Da moralische Vorstellungen nicht allgemeingültig sind, so schlussfolgerte Ruth Benedict, sind sie in höchstem Grade kulturell bedingt.“

Glaube schafft gemeinsame Werte

Ruth Benedicts bipolare Einteilung der Kulturen ist inzwischen höchst umstritten. Sie hilft uns aber dennoch, den grundsätzlich unterschiedlichen Umgang mit Vergebung zu verstehen. Woher aber die unterschiedlichen moralischen Überzeugungen in den Kulturen kommen, kann sie nicht beantworten.

Gemeinsame Glaubensüberzeugungen sind hierbei von entscheidender Bedeutung. Das zeigen die bi-nationalen Ehen sehr eindrücklich. Binationale Ehen mit gleicher Religionszugehörigkeit werden nur halb so oft geschieden wie binationale Ehen mit unterschiedlicher Religionszugehörigkeit. Bei allen kulturellen Unterschieden schafft ein gemeinsamer Glaube gemeinsame Werte. Sie stellen einen moralischen Kompass, warum, wann und wie Vergebung gelebt wird. Dabei überschreitet eine christliche Sicht auf Scham, Schuld und Vergebung die Grenzen der klassischen Einteilung in Scham- und Schuldkulturen. Der gekreuzigte Jesus sprengt diesen kulturellen Rahmen. Scham wird in Schönheit transformiert. Das beschämendste und schmachvollste Zeichen seiner Zeit, das Kreuz, wird zum Symbol des Sieges und der Herrlichkeit. Durch Jesus Christus werden menschliche Normen und Werte auf den Kopf gestellt. Am Kreuz hängend bittet er für seine Mörder um Vergebung. Das Kreuz zeigt uns, dass wir alle Vergebung brauchen, unabhängig von unserem kulturellen Hintergrund (Epheser 2, 1 – 11). Das Kreuz zeigt uns aber auch, dass alle Kulturen durch den Glauben an Jesus eine starke Einheit werden können (Epheser 2,12 – 22). Transformiert durch den gekreuzigten Christus und verbunden im Heiligen Geist werden Menschen aus grundverschiedenen Kulturen „zu einem einzigen Volk vereint“ (Epheser 2,14). Dabei werden die kulturellen Formen wertgeschätzt, aber eben auch eine noch tiefergehende neue Identität gestiftet.   

Die Herkunft ändert sich nicht

Jeder Christ wird auch weiterhin „ein Kind seiner Eltern“ bleiben. Doch weder die Prägung noch die Persönlichkeit stehen im Glauben an höchster Stelle. Als die Gemeinde in Korinth nicht über eine unangemessene sexuelle Beziehung empört ist, sondern noch stolz die persönliche Freiheit betont, weiß der Apostel Paulus, dass der moralische Kompass der Gemeinde fehlerhaft ist (2. Korinther 5). Das Kreuz bezeugt nicht nur die Notwendigkeit der Vergebung, sondern definiert zugleich das Grundverständnis von Vergebung neu. Ausgehend vom Kreuz lernen wir Gründe, ab wann Vergebung notwendig ist. Selbst die Formen und Umstände, also wie wir einander vergeben, werden in groben Zügen definiert. Und doch werden gerade an diesem Punkt die unterschiedlichen kulturellen Gepflogenheiten immer deutlich spürbar bleiben. Eine christliche Lebensführung wird sich von Kultur zu Kultur unterscheiden. Vergebung wird aber in allen Kulturen für Christen wesentlich sein. Dabei wird jede Kultur sowohl Scham als auch Schuld empfinden. Denn wer vom Heiligen Geist der Schuld überführt wird und die Vergebung Gottes in Anspruch nimmt, weiß sehr genau, wovon er befreit wurde (2. Korinther 7,9 – 11). Er weiß aber auch, wie beschämend es ist, mit Schuld konfrontiert zu sein. Je stärker der christliche Glaube wird, desto mehr wird sich dann aber auch die Kultur verändern. Weil der Heilige Geist im Leben von Christen wirkt, wird ihr moralischer Kompass neu ausgerichtet.

Ohne Scham kein Schuldgefühl

Manche Prägungen sind so schambehaftet, dass der Heilige Geist hier von einem fehlgeleiteten Schamempfinden befreit. In einer Welt, die von Sünde geprägt ist, brauchen wir unser Schamempfinden. Unsere Scham ist ein Seismograf, der uns Gefahren anzeigt. Ohne Scham fehlt uns das Gespür für gesunde Grenzen. Es ist die Scham, die uns Schuld anzeigt. Doch manch einer ist so ängstlich, dass er um Vergebung bittet, obwohl keine Schuld vorliegt. Die Ursachen für so ein Verhalten können vielfältig sein. Entscheidend bleibt aber die Hoffnung des Kreuzes. Denn jedem, der glaubt, gilt die Zusage Gottes, dass der Heilige Geist das Herz, also die innersten Einstellungen und Empfindungen, neu formt (2. Korinther 3,1 – 6). Wer die Vergebung Gottes kennen gelernt hat, dem wird vergeben. Manchmal auch entgegen jeglicher kultureller Prägung.

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