Ein Sonntag auf Lesbos
Reportage
Da, wo viele ihren wohlverdienten Urlaub verbringen, ringen andere tief erschüttert mit der Frage, ob es das tatsächlich gibt: Gerechtigkeit. Und wenn, warum sie davon nichts mitkriegen, warum sie augenscheinlich unbeeindruckt an ihnen vorbeimarschiert, ohne Halt zu machen. Andrea Wegener ist ab November in Moria im Einsatz und erzählt von einem Kurzbesuch vorab.
Der widerliche Gestank der Dixiklos weht mit jedem Windhauch durch den Bereich der „New Arrivals“. Wenn kein Wind geht, ist die schwere Hitze erst recht unerträglich. Das Thermometer zeigt 36 Grad. Zwischen der Nische mit den Klos und dem Tor, an dem ich heute für etwas Ordnung zu sorgen versuche, haben sich auf einer acht Quadratmeter großen Fläche auf dem Boden zwei afghanische Familien mit insgesamt fünf kleinen Kindern niedergelassen. Sie haben in dem überfüllten Bereich gestern keinen besseren Platz mehr finden können und sitzen seitdem dort. Die Kinder dösen im Schoß der Mütter vor sich hin, die Väter versuchen, mit Decken und Planen etwas Schatten zu schaffen. Viele der Leute, die in den letzten Tagen in diesem Bereich übernachten mussten, haben nicht einmal einen solchen Platz am Zaun bekommen: jeder freie halbe Quadratmeter ist besetzt und man steigt ständig über die erschöpften Körper hinweg. Das vielleicht 10 x 15 Meter große Zelt, das den größten Teil von „New Arrivals“ einnimmt, ist schon längst überfüllt.
Sie haben noch nichts zu essen bekommen
Insgesamt hat unser Käfig – er ist mit festem Draht und Metalltüren vom übrigen Lager abgetrennt und der NATO-Draht an der Oberseite lässt sich nicht überklettern – vielleicht 250 Quadratmeter. Dass 400 oder mehr Leute hier übernachten, ist keine Seltenheit. Im Moment kommen wieder fast täglich viele hinzu. Gestern waren es 80, heute sollen es noch einmal 62 sein. Durch das Gewühl drängen sich gegen neun Uhr einige Polizisten und Frontex-Mitarbeiter: „Der Bus kommt! Einige von denen sind schon seit drei Tagen hier und haben noch nichts zu essen bekommen“, gibt einer der Frontex-Übersetzer schnell noch durch. Und dann steigen sie aus dem Bus: verwirrte, erschöpfte Gestalten aus dem Kongo, Afghanistan, Sierra Leone und Syrien, dem Irak und Nigeria, die mit dem Boot die paar Kilometer zwischen der Türkei und Lesbos zurückgelegt haben, ohne von der türkischen Küstenwache aufgegriffen zu werden. Das Elend der ganzen Welt: als Substrat zu sehen in diesem Menschenhäuflein neben einem griechischen Reisebus. Ein kleines Mädchen, vielleicht sieben oder acht, steht verloren herum, einigen Frauen haben wir ihre Männer noch nicht zuordnen können, aber 62 Leute haben wir doch schon gezählt? „Es kommt noch ein Bus!“
Es sind noch einmal 53 Leute und die Croissants in Plastikverpackung, die wir zum Frühstück verteilen, reichen nicht für alle. Die POCs („Persons of Concern“ – klingt wohl besser als „Flüchtlinge“) bleiben erstaunlich ruhig; vielleicht ist „resigniert“ das bessere Wort. Sie bekommen bei der Polizeistelle hinter einem anderen Zaun ihre ersten Papiere und treten dann nach und nach wieder in unseren New-Arrivals-Käfig ein. Das fassungslose Erschrecken im Gesicht eines jungen Vaters – mit einem Kleinkind an der Hand und einem Baby im Arm – verfolgt mich bis in meine Träume. Ja, hier werden er, seine Frau und die fünf Kinder auf einer dünnen Plastikmatte im Gewühl auf dem Betonboden die Nacht verbringen. Und nein, es wird nicht besser, wenn sie nach einem halben bis drei Tagen den New-Arrivals-Bereich verlassen.
Man kann sich nicht einmal ungestört umbringen
Privatsphäre gibt es in Moria genauso wenig wie Platz oder Hygiene. Das Lager ist so hoffnungslos überfüllt, „dass man sich nicht einmal ungestört umbringen kann“, wie ein Kollege es ausdrückt. Es gibt bis zu 15 Suizidversuche am Tag. Dass die wenigsten gelingen, liegt schlicht daran, dass überall, überall, überall Menschen sind, die es mitbekommen und einschreiten.
Das eigentliche Lager fasst theoretisch zweitausend Leute; inzwischen sind etwa achttausend in Moria, und obwohl jeder verfügbare Quadratmeter – am Wegrand, halb unter Regenrinnen, im Eingangsbereich von Wohncontainern – mit Campingzelten oder selbstgebastelten Konstrukten aus Seilen und Planen besetzt ist, haben mehrere hundert Familien nur noch in einem Olivenhain hinter dem Lagerzaun einen Platz gefunden. Der Hain, auch „der Dschungel“ genannt, ist halboffiziell: auf ein Dixi-Klo kommen hier weit mehr Leute (der Durchschnitt liegt bei einer Toilette pro 75 Personen), es gibt Schlangen und anderes Getier, weniger Wasser und keine Polizei, die im Lager im Notfall Streitende auseinandertreiben oder junge Mädchen zu den Sanitäranlagen begleiten kann.
„Das Lager ist so hoffnungslos überfüllt, 'dass man sich nicht einmal ungestört umbringen kann'.“
Die afghanische Familie zu meinen Füßen hat Chai besorgt – woher eigentlich? Es ist beeindruckend, mit welcher Schnelligkeit sich die Leute hier organisieren! – und die junge Frau bietet mir schüchtern eine Papptasse an. Zum Glück habe ich gestern gelernt, was Danke auf Dari heißt. Bevor ich mich recht versehe, hat sich der geschäftstüchtige Syrer vom Kaffeestand gegenüber an mir vorbeigemogelt („My friend! Just one minute!“) und verkauft SIM-Karten an die Neuankömmlinge. Ich beobachte sie aus den Augenwinkeln: die Irakerin, die leise in ihr Telefon weint und sich anschließend verschämt mit dem Zipfel ihres Kopftuchs die Augen wischt. Den offenbar geistig behinderten kleinen Jungen, der sich zwischen all den Menschen verläuft und von seinen Geschwistern liebevoll immer wieder eingesammelt wird. Die vollverschleierte Syrerin, die irgendwann mitten im Getümmel ihr Baby zu stillen beginnt. Die Männer, die ihren Familien mit Pappdeckeln, die sie aus einem der überquellenden Müllcontainer gefischt haben, etwas Luft zufächeln.
Gott, hast du sie weniger lieb als mich?
Ich bringe das nicht zusammen, sage ich an diesem Abend zu Gott, als ich bei gutem griechischem Essen auf die Bucht von Mytilini hinausschaue: Hier ist so viel jahrtausendealte Hochkultur. Hier ist so viel Schönheit, dass man weinen möchte. Hier bin ich mit meinem Reichtum und all meinen Vorrechten, bloß weil ich zufällig in Deutschland geboren bin. Und wenige Kilometer von hier sitzen Menschen im Dreck, die eh schon alles zurückgelassen und für die Zukunft keine echte Perspektive haben. Ist dir das egal? Hast du die weniger lieb als mich, Gott? Nein, ich bringe diese völlig verschiedenen Welten nicht zusammen!
Und dann wird mir bewusst, dass Gott diese beiden Welten schon längst zusammengebracht hat: meine Kollegen und ich sind die Verbindungsstücke. Die Männer, Frauen und Kinder in Moria sind nicht ganz allein gelassen. Und wir – wir haben all unsere Privilegien auch nicht für uns alleine bekommen, sondern um mit offenen Händen und Herzen auf die Menschen in Moria zuzugehen. Ich weiß noch nicht, wie es auf Dauer gelingen soll, in all dem Elend immer wieder ein wenig von der Güte, Menschenliebe und Freundlichkeit Gottes weiterzugeben. Aber eine ehrenvollere Aufgabe kann ich mir im Moment nicht vorstellen.
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