Zur Toleranz verdonnert?
Wertediskussion
Was geschieht und bleibt, wenn ein Begriff aus unterschiedlichen Blickwinkeln betrachtet und definiert wird, zeigt die leidenschaftliche Auseinandersetzung von Andreas Malessa. Ob nun verdonnert zur Toleranz oder schlicht damit beschenkt: Lesen und entscheiden Sie selbst.
Muss ich das tolerieren!?“ Dass der Nachbar sonntags Rasen mäht, der pubertierende Sohn erst morgens nach Hause kommt, der Chef eine „gendergerechte Sprache“ im Betrieb verlangt („liebe Anwesendinnen“), und im Fernsehen gotteslästerliche Comedians labern („Jesus ist am Kamener Kreuz hängen geblieben“)? Müssen die Legalisierung gleichgeschlechtlicher Ehen, die Baugenehmigung für riesige Moscheen, die Steuersubventionen für Waffenexporte denn einfach toleriert werden?
ERSTENS: Ja!
Evangelische Christen sind seit Luthers Zeiten Nutznießer der Toleranz Andersgläubiger: Der Reichstag zu Speyer entschied 1526, dass je nach Konfession eines Landesfürsten auch seine Untertanen „Religionsfreiheit“ haben. Das Reich zerfiel in „reformiert evangelische“ und „altgläubig katholische“ Länder. Was wir noch heute spüren. Aus den Verfolgten wurden aber schnell Verfolger: Luther hatte nichts dagegen, das „Wieder“-Täufer verbrannt wurden. Die katholische Kirche auch nicht. Freikirchliche Christen sind Nutznießer der säkularen Aufklärung: Erst das „Toleranz-Edikt“ von 1847 durch Preußenkönig Friedrich Wilhelm IV ermöglichte zum Beispiel den Kirchenaustritt. Wir leben – Gott sei Dank – in einem „weltanschaulich neutralen“ Rechtsstaat.
Der räumt politisch Linken wie Rechten, den Atheisten, den Muslimen, den Buddhisten, den Zeugen Jehovas und Anthroposophen die Freiheit ein, ihre Überzeugung öffentlich zu zelebrieren und ihre Kinder dementsprechend zu erziehen!
Ein „weltanschaulich neutraler“ Staat ist deshalb nicht „werte-ignorant“. Die „Menschenwürde“ aus Artikel 1 Absatz 1 des Grundgesetzes ergibt sich auch für den säkularen Staat aus der Gott-Ebenbildlichkeit des Menschen, wie sie in Genesis 1 postuliert wird. Gerade deshalb – weil der Staat die Menschenwürde aller seiner Bürger zu schützen verpflichtet ist – verlangt er auch von allen Bürgern, die Freiheit der Religion, der Kunst, der Presse und Wissenschaft sowie die Freiheit des persönlichen Lebensstils zu „dulden“.
ZWEITENS: Ja, aber…
„Tolerieren“ heißt wörtlich „erdulden“, „ertragen, „gewähren lassen“. Verlangt wird es von demjenigen, der die Macht hätte, es auch zu unterbinden. Diese Macht haben weder die EKD noch die katholische Kirche noch die mehr als eine Million Evangelikalen. Wer kulturell entstandene Veränderungen der Gesellschaft sofort „verbieten lassen“ möchte, beansprucht eine „Deutungshoheit“, die er längst nicht mehr hat. Oder er akzeptiert den – in der Tat hohen – Preis der demokratischen Freiheit nicht.
Was bedeutet „akzeptieren“? Nur „hinnehmen“ und „damit leben lernen“ oder auch „übernehmen“, „sich zu eigen machen“? Ich persönlich meine: Hinnehmen ja, sich zu Eigen machen nein. Dass von meinen sauer verdienten Steuern unfassbar bürokratischer Irrsinn finanziert wird, muss ich hinnehmen. Aber gutheißen werde ich das nicht. Dass Prostitution offenbar nicht zu verhindern ist, muss ich hinnehmen. Aber dass Deutschland zum Puff Europas wurde und die Zwangsprostituierten bestraft statt die Zuhälter und die Freier – dagegen kann (und darf ich ja auch) ich öffentlich protestieren. Dass kein noch so martialischer Grenzzaun Millionen verzweifelte Kriegsflüchtlinge fernhalten würde, das muss ich hinnehmen. Dass die lern-, arbeits- und integrationswillige Mehrheit der Schutzsuchenden unsere Wirtschaft durch Kaufkraft, unser Rentensystem durch Sozialabgaben und unseren Staat durch ihre Steuern fördern wird, aber auch die deutsche Gesellschaft kulturell und religiös pluralistischer macht – damit lerne ich zu leben. Dass eine Minderheit von ihnen sich in Parallelgesellschaften abschotten will – dagegen kann (und darf ich ja auch) ich protestieren.
DRITTENS: Nein, aber…
Wer meint, etwas so absolut Unakzeptables entdeckt zu haben, dass ihm sein Gewissen verbietet, „sowas hinzunehmen“, der sollte nüchtern nachdenken: Verletzen mich die Überzeugung, die Lebenspraxis und die Aktivitäten des Anderen tatsächlich persönlich? Oder bin ich nur vom Alarmismus der Populisten, von der absichtsvoll stimulierten Erregungskurve einiger (leider auch evangelikaler) Medien in Rage gebracht worden? Wo, wann und wie betrifft das Ärgernis tatsächlich mich, meine Familie, meine Gemeinde oder auch die ganze Gesellschaft konkret? Gib es Betroffene, denen ich durch mein entschiedenes Nein tatsächlich helfe?
Eine Tugend nach dem Vorbild Jesu
Es gibt einen guten biblischen Grund, die – in der Tat anstrengende – Toleranz nicht als ethisch laue Gleichgültigkeit schlecht zu reden: „Lindigkeit“.
Als Verb gibt es das noch: „lindern“. Schmerz lindern, Angst abmildern, Trauer erträglicher machen. Das Substantiv ist leider ausgestorben: In Hiob 15,11 sorgte es in der Lutherübersetzung für unsere umgangssprachliche Wendung „gelinde gesagt“. In 2. Korinther 10, Vers 1 ermahnt Paulus die Gemeinde „durch die Lindigkeit Christi“, Konflikte „im Geist der Liebe und Güte“ zu regeln, so die Übersetzung „Hoffnung für alle“. In Philipper 4, Vers 5 schließlich ruft uns Paulus auf: „Eure Lindigkeit lasset kund werden allen Menschen.“ Neudeutsch: „Jeder soll Eure Güte und Freundlichkeit erfahren“ (Hfa).
„Lernet von mir“, sagt Jesus in Matthäus 11, Vers 29, „denn ich bin sanftmütig und von Herzen demütig“.
Sind wir verdonnert zur Toleranz, weil wir in einem weltanschaulich neutralen Staat und einer freiheitlich demokratischen Gesellschaft leben? Nein, wir sind ermutigt zur Toleranz, weil wir einem „sanftmütigen, demütigen, gelinden“ Jesus Christus nachfolgen.
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