Wenn Menschen tun, was göttlich ist
Nächstenliebe
Wie Nächstenliebe aussehen kann, zeigen Michel und Friederike Walter durch einen tagebuchähnlichen Einblick in ihren Alltag. Sie leben in Hamburg Wilhelmsburg und arbeiten dort in der Lichtinsel, einer Anlaufstelle für egal welche Menschen. Dass Walters fließend türkisch sprechen, macht vieles in diesem Dienst einfacher. Dass sie von der Liebe Gottes motiviert sind, auch.
Freitag
Vor ein paar Tagen hat ein Freund ein Fahrrad bei uns vorbeigebracht – für einen der Flüchtlinge in der Unterkunft in unserer Nähe. Das Fahrrad hat zwei platte Reifen, ist sonst aber gut in Schuss. Mit Matthew, einem der christlichen irakischen Flüchtlinge, der mit seiner Frau und ihrem Kleinkind in der genannten Unterbringung wohnt, hatte ich mich für heute verabredet. Als ich mit dem kaputten Fahrrad und einer Plastiktüte voller Werkzeug bei ihnen ankomme, werde ich zuerst einmal zum Frühstück eingeladen. Während ich in dem kargen Wohncontainer mit ihnen sitze, entwickelt sich ein Gespräch über die Zustände in Mossul. „Es ist die Hölle“, sagt Matthew, „seit der IS dort ist!“ Sie erzählen beide, dass alle ihre christlichen Freunde und Verwandten entweder tot oder geflüchtet sind. Aus seiner Sicht betrachten wir Europäer die verborgenen Ziele islamischer Fundamentalisten zu naiv. Nachdem das Spiegelei und die gebratenen Wurststücke mit den Aufbackbrötchen aufgedippt sind, begeben wir uns nach draußen. Wir stellen das Fahrrad auf den Sattel, um die Reifen zu flicken und breiten das Werkzeug auf dem Boden aus. Innerhalb von 30 Sekunden sind wir umringt von einer Schar arabisch plappernder Kinder. Es dauert keine weitere Minute und mir wird ein plattes Kinderfahrrad hingestellt. Der Vater einiger der Kinder scheucht sie weg und wir reparieren gemeinsam das Rad. Matthews Englischkenntnisse helfen sehr bei der Dreieckskommunikation. Mit dem mitgebrachten Fahrrad für Matthew haben wir dann mehr Schwierigkeiten. Man braucht spezielles Werkzeug. Also müssen wir es zu einem nahe gelegenen Fahrradladen tragen. Der Besitzer ist sehr hilfsbereit und bekommt schnell mit, dass es um ein Fahrrad für einen Flüchtling geht. Er fragt, woher wir kommen und wer ich bin. Ich erkläre ihm, dass ich von der Lichtinsel bin. Er wird ein bisschen distanzierter. Er kennt die Lichtinsel als christliche Einrichtung und scheint offensichtlich nicht viel davon zu halten. Er erzählt trotzdem, dass er im Keller ein paar alte Fahrräder für Flüchtlinge gesammelt, aber keine Zeit hat, sie herzurichten. Wenn wir die gern hätten und fertig machen wollten, könnten wir ja mal zusammen darüber reden. „Aber“, sagt er, „wir sind hier im Laden alles gestandene Atheisten. Wir wollen nichts mit Religion oder religiöser Propaganda zu tun haben!“
Vor dem Laden können wir dann das Fahrrad reparieren. Ich kaufe noch ein Schloss fürs Rad. Den Schlauch und die Kleinteile schenkt uns der atheistische Fahrradhändler. Als ich wieder gehe, denke ich darüber nach, was in diesen beiden Stunden an zwischenmenschlichen Begegnungen, Hilfeleistung und Austausch über kulturelle und ideologische Grenzen hinweg geschehen ist – und freue mich.
Samstag
Als wir mit unserem voll beladenen Bollerwagen auf den Spielplatz kommen, läuft uns schon eine Horde jubelnder Kinder aus der nahe gelegenen Flüchtlingsunterkunft entgegen. Gestern habe ich das Fahrrad von einem von ihnen geflickt. Als wir die Spielsachen auspacken und den Kaffee und Früchtetee mit den Bechern auf einen Campingtisch platzieren, kommen auch andere Kinder mit ihren Eltern. Eine junge deutsche Mutter lässt gerne ihren Jungen bei uns, um dann mit ihrem zweiten, behinderten Kind einkaufen gehen zu können. Andere Mütter freuen sich, dass wir wieder da sind, und erzählen, dass sie jetzt immer extra um diese Zeit auf den Spielplatz kommen, weil sie das so schön finden. Und tatsächlich haben sich inzwischen arabische, deutsche, türkische und Sinti-Kinder um den Bollerwagen gedrängt. Für eines der syrischen Flüchtlingskinder schwinge ich das Seil zum Seilhüpfen. Er spricht schon ein paar Brocken deutsch und geht auf eine Schule hier in der Nähe. Beim Springen lernen wir die deutschen Zahlen. Er kommt schon bis vierzehn. Dann geht ihm die Puste aus. Er bleibt stehen und versucht mir zu erklären, dass sein arabisch nicht so gut sei. Seine Muttersprache ist kurdisch. Nach kurzem Radebrechen wird klar, dass er aus der schwer umkämpften Grenzstadt Kobane kommt. „ Alle meine Kollega, Freunda“ sagt er und vollendet den Satz mit einem raschen Handkantenschnitt über die Kehle. Ich frage „Tot?“, aber das Wort kennt er noch nicht. Er wiederholt die Bewegung. Dann will er weiter hüpfen. Bei einer weiteren Pause erzählt er mir dann mit Händen und Füßen, dass die kurdischen Kämpfer – mit seinen Armen zielt er auf mich und ruft plötzlich „Rattattat, rattata“ – die besseren Kämpfer sind als die arabischen. Nun will er nicht mehr Seilspringen, sondern Stelzenlaufen. Zwischen Seilspringen und Stelzenlaufen bekam ich einen Einblick in die Zerrissenheit der Seele eines Elfjährigen, der Erfahrungen machen musste und Dinge erlebt hat, die ein Kind in seinem Alter eigentlich nicht erleben sollte.
Mittwoch
Heute waren wir wieder mit dem Bollerwagen auf dem Spielplatz beim Bunker. Der Bunker ist ein großer klobiger Betonklotz, ca. 10 Stockwerke hoch und wurde vor Kurzem zu einem Energiekraftwerk umgebaut. Gegenüber dem Relikt aus dem Zweiten Weltkrieg befindet sich ein Park mit Spielplatz. Mittwochs sind wir immer da. Heute besuchte uns eine Gruppe brasilianischer Pastoren, die unsere Arbeit kennenlernen wollte. Auf dem Weg zurück zur Lichtinsel treffen wir Georg. Er ist Fahrlehrer und seit einigen Jahren mit Jesus unterwegs. Begeistert erzählt er christlichen und muslimischen Fahrschülern von Jesus. Gerade als wir vorbeikommen, ruft er: „Michel, komm doch mal her. Das hier ist Ozan!“ Er zeigt auf einen jungen Mann, der gerade aus dem Fahrschulauto aussteigt. „Und Ozan hat morgen Fahrprüfung. Aber er ist zu nervös und ich dachte, du könntest mal für ihn beten.“ Klar! Ich rufe die brasilianischen Pastoren noch dazu und wir stellen uns in eine Parklücke an der Veringstraße, legen unsere Hände auf Ozans Schulter und ich bete in Türkisch, dass Gott ihm helfe, ruhig zu bleiben und die Prüfung zu bestehen. „In Jesu Namen“ schließe ich, öffne die Augen und blicke in Ozans leicht angefeuchtete Augen. Er bedankt sich überschwänglich. Abends erzählt Ozan all seinen türkischen Kumpels, dass Christen für ihn gebetet haben, damit er die Prüfung besteht. Die wurden natürlich sauer und meinten: „Hey Digga, warum gehst du zu Christen zum Beten? Warum gehst du nicht bei Moschee?“ Aber Ozan widerspricht und meint: „Nee, die haben genau dafür gebetet, was ich brauchte, was soll ich da beim Hoca in der Moschee?“ Am nächsten Tag kommen Georg und Ozan freudestrahlend in die Lichtinsel. Er hat bestanden, bedankt sich bei mir – gemeinsam bedanken wir uns bei Gott.
„Zwischen Seilspringen und Stelzenlaufen bekam ich einen Einblick in die Zerrissenheit der Seele eines Elfjährigen, der Erfahrungen machen musste und Dinge erlebt hat, die ein Kind in seinem Alter eigentlich nicht erleben sollte.“
Dienstag
Georg ruft mich wieder an: „Michel, ich habe da wieder eine Fahrschülerin. Die hat morgen Prüfung und braucht dringend Gebet.“ Ich bin aber grad nicht in der Lichtinsel und wir verabreden uns für den folgenden Tag. Georg kommt mit der jungen Frau in unseren Laden. Sie trägt ihr Kopftuch in der Art streng gläubiger Musliminnen. Sie ist sehr ängstlich und ich weiß nicht, ob es wegen der Prüfung oder wegen des christlichen Gebets ist. Wir sprechen kurz über ihre Angstzustände, Prüfungsängste, inneren Blockaden. Sie spricht einigermaßen gut deutsch. Ich erkläre ihr, dass wir im Namen Jesu beten und frage, ob das für sie ok ist. Sie bejaht, also beten wir. Sie bedankt sich und geht offensichtlich noch immer nervös mit Georg raus. Am nächsten Tag kommt Georg wieder – ich bin gerade in einem Beratungsgespräch mit einer bulgarischen Familie. Er grinst von einem Ohr zum anderen. Ich verstehe sofort: sie hat bestanden. Ich unterbreche das Gespräch kurz und frage ihn, ob sie denn ruhig gewesen wäre und ob alles glatt gegangen sei. „Nee“, sagt er „sie hat alles falsch gemacht, was man nur falsch machen kann. Ist über ne durchgezogene Linie gefahren, hätte fast beim Einparken ein Auto angerummst – ich musste sogar mal mit meinen Pedalen eingreifen.“ „Aber sie hat bestanden? Wie das?“, frage ich. Georg hebt die Hände zum Himmel: „Es war reine Gnade! Und das weiß sie auch!“ Am nächsten Tag sehe ich die junge Frau am Steuer eines Autos die Veringstraße runterkommen. Zwei orientalisch aussehende Männer sitzen ebenfalls drin. Das Fenster ist offen. Sie winkt mir fröhlich zu und ruft begeistert: „Ich habe bestanden, ich habe bestanden!“ Die Männer wundern sich offensichtlich ein bisschen, dass sie einem deutschen, ihnen unbekannten Mann etwas zuruft. Aber ich weiß, dass sie weiß, dass unser Gebet sie durch die Prüfung gebracht hat.
Samstag
Wir sind wieder mit dem Bollerwagen im Park beim Flüchtlingsheim. Zoar, ein syrischer Junge aus Kobane, will wieder, dass ich das Seil schwinge und er springen kann. Während er hüpft kommt ein anderer Junge auf dem Fahrrad an: „Das ist ein Flüchtling“, meint er verächtlich. „Na und?“, frage ich. „Ist das ein Problem? Magst du keine Flüchtlinge?“ „Nee“, sagt er „die kriegen mehr Geld wie wir.“ Nun sieht der Junge selber recht südländisch aus und ich wundere mich über den Mangel an Solidarität. Ich kläre ihn auf, dass das nicht stimmt mit dem „mehr Geld bekommen“. Aber er glaubt mir nicht. Offensichtlich hat er von seinen Eltern zu Hause etwas anderes gehört. Ich frage ihn, wo er herkommt. Von hier, seine Eltern auch. Nach ein paar weiteren Fragen wird klar, dass seine Familie ursprünglich aus Italien kommt. Ich erkläre: „Schau, seine Familie kommt aus Syrien.“ Auch das beeindruckt ihn nicht und er blickt weiter feindselig und verächtlich auf Zoar. Schließlich erkläre ich ihm, dass Zoar erleben musste, wie seine Freunde umgebracht wurden. Mit einem Mal ändert sich sein Gesichtsausdruck. Er spricht nun Zoar an und fragt ihn: „Stimmt das?“ Zoar erklärt ihm nun mit seinen Händen und paar Brocken deutsch, dass seine „Kollegas“ tot sind. Der italienische Junge lässt sich die Geschichte noch weiter erklären und wird immer ruhiger und die Feindseligkeit löst sich auf. Schließlich springen sie beide übers Seil. Der kleine Bruder des italienischen Jungen nähert sich: „Hey, was hast du mit dem Flüchtling zu schaffen?“, fragt er. Sein Bruder sagt: „Hey Mann, der hat alle seine Freunde verloren. Die sind alle tot.“ Nach kurzer Zeit wechseln sie sich zu dritt ab beim Seilhüpfen.
Sonntag
Wir haben wieder unseren typischen Wilhelmsburggottesdienst, unser „Frühstück für Leib und Seele“. Wir Mitarbeiter staunen nicht schlecht, wer heute alles da ist. Da kommen zwei Flüchtlingsfamilien aus dem nahegelegenen Containerdorf, eine polnische Bekannte aus dem Stadtteil mit ihren beiden halbtürkischen Söhnen und es wird immer voller. Während ich noch mit der syrischen Familie beim Brunch sitze, überblicke ich den Raum und gemeinsam mit einem Tischnachbarn versuchen wir, die unterschiedlichen Nationalitäten, die heute hier versammelt sind, zu zählen: Afghanen, Syrer, Bulgaren, Türken, Russen, Ukrainer, Deutsche, Ghanaer. Das passt wunderbar zum Thema der Predigt. Es geht um Naomi und ihre ganz persönliche Flüchtlingsgeschichte, in der ihr Gott ganz nahe ist. Ich freue mich über diese Entwicklung hin zu einer multikulturellen Gemeinde.
Die Namen sind aus Sicherheitsgründen zum Teil geändert.
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